Das 26. OBS stand unter dem Motto "Herzensangelegenheit" - denn eine solche ist das Festival mittlerweile für so ziemlich alle - also Macher, Musiker, Mitarbeiter und Publikum. Das hatte natürlich auch irgendwie mit dem diesjährigen Maskottchen, dem Kraken mit Namen "Karla Mari" zu tun - denn der hatte ja gleich drei Herzen - war aber im übertragenen Sinne viel wichtiger, denn mit dem OBS 26 hatte die Sache mit den Herzensangelegenheiten ein neues Level erreicht. In Sachen Klima-Neutralität, Care und Awareness, Anti-Rassismus bzw. -ismen aller Art, Nachhaltigkeit, Nachwuchsförderung, Solidarität, Vernetzung, Kommunikation, Safety/Security, Familienfreundlichkeit, Gender-Equality, Generationstransfer und anderen wichtigen Themen ist das OBS nämlich inzwischen ganz vorne mit dabei - und das sind ja alles Herzensangelegenheiten.
Gerade die letzten beiden Punkte waren dabei beim OBS 26 von besonderer Bedeutung. Es gab nämlich mal Zeiten, da tat sich Festival-Macher Rembert Stiewe schwer mit dem Thema "Frauen auf der Bühne" und buchte nahezu ausschließlich Acts, die aus vier bärtigen Neil Young-Fans mit Flanellhemden aus der Americana-Szene bestanden. Wohl auch um das Festival vor der Vergreisung der ständig älter werdenden Fans dieser Art von Musik zu retten, ging er allmählich in sich und begann dann auch zunehmend andere Zielgruppen ins Auge zu fassen. Dass die Sache - wie in diesem Jahr - aber einmal zu einer Art FLINTA-Veranstaltung mit 50% Frauenanteil ausarten hätte könnte, hätte er sich vermutlich damals überhaupt nicht vorstellen können. Der Erfolg gab diesem Konzept aber recht, denn so divers wie in diesem Jahr war das Publikum beim OBS mit Sicherheit noch nie besetzt.
Und dann ist da auch noch die Sache mit den Generationen: Bereits mehrfach standen beim OBS in den letzten Jahren ja MusikerInnen auf der Bühne, die ihre Laufbahn als Kids im Publikum des Festivals gestartet hatten. Inzwischen bereitet sich bereits die nächste Generation in dieser Hinsicht vor. Eine Schlüsselszene spielte sich etwa ab, als sich Ivan "Afrodiziac" Carvalho mit 16-jährigen Fans seiner Musik auf Augenhöhe über Themen wie Hausaufgaben und Jugendsünden eines Rockstar-Lebens austauschte - und im Anschluss dann auch noch richtig jungen Kids Autogramme gab. Daran zeigt sich, dass Rembert den Zeitgeist erfolgreich einfangen und in die nächste Generation übertragen konnte.
Kommen wir aber mal zum musikalischen Programm des ersten Tages: Im letzten Jahr hatte Hagen "Ewan McGregor" Siems mit seinem Walking-Act-Programm das Festival inoffiziell eröffnet, indem er die noch auf den Einlass wartenden Fans vor dem Festivalgelände mit seiner Kunst unterhalten hatte. Das tat ihm in diesem Jahr der OBS-Veteran Sönke Torpus mit dem Programm seines neuen Projektes Low Key Orchestra nach und gab mit Gitarre und Keyboard Kostproben seiner Kunst als versierter Songschmied. Auf ein Album müssen wir zwar noch etwas warten, jedoch ist bereits zu erahnen, dass die neuen Songs mehr als bloßes Folk- und Storyteller-Flair zu bieten haben, auch wenn es sich nicht um Rockmusik a la Torpus & The Art-Directors zu handeln scheint. Das wurde besonders bei den weiteren Auftritten in größerem Rahmen etwa im vor dem OBS-Mural im Ausgangsbereich oder Tags darauf im Schwimmbad deutlich.
Die Ehre, das Festival offiziell zu eröffnen, hatte dann die Bielefelder Songwriterin Mina Richman. Mina ist eigentlich bereits seit Jahren als Live-Musikerin auf Ochsentour und hat - spätestens seit der Veröffentlichung ihrer Debüt-LP "Growing Up" - mit ihren hinreißenden Bühnen-Shows inzwischen die Pole-Position unter den Queens Of The Stages eingenommen. Nun ließe sich ja mutmaßen, dass das alleine auf die brillanten Songs zurückzuführen sei, die sie auf der besagten LP (und der vorangehenden EP "Jaywalker") versammelt hat - aber weit gefehlt: Zusammen mit ihrer Band aus hungrigen, jungen Musikgenies und ihrer unglaublich souveränen, einnehmenden Bühnenpersona ergibt sich aus einer Mina Richman-Live-Show sozusagen mehr als die Summe der einzelnen Bestandteile. Mit geradezu offenherziger Aufrichtigkeit redet sich Mina auf der Bühne etwa um Kopf und Kragen, plappert unzensiert aus ihrem Leben, bringt die Dankbarkeit für die netten Antwortmails auf ihre Bewerbung beim OBS zum Ausdruck (die ihr den Glauben an das Gute im Musikbiz zurückgegeben haben) und überzeugt mit einer zwar inzwischen routiniert formatierten Performance, die aber vor allen Dingen durch die Dringlichkeit der Darbietung und nicht etwa Profilierungsbestrebungen befeuert wird. Dabei hat Mina mit Songs wie "Nearly To The End" charmant-eingängige Indie-Pop-Songs im Angebot, setzt mit dem politisch motivierten Track "Baba Said" Akzente und überrascht mit ihrer Band immer wieder mit spontanen Jam-Partien - als Highlight begeisterte und berührte dann allerdings die solo vorgetragenem abschließende Ballade "The Woman I Am Now". Wie kann jemand in seinen 20ern bitteschön einen Song wie diesen schreiben, den andere vielleicht erst am Ende eines langen, erfüllten Künstlerlebens andenken würden? Sagenhaft - und der erste Gänsehaut-Moment des OBS 26.
Das Programm des diesjährigen OBS hatte Rembert Stiewe in Form einer prall gefüllten musikalischen Wundertüte angelegt und die Acts so angeordnet, dass da nun wirklich jeder Act eine eigene musikalische Genussmittelklasse bediente. Da die Fans beim OBS aber nicht zwischen Alternativen wählen müssen, sondern - wenn sie das wollen - alle Acts sehen können, geht dieses Prinzip aber auch gut auf. So folgte nach Songwriting und Indie-Pop mit dem britischen Trio HotWax an dritter Stelle im Programm ein Act der etwas härteren Gangart. Die Schulfreundinnen Tallulah Sim-Savage, Lola Sam, and Drummer Alfie Sayers haben die Musikhistorie der Insel mit Gewinn studiert und drehen die so gewonnenen Erkenntnisse in einem kunterbunten Mix aus Indie-Rock mit Glam-, Psychedelia-, Punk- und Postpunk-Flair sowie einer Prise Psychedelia durch einen Hi-Energy-Fleischwolf - und dokumentieren dabei auf elegante Weise ihre musikalische Entwicklung von der griesgrämigen Grunge-Band hin zur lebensbejahenden All-Purpose-Entertainment-Machine. Auf der Bühne wirkt das Trio dabei zuweilen ein wenig bedrohlich - was sich im richtigen Leben aber schnell relativiert, wenn die MusikerInnen ihre Aufgabe als Role-Models im Kontakt mit den meist jugendlichen Fans mit freundlicher Nonchalance durchaus ernst nehmen.
Über die Frage, ob Instrumental-Bands auf Festivals jenseits der Club-Kultur überhaupt eine Existenzberechtigung haben, lässt sich trefflich streiten. Es darf dann allerdings auch attestiert werden, dass die vier Herren des holländischen Ensembles Yin Yin das Hauptproblem einer Instrumental-Band - die eingeschränkten Möglichkeiten, mit dem Publikum zu kommunizieren - durch ihre extravagante Bühnenshow trefflich zu überspielen wussten. Und das, obwohl sie musikalisch eigentlich nicht mehr zu bieten haben, als eine etwas lebhaftere Auslegung dessen, was ihre Kollegen von Khruangbin dereinst als Standard auf dem Sektor Tropicalia-Psychedelia vorgegeben haben. Das gelingt Yin Yin dadurch, dass sie sich zwar vorwiegend mit sich selbst beschäftigen, dabei aber immer wieder aufmunternd ins Publikum strahlen - und dieses dann mit vorgelebten Ausdruckstanz-Elementen zum Abhotten motivieren. Das wirkt dann schon mal weniger autistisch als bei Kollegen von der Mikrofon-losen Front. Lustig wurde die Sache dann insofern, als die Sache gegen Ende der Show einen unerwarteten homoerotischen Touch bekam, als sich Gitarrero Yves Lennertz und Bassist Remy Scheren zunächst aufdringlich nahe kamen, sich dann vor das Schlagzeug von Kees Berkens legten und mit diesem eine performerische Ménage à trois eingingen. Anschließend schlabberten sie sich ab, tranken ein Bier und spielten dabei liegend weiter. Nun ja - jedem das Seine. Bedenklich wurde es erst, als Remy Scheren das an die Show anschließende Gruppenfoto ohne Grund ziemlich "sexy" fand. Vielleicht der Manager der Band die Fans dann ja sogar schützen, als er sich aus kommerziellen Erwägungen gegen einen Besuch der Jungs am Meet & Greet-Stand ausgesprochen hatte.
Dass sie kein Abziehbild sein möchte, erklärte die Duisburger Songwriterin Stina Holmquist (die sich ihren Künstler-Nachnamen von ihrem schwedischen Großvater ausgeliehen hat) in einem Interview, das die junge Künstlerin anlässlich der Veröffentlichung ihrer Debüt-EP "It Dances On The Windowsill" geführt hatte. Vermutlich deswegen entschied sich Stina für eine musikalische Gemengelage, die ihr von vorneherein alle Möglichkeiten offen lässt und richtet ihre nachdenklichen Selbstfindungs- und Coming-Of-Age-Songs (von denen es aufgrund ihres jugendlichen Alters wohl noch so einige geben wird) in einem dezidiert gefälligen, aber niemals banalen, zeitgemäßen Indie-Pop-Setting an, das sie dann mit ihrer Band bei zwei gefeierten Gigs auf der Minibühne des OBS wegen geradezu zelebrierte. Da schwingt dann - wie beim Single-Titel "Asphalt" - einerseits eine Prise Melancholia mit, andererseits gibt es dann aber auch munter pulsierende Disco-Beats a la "I Do" mit denen Stina und ihre Musiker zur kollektiven Danceparty animierten. Hier explodierte die zuvor mit Bedacht und Tiefgründigkeit agierende Performerin dann mit echten Sonnenschein-Qualitäten vor sich hin und riss dabei so ziemlich jeden mit. Wieder ein Mal entpuppte sich dabei die Mini-Bühne des OBS als Kaderschmiede für Größeres. Es wäre jedenfalls geradezu unverständlich, wenn Stina im nächsten Jahr nicht genauso auf der Hauptbühne gastieren würde, wie das zuvor ihre Kollegen Tom Allan, Giant Rooks und zuletzt Afrodiziac und Iedereen getan haben.
Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Thorsten Nagelschmidt mit seiner Band Muff Potter auf der Bühne des OBS auftauchen würde, nachdem er mit dem eigentlich bereits 2009 beendete Projekt ab ca. 2018 ein neues Kapitel aufgeschlagen und mit "Bei aller Liebe" 2022 sogar ein neues Album eingespielt hatte. Thorsten und seine Mannen repräsentierten dann die Deutschrock-Fraktion auf dem Festival und arbeiteten sich dabei programmatisch durch die lange Bandhistorie. Dabei gab es dann eine performerische Vollbedienung, die nicht alleine aus den gewohnten Rockstar-Posen bestand, sondern auch aus ausgedienten Ausflügen Thorstens an den Bühnenrand, den Sicherheitsgraben und selbstredend auch ins Publikum. Dabei gab es dann noch eine amüsante Randnotiz: Der Thorsten wolle ein paar alte CDs zum Meet & Greet beim Roadtracks-Stand mitbringen, kündigte der Manager des Künstlers das Kommen des Meisters an. Dabei stand natürlich zu vermuten, dass Nagelschmidt vielleicht ältere Muff Potter-CDs feilzubieten hätte - jedoch ging es Thorsten tatsächlich darum, seine private CD-Sammlung zu verticken. Das ist dann genau die Art von Humor, die den Geschmack der OBS-Fans trifft - und so gab es dann den ersten Ausverkauf des Festivals schon am Freitagabend.
Dem Kontrastprogramm-Prinzip des Festivals folgend hatte Rembert dann die südafrikanische Wahlberlinerin Lucy Kruger & The Lost Boys als Headlinerin des ersten Festival-Tages eingeplant. Das war schon alleine deswegen notwendig, weil die rabenschwarze Natur von Lucys Musik einen Auftritt im Tageslicht unmöglich gemacht hätte. Lucy stand schon länger auf der Liste der möglichen OBS-Aspiranten - vielleicht war es aber gar nicht so schlecht, dass sich erst jetzt die Möglichkeit für einen Auftritt auf dem OBS ergeben hatte; denn früher bestanden die musikalischen Nachtschattengewächse Lucys aus einer Art Whisper-Kaputnik-Melange, die auf eine Festival-Bühne jenseits einschlägiger Goth- und Darkwave-Veranstaltungen wenig Sinn ergeben hätte. Erst nachdem Lucy ihre jetzige Partnerin, die Gitarristin Liú Mottes kennengelernt hatte und mit ihr eine musikalische Synthese entwickelte, die zunächst zu einer "zornigen (und lauten) Phase" und später auf dem mit elektronischen Mitteln augmentierten letzten Album "Heaving" gar zu songorientierter Konsequenz geführt hatte, entwickelten sich dann Möglichkeiten zu einer Larger-Than-Life-Attitüde in performerischer Hinsicht. Heutzutage agiert Lucy Kruger - unterstützt von ihrer vierköpfigen Band, zu der neben Liú Mottes auch ihre ebenfalls südafrikanische Songwriter-Kollegin und Violinistin Jean-Louise Parker gehört - als hypnotische Performerin, die sich dem Publikum mit einer Mischung aus Bedrohlichkeit, Gefahr und manischer Energie präsentiert. Dabei schleichen sich die meisten von Lucys Tracks nach wie vor über schmirgelnde Eindringlichkeit und sich zögerlich aufbauende Spannungen ins Bewusstsein des Hörers - werden aber heutzutage oft durch sich monumental aufbauschende Sound-Kaskaden, pulsierenden Rhythmen oder gar angedeutete Mitsing-Passagen (wie etwa im Falle des Tracks "Auditorium") aufgelöst. Lucy Kruger ist dabei keine Künstlerin, die sich dem Publikum über Gefälligkeit oder Anbiederung nähert, sondern dieses - im Gegenteil - mit seelischen Abgründen konfrontiert und es dann jedem überlässt, den Schritt ins Nichts zu tun oder eben nicht. Das macht natürlich einen Teil der Faszination des ganzen, viszeralen Lucy-Konzeptes aus - bietet aber wirklich kein entspanntes Entertainment. Dass das Publikum solche Sachen aber nicht nur mit Interesse zur Kenntnis nimmt, sondern geradezu feiert, zeugt dann schon wieder von der besonderen Qualität der OBS-Experience. Übrigens: Im richtigen Leben ist Lucy deutlich nahbarer, sympathischer und ausgeglichener als ihre Bühnenpersona. Um ihr Seelenheil muss man sich also keine Sorgen machen - that's the art of art.
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