Das von Dietmar Leibecke ins Leben gerufene Festival hat sich nämlich im Laufe der Jahre von einer Veranstaltung für musikalische Nischenfreunde zu einem allumfassenden Event entwickelt, bei der die ansonsten üblichen Trennlinien zwischen Fans, Musikern, Veranstaltern, Fachbesuchern und sogar den Caterern schon lange verwischt sind und sich am Ende alle Beteiligten als große, multinationale Familie verstehen, die sich halt ein Mal im Jahr zusammen findet, um gemeinsam zu feiern. Das "Americana"-Label dient dabei langsam auch nur mehr als grobe Orientierungshilfe für die Art von Musik, die dort gegeben wird und ist keine Standortbestimmung mehr - schon alleine deswegen, weil US-amerikanische Acts heutzutage kaum mehr den Weg über den Teich finden und auch in Oberhausen schon seit längerem vor allen Dingen durch kanadische, irische, englische, skandinavische und andere europäische Acts substituiert werden. In diesem Jahr war die Breite des stilistischen Angebotes denn auch von vorneherein so vielseitig, dass sich Dietmar Leibecke gar nicht mehr die Mühe gemacht hatte, nach einer "Wild Card" (also einem Act, der sich stilistisch mehr oder minder deutlich vom allgemein Country- und Folk-lastigen Tenor des Americana-Genres absetzt) zu suchen.
Nachdem der langjährige Conferencier Jeff Robson die Grundregeln der Veranstaltung dargelegt hatte, ging es am Freitagnachmittag - nach der inzwischen zur Institution gewordenen Static Ruhr Tour für die früh Angereisten, die in diesem Jahr zur Villa Hügel geführt hatte - mit dem Musikprogramm los. Der Auftritt des norwegischen Songwriters Ole Kirkeng mit seiner Band entsprach mit seinen gefälligen, melancholischen Country-Pop-Songs dann vielleicht dann noch am ehesten den Erwartungen, die man an klassische Americana-Sounds gehabt haben könnte. Das hat aber einen soliden Hintergrund: Ole verbrachte nämlich ganze fünf Jahre in den USA als Bassist in der Tourband von Courtney Marie Andrews, bevor er dann seine Karriere als Solo-Songwriter in Angriff nahm und schließlich sein Album "Still Not Lost" veröffentlichte. Erstmals kennengelernt hatten sich Dietmar und Ole bereits 2018 bei einem Hauskonzert mit Courtney Marie Andrews im Raumfahrtzentrum Sarner Kuppe (= Dietmars Wohnzimmer) und es war nur eine Frage der Zeit, dass Ole dann auch beim Static Roots Festival aufschlagen würde. Dass Ole seine Zeit mit Courtney Marie Andrews zur Befruchtung für sein eigenes Songwriting genutzt hatte, war an Songs wie "Stupid Questions" oder "Million Miles" dann deutlich zu erkennen - was aber natürlich nicht als Kritik, sondern als Lob zu verstehen sein soll; denn Ole Kirkeng hat sich genau die richtigen Elemente seines Metiers zusammengesucht und gehört bereits jetzt als Storytelling-Songrwiter zu den Meistern seiner Zunft.
Ole hatte dann auch gleich seine norwegische Landsfrau Louien (Live Miranda Solberg) im Gepäck, die ein wenig später mit einem eigenen Set (und denselben Musikern) aufspielen sollte - und bat diese dann demzufolge auch schon bei seiner eigenen Show für einen Gast-Slot auf die Bühne. Wie auch schon Malin Pettersen im letzten Jahr war Louien auf eine Empfehlung von Ole Kirkeng zum Static Roots Roster gelangt. Auch in der Musik von Louien finden sich noch Spuren von Country und Folk - aber auch von Laurel Canyon Westcoast-Flair, Indie-Pop und (beispielsweise in dem Track "Losing My Mind") sogar Rock-Sounds wie man sie beispielsweise eher von Indie-Queens wie Sharon Van Etten oder Phoebe Bridgers gewohnt ist. Damit entzog sich Louien als Performerin angenehm jeglichen Klischees und musikalischen Standard-Lösungen. Ihr gerade veröffentlichtes Album "Every Dream I Ever Had" bildete dabei jedenfalls einen reichhaltigen Fundus an Stimmungen, Stilen, Sounds aus denen sich Louien souverän bediente und mit ihrer sympathisch zurückhaltenden Art ihre Show im Zentrum Altenberg zu einer echten Überraschung und einem ersten Highlight werden ließ.
Zwischen dem Auftritt von Ole Kirkeng und Louien gab es dann noch ein etwas anderes Biest zu bestaunen: Jenny Don't & The Spurs kommen aus Portland, Oregon, und treten in Kostümen auf, die jeden Grad Ole Opry-Fan neidisch machen - haben jedoch weder mit abrasivem Indie-Rock (wie er typisch für ihre Heimatstadt gewesen wäre) noch mit sentimentalen Old-School-Country-Sounds zu tun, wie sie ihren Outfits entsprochen hätten. Stattdessen haben sich Jenny Connors (so der richtige Name der quirligen Frontfrau) und ihre Jungs einem Genre verschrieben, das in den frühen 80er Jahren von Acts wie Rank & File oder Jason & The Scorchers als "Cow Punk" aus der Taufe gehoben wurde. Dieses hievten Jenny Don't & The Spurs mit einem gewissen Augenzwinkern, einer Prise Glam-Ästhetik und dem unbedingten Willen, um jeden Preis unterhalten zu wollen in die Jetztzeit und lieferten die sicherlich ansteckendste, mitreißendste Party-Überraschung des gesamten Festivals. Auch wenn das aktuelle Album "Broken Hearted Blue" aufgrund des plötzlichen Krebs-Todes des langjährigen Drummers Ted Henry eine Spur düsterer ausgefallen war als das bisherige Oeuvre des Ensembles, war davon beim Auftritt in Oberhausen nichts zu spüren. Mit jeder Menge überschüssige Energie und geradezu genresprengenden Stadiengesten von Jenny selbst, ihrem Gatten und Gitarristen Kelly Halliburton und auch Bassist Chris March stürzte sich die Band in einen wilden Mix aus Honky Tonk Rhythmen, Garage Rock, Punk-Riffs, Twang und Tearjerker-Country und begeisterte so sogar die Fans, die vor solcher Art von Mucke dereinst vom OBS-Festival geflohen waren.
Weiter ging es mit einem mittlerweile sehr seltenen Ereignis: Eine Show der Paisley Underground-Legende Chris Cacavas mit Band. Der schon seit Jahren in Deutschland residierende Künstler hatte nämlich in den letzten Jahren als festes neues Mitglied von The Dream Syndicate - sowohl bei den Aufnahmen der letzten LPs wie auch als Keyboarder auf den Touren des Ensembles - ein neues Aufgabengebiet erschlossen, das ihn daran gehindert hatte, in eigener Sache - schon gar mit Band - tätig zu werden. Erstmalig seit den Shows mit seiner damaligen Band Junkyard Love präsentierte sich Cacavas mit alten und neuen Freunden sowie älteren und neueren Songs - und ließ dabei nichts von der Chuzpe, dem linkischen Charme, der lakonischen Ergebenheit und vor allen Dingen der manischen Energie vermissen, die ihn früher als Roots-Rocker schon ausgezeichnet hatten. Tatsächlich schlich sich sogar der Eindruck ein, dass Cacavas nie druckvoller und kompromissloser aufgetreten war und offensichtlich große Freude daran hatte, sowohl "neue" Tracks seiner 2020er LP "Burn The Maps" wie auch genüsslich rekonstruierte Versionen älterer Gassenhauer wie "Pale Blond Hell" mit geradezu jugendlicher Spielfreude zu präsentieren. Die lange Auszeit als Solo-Künstler und eine kürzlich erfolgreich gemeisterte, schwierige persönliche Lebensphase schienen den alten Haudegen motiviert zu haben, mit einer "Jetzt erst recht"-Attitüde noch mal richtig die Rampensau rauszulassen.
Auch der letzte Act des ersten Tages - die kanadische Band The Sadies - gehört mittlerweile zu den legendären Helden-Institutionen des Rock-Zirkus. Und zwar schon alleine aus dem Grund, dass sich die Band nicht geschlagen gab, als im Februar 2022 ihr Frontmann und Haupt-Songwriter Dallas Good Monate vor der Veröffentlichung des schon lange fertiggestellten Albums "Colder Streams" verstarb und sein Bruder Travis Good dessen Aufgaben im Band-Kontext übernahm - und seither mit Würde und Anstand ausfüllt. Seither sind die Sadies also als Trio unterwegs und zollen ihrem seligen Frontmann bei ihren Live-Shows unablässig Tribut. The Sadies gehören dabei zu jenen Acts, die sich aufgrund des positiven Word Of Mouth des Static Roots aktiv für das Festival empfohlen hatten - was ja auch nicht so oft vorkommt. In Oberhausen begeisterten die Sadies nicht nur ihre Hardcore-Fans mit einem wüsten, manischen, psychedelischen Trip durch das Band-Oeuvre, während Dallas Good als Backdrop-Projektion sozusagen aus dem Off als guter Geist über das Geschehen wachte. Zwar verzichteten die Jungs - anders als bei den regulären Konzerten ihrer aktuellen Tour - aus Zeitgründen darauf, die folkigen Roots des Ensembles nicht mal bei Klassikern wie dem Instrumental "10 More Songs" mit akustischen Einlagen zu würdigen; aber ansonsten wurde so ziemlich jedes denkbare Genre von Travis Good mit seinem unglaublich virtuosen Gitarrenspiel durch den stilistischen Kakao gezogen. Insbesondere der krude Mix aus ernsthaftem High-Speed-Fingerpicking, trashiger Psychedelia, Surf- und Folklore-Mumpitz, Morricone-Twang, Garage-Rock-Geschrammel und manischer Intensität beeindruckte dabei durch die souveräne Unbefangenheit im Vortrag. Einer Unbefangenheit, die deutlich macht, dass Perfektion beim Rock'n'Roll sowieso eben doch nicht gut genug ist. Dass dabei Sean Dean am akustischen (!) Bass und Drummer Mike Belitsky Travis Good bei jedem Schlenker wie Fische in einem Schwarm folgen konnten, ließ dann fast vergessen, wie viele brillante und komplexe Songs sich da im Angebot befinden - wobei auch dieses Mal wieder der Track "No One's Listening" als strahlendes Rock-Monument aus der Masse des Angebotes herausragte. Außer vielleicht bei den allzu sehr auf Americana-Formalismen fixierten Fans blieb da jedenfalls kein Auge trocken. Mag sein, dass die Sadies ohne Dallas Good heutzutage eine andere Band sind als früher - aber gewiss sind sie keine schlechtere. Die Reise geht auch weiter: Soeben veröffentlichten die Sadies als Band für den alten Kumpel (und inoffiziellen fünften Sadie) Rick White von Eric's Trip ein neues Album als "Rick White & The Sadies", das im Wesentlichen dem Andenken Dallas Good's gewidmet ist - aber eben neue Songs enthält.
Noch eine kleine Randnotiz: Am zweiten Tag des Festivals würde Willy Vlautin von den Delines sein neues Buch "The Horse" mit einer Lesung präsentieren. Und dieses Buch hat er Dallas Good gewidmet. Kein Wunder also, dass sich Travis Good dann am liebsten in den Popo gebissen hätte, weil die Delines erst am Samstag auftreten würden - denn selbstredend hätte er Willy Vlautin ansonsten eingeladen, bei der Show der Sadies mitzumachen.
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