Das war schön gedacht, aber mit einer gewissen Problematik behaftet: Der Roman "The Horse" war zum Zeitpunkt des Gespräches nur in England bereits erschienen und Nick und Willy unterhielten sich dann über die Charaktere und Details aus dem Roman - allerdings ohne zu erzählen, worum es in dem Buch überhaupt geht. Wer das Buch also noch nicht gelesen hatte - wie die meisten im Publikum -, musste sich dann zusammenreimen, worüber die Herren da eigentlich parlierten. Deswegen an dieser Stelle mal eine kurze Zusammenfassung: "The Horse" erzählt in einer Collagen-Rückblenden-Technik aus dem Leben eines fiktiven Songwriters namens Al, der seine Karriere als Musiker in Casino-Bands bereits hinter sich hat und in einer Hütte in der Wildnis lebt, vor der eines Tages im Winter ein blindes Pferd auftaucht, um das sich der Protagonist dann sorgt und kümmert. Nach erfolglosen Versuchen, das Tier irgendwie zu animieren, macht sich Al schließlich auf einen Fußmarsch durch die winterliche Landschaft, um Hilfe zu holen - und beginnt sich dabei auch auf einen Trip down Memory-Lane und sinniert dabei über sein Leben. Vlautin - der im richtigen Leben selbst drei Pferde besitzt - setzte das blinde Pferd dabei als Trigger ein, der die Geschichte des Buches ins Rollen bringt und nutzte das Setting dann für viele Referenzen auf die Mechanismen des Musik-Business und machte sich einen Spaß daraus, Unmengen fiktiver Titel von Songs zu erfinden, die der Protagonist in seinem Leben geschrieben hat (wovon einige dann als tatsächliche Songtitel auf dem nächsten Delines-Album zu finden sein werden).
So - und um 14:30 Uhr ging es dann auch endlich mit dem Musikprogramm los. Den bärbeißigen irischen Troubadour Louis Brennan muss man sich wie einen singenden James Joyce vorstellen, der seine unglaublich epischen, humorvollen Wortschwalle mit teils derben Formulierungen in entsprechend ausufernden, aber erstaunlich feinsinnig strukturierten Psychedelia-Folk-Songs mit viel Sustain in rezitativer Manier an das Publikum heranträgt. "Was wir Iren und ihr Deutschen ja gemein haben, sind unsere Probleme mit England", kündigte Louis sein monumentales Epos "Cruel Britannia" an, in dem er mit den Kolonisten vom Königreich abrechnet. Alleine mag Brennan nicht spielen. In seiner Band etwa agierte sein Songwriter-Kollege Stephen Fanning am Bass und gegen Ende seines Sets holte er sich noch Hannah White - die später mit einem eigenen Set aufspielen sollte - für den neuen Song "Lindisfarne" als Backing-Sängerin auf die Bühne. Auf die Frage, ob sie denn schon oft mit Louis zusammen gearbeitet habe, verneinte Hannah und erklärte, dass sie Louis an diesem Tag zum ersten Mal getroffen habe. So funktioniert eben nur das Static Roots Festival...
Die zwar in den USA geborene kanadische Songwriterin Suzie Ungerleider hatte die Besucher der Static Ruhr Tour bereits am Vortag unterhalten und spielte nun mit dem niederländischen Gitarristen BJ Baartmanns ein akustisches Set aus dem großen Repertoire, das sie sich dereinst unter dem Künstlernamen Oh Susanna angeeignet hat - obwohl sie heute dieses Label nicht mehr verwendet sehen möchte und demzufolge mit ihrem 2021er Album klarstellte: "My Name Is Suzie Ungerleider". Es hat dann wohl zwar etwas gedauert mit der Selbstfindung, aber heute macht Suzie deutlich, dass sie nun mit einer gewissen Selbstverständlichkeit im Leben steht und konzentriert sich darauf, weniger über sich selbst, als vielmehr die Menschen in ihrem Leben - vor allen Dingen ihre Kinder - zu singen. Auch ihre Tochter, die zwar zu früh geboren worden war - seither aber nie wieder irgendwo zu früh gewesen sei.
Mit solchen Feinsinnigkeiten hat der in Nashville residierende kanadische Songwriter David Newbould nicht so viel im Sinn. Der Mann, der sich in seiner Bio als "amplified Songwriter" bezeichnet, ließ in Oberhausen sozusagen die Rampensau raus und machte mit seiner Band beherzt in Sachen Schweinerock. Als Freund dessen, was man gemeinhin als "Heartland Rock" bezeichnet, hatte er mit seinem letzten Album "Power Up!" in der Pandemie-Phase zwar klanglich einen neuen klanglichen Weg eingeschlagen und sich rumpelnd und schmirgelnd als Alt-Rocker betätigt, setzte in Oberhausen aber auf den klassischen Roots-Rock-Ansatz, den man zum Beispiel auch von Steve Earle in dieser Form öfter zu hören bekommt. (Randnote: Auf Newboulds 2019er Scheibe "Sin & Redemption" spielt Gelegenheits-Dukes-Drummer Brad Pemberton mit). Dass David Newbould ein Freund des Gitarrenrocks der 70er Jahre ist, bestätigte er im Zentrum Altenberg nochmal mit einem geradlinigen Old-School-No-Nonsense-Ansatz.
Gleich danach ging es weiter mit einem weiteren David. In dem Fall dem irischen Song-Poeten David Keenan, der das Publikum mit einem Solo-Gig in die wohlverdiente Pause führte. Keenan stürzte sich mit einer bemerkenswerten Energie und einer gehörigen Portion performerischen Hyperaktivismus ins Geschehen. Der komplexe Aufbau seines Materials, die manische Hektik des Vortrages und die wortreichen Lyrics machten es dabei nicht ganz einfach, dem performerischen Ansinnen Keenans zu folgen, Denn während auf seinen Tonträgern das Tun durch reichhaltige Arrangements und das (teils elektrische) Zusammenspiel mit anderen Musikern untermauert wird, wirkte Keenan solo mit Gitarre und Klavier ganz schön unstet und etwas zu dynamisch. Sagen wir mal so: In die Solo-Performance Keenans musste man als Zuschauer schon ganz schön viel Aufmerksamkeit investieren und darauf hoffen, keine ADHS-Tendenzen zu entwickeln.
Nach der Pause und dem obligatorischen "Familienfoto" (auf dem sich sowohl das Publikum, wie auch die anwesenden Musiker und Teile des Teams versammeln) gab es dann das Set der britischen Songwriterin Hannah White - die schon lange zum Static Roots-Freundeskreis zählt, aber aufgrund der Pandemie-Phase erst jetzt auf dem Festival auftreten konnte. Zusammen mit ihrer Band - zu der praktischerweise auch gleich Hannahs Ehemann Keiron Marshall gehört - präsentierte dann ausgerechnet die fröhlichste Musikerin des Festivals (die mühelos durch ihr schillerndes Lachen im größten Menschengewühl identifiziert werden konnte) mit "Car Crash" den - wie sie ihn selbst titulierte - "traurigsten Song" des ganzen Festivals. "Car Crash" erzählt aus dem düstersten Kapitel von Hannahs Leben - einer Phase in der sie nach der Trennung von ihrem damaligen Partner mit ihrem Sohn obdachlos durch die Gegend zog und verhaftet wurde, als sie Lebensmittel stahl, um über die Runden kommen zu können. Zweifelsohne ist "Car Crash" insofern natürlich schon sehr anrührend - wichtig ist es aber, darauf hinzuweisen, dass es Hannah heutzutage wieder gut geht, Kieron Marshall natürlich nichts mit dieser Phase ihres Lebens zu tun hat und sie heute als Recording-Artist und Besitzerin des Londoner Clubs Sound Lounge (in dem es sowohl Roots-Musik zu hören gibt, wie auch veganes Wurzelgemüse serviert wird) ein glückliches, ausgeglichenes Musikerleben führt... und auf dem Static Roots Festival viel emotionalen Sonnenschein verbreitete.
Glücklich und ausgeglichen wirken auch die Delines - die an diesem Tag bereits zum wiederholten Mal auf der Bühne des Zentrum Altenberg standen (wenngleich erstmals während des Static Roots Festivals). Als Willy Vlautin sein Projekt Richmond Fontaine an den Nagel hängte und die Delines ins Leben rief, tat er das mit dem Hintergedanken, selber als Performer nicht mehr im Rampenlicht stehen zu müssen und sich so ganz auf seine Aufgabe als Songwriter mit einer Vorliebe für soulige Sounds und epische Geschichten über Leute, die das Glück verlassen hat, konzentrieren zu können. Seither steht Sängerin Amy Boone - die dem Ensemble trotz eines schweren Motorradunfalls erhalten blieb - im Zentrum der Delines-Shows und unterhält das Publikum dann nicht nur mit den einfühlsamen Interpretationen von Willys Drehbuch-artig angelegten Lyrics, sondern auch mit amüsantem Stage-Banter, der auf eine selbstironische Präsentation der Band-Dynamiken ausgerichtet ist. In Oberhausen überraschten die Delines dann nicht nur dadurch, dass sie einige überraschend lebhafte Tracks auf die Setlist gemogelt hatten (und sich damit vom gewohnten, lässig/souligen Groove ihrer "normalen" Shows absetzten), sondern indem sie das abenteuerlustig in Richtung eines düsteren Tex-Mex-Epos aufgebohrte Duett "My Blood Bleeds The Darkest Blue" (das Calexico sicherlich blass vor Neid gemacht hätte) zum Anker der Performance machten - inklusive übrigens eines filmreifen Dialogs zum Ende des Songs, bei dem sich Amy und Willy als Schauspieler betätigten und das neckische Gegeneinander auf der Bühne auf die humoristische Spitze trieben. Zum Glück haben die Delines mit dem Multinstrumentalisten Cory Gray jemand in der Band, der den Mariachi-Touch des Songs auch schlüssig emulieren konnte. Dennoch meinte Willy nach der Show, dass man sich mit diesem Track einfach nur einen Spaß hatte erlauben wollen. Und Spaß hatte das auf jeden Fall gemacht.
Chris Comper alias Prinz Grizzley stand mit seinen Beargaroos bereits 2018 auf der Static Roots Bühne und begeisterte schon damals die Fans, indem er mit seinen Jungs auf eine betont unterhaltsame und unernste Weise so ziemlich jedes Americana-Klischee durch den musikalischen Kakao zog - und dabei zwischen Honky Tonk-, Bakersfield-, Twang- und Nashville-Sound nun wahrlich keine schlechte Figur machte. Und wie er ganz richtig sagte: Als österreichische Band mit schweizer Musikern auf einem Americana-Festival in Deutschland als Headliner aufspielen zu dürfen, ist sicherlich schon eine bemerkenswerte Errungenschaft. In diesem Sinne setzten Prinz Grizzley einen für das Festival programmatisch betont versöhnlichen Abschluss.
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