Das internationale Quartett Plattenbau ist das Brainchild des britischen Wahlberliners Lewis Lloyd, der sich in den letzten Jahren als integrative Kraft in der Berliner Postpunk-Szene erwies, beispielsweise indem er als Bassist in dem Projekt Public Display Of Affection zusammen mit Jesper Munk, der ebenfalls bei Plattenbau tätig ist, seine Vielseitigkeit unter Beweis stellte. Seit 2019 ist Plattenbau sogar eine Art Allstar-Projekt, denn auch Bassistin Sally Brown und Drummer Brandon Walsh wurden aus der Berliner Szene rekrutiert. Nachdem die Band nach einigen Jahren Pause im letzten Jahr ihre aktuelle LP "Net Prophet" veröffentlicht hatte, war die Neugier groß, wie das Quartett den doch nach wie vor ziemlich düsteren 80er und 90er Industrial-Sound des Albums auf der Bühne umsetzen würde. Um es kurz zu machen: Erstaunlich wild, spielfreudig und auf gewisse Weise sogar rockig. Zwar stand in der Mitte der Bühne ein Synthie-Apparat - aber die auf der Scheibe dominierenden New Wave-Sounds wurden dank der manischen Performance von Lewis Lloyd und der nicht minder lebhaften Beiträge von Jesper Munk und Sally Rose und der Betonung der krachigeren Bestandteile durch eine äußerst effektive und sympathische Postpunk-Attitüde ersetzt. Wem Postpunk ansonsten immer zu monoton ist - oder wer ein Fan von Jon Spencer ist -, der sollte sich unbedingt mal mit der Live-Band Plattenbau beschäftigen.
Ein Stil, der beim Pop-Kultur-Festival - aus verschiedenen Gründen - immer ein bisschen unter "ferner liefen" angesiedelt ist, ist die konventionelle, songorientierte Rockmusik. Überraschenderweise konnte ausgerechnet die irische Songwriterin Ashley Aberdeen mit ihrem Bandprojekt Hotgirl im Panda-Platforma-Club punkten. Zwar geben sich Hotgirl alle Mühe, ihr - logischerweise feministsch orientiertes - Empowerment-Material mit jeder Menge Attitüde und scheinbar bewusst sperrig und rau zu präsentieren. Aber alleine aufgrund des soliden Songwritings Ashleys und dem dementsprechend klar strukturierten Songmaterial überzeugten Hotgirl als - sagen wir mal - "alternative Rockband" am ehesten.
Der Abend des zweiten Festivaltages klang dann mit zwei ungewöhnlichen Projekten aus. Die iranisch-stämmige Künstlerin Pari Eskandari präsentierte auf der Ramba-Zamba Probebühne musikalische und tänzerische Autotherapie zum Thema "geistige Gesundheit", indem sie zu einem vorproduzierten Flow aus Samples, Beats, R'n'B-Grooves und angedeuteten folkloristischen Elementen sowohl ihre Dämonen thematisiert - gegen die sie mit ihrer Performance antanzt - wie auch ihre Herkunft und die sich daraus ergebenden kulturellen Hintergründe einbezieht. Zuletzt nahm sie mit der Trip-Hop-Legende Tricky zwei Singles auf - was sich allerdings bei dieser Performance nicht bemerkbar machte. Vielleicht aufgrund des Setups - bei der sich Pari weit entfernt vom Publikum auf einer spärlich beleuchteten, nackten Bühne präsentierte - wollte der Funke nicht so recht überspringen. Das intimere Ramba Zamba Theater wäre sicherlich der geeignetere Ort für diese Show gewesen.
Im Palais gab es abschließend einen weiteren Versuch, DJ-Sets in das Live-Musik Programm zu integrieren. Nachdem das mit HipHop und Rap mit der inzwischen zur Dauereinrichtung mutierten Caystube sehr gut geklappt hatte, wollte das selbst mit der großen Produktion des Sets der Londoner DJane (und Boiler Room Veteranin) Taylah Elaine im Club-Setting auch hier nicht so gut klappen. Nur eine Handvoll Fans fanden sich im Palais ein - von denen dann auch nur ein Teil bereit war, zu dem von Elaine sicherlich souverän zusammengemixten Clash aus Pop-, Club-, Soul- und HipHop auch tatsächlich zu tanzen. Was allerdings das aufwendig produzierte, dem Flow angepasste Beleuchtungskonzept betraf, gab es da nichts auszusetzen.
Auch Tag drei hatte zunächst wieder einige interessante Acts im Rahmen des Nachwuchsprogrammes im Frannz Biergarten zu bieten. Den Anfang machte die Deutsch/Amerikanerin Kimi Recor, die in L.A. und Berlin in unzähligen Indie-Projekten tätig ist und nun unter dem Namen Schnallo mit ihrem Gitarristen, die einen faszinierenden Mix aus Düster-New-Wave-Pop mit dezentem Glam-Faktor zu bieten hat. POP wurde dabei in Großbuchstaben geschrieben - wobei die programmierte Rhythmik dabei im Gegenzug Kraut-Unerbittlichkeit zu bieten hatte. Während Schnallo dann also mit bemerkenswert cooler Attitüde bilingual (bzw. im Denglisch-Mix) vor sich hin sang (und tanzte), wurde zunehmend deutlich, dass die Gute für dieses Projekt die wegweisende Band Malaria! als Inspirationsquelle vor Ohren gehabt haben musste. "Das ist das größte Kompliment für mich, wenn man das heraushört", meinte Schnallo nach der Show denn auch. Ein erstes Produkt dieses Projektes ist die EP "White Fluffy".
Anna Olivia Böke und ihr Bandprojekt Sloe Noon waren für das Nachwuchs-Programm fast ein bisschen zu spät dran, denn in Kennerkreisen haben Sloe Noon mit ihrem attraktiven Grunge/Indie/Pop schon länger für aufhorchen gesorgt und sich als Next Big Thing in Sachen Indie-Pop aus Deutschen Landen empfohlen. Das war bei der mitreißenden Show im Frannz Biergarten erneut so. Dass das Ganze so gut funktionierte, lag nicht nur am Songmaterial, sondern vor allen Dingen daran, dass sich Sloe Noon als spielfreudige Live-Band empfahl und sich der Spaß, den die Musiker miteinander hatten, dann auch auf das Publikum übertrug.
Weiter ging es dann im Frannz-Club mit einer weiteren Supergroup namens The Morning Stars. Unter diesem Projektnamen haben sich Barbara Morgenstern, Alex Paulick von Kreidler sowie Felix Müller-Wrobel und Sebastian Vogel von Kante zusammengeschlossen, um - soweit das zu beobachten war - ziemlich gleichberechtigt in der Synthese aus den jeweils präferierten eigenen musikalischen Neigungen mit ordentlichem Songmaterial und viel lockerer Spielfreude und Spaß an der Freude nach Größerem zu streben. Obwohl das Ensemble hier einen der ersten gemeinsamen Live-Auftritte absolvierte, klang das so, als musizierten die vier Protagonisten seit Jahren zusammen. Wir sind gespannt auf erste gemeinsame Veröffentlichungen.
Im Maschinenhaus hatte sich derweil die australische Indie-Musikerin Valentina Veil mit ihrem Projekt VV & The Void eingerichtet. Als Veteranin der australischen Indie-Szene lieferte Viviane an der Gitarre und ihr Mitstreiter an Keyboards und Computern vor einer Projektion mit bedeutungsschwangeren Avantgarde-Filmchen mit den Song ihres aktuellen Albums "The Cage" eine mustergültige Demonstration in Sachen (old-fashonioned) Noir- und Coldwave, Elektronika und Gitarrendrone-Pop, bei der sich die Inspirationsquellen des Duos erkennbar und förderlich im Programm widerspiegelten.
Gleichzeitig bewiesen Evan Uschenko und Ille van Dessel a.k.a. Ghostwoman, dass das Konzept des international besetzten Duo-Projektes immer noch seine Daseinsberechtigung hat. Dazu muss man wissen, dass Uschenko Ghostwoman zunächst als Band-Projekt in den USA konzipiert hatte. Zwischenzeitlich ist er aber nach Belgien gezogen und hatte für sein letztes Album "Hindsight Is 50/50" das Konzept umgekrempelt und setzt seither statt auf kontrollierten, durchkomponierten psychedelischen Indie-Pop lieber auf die Dynamik improvisatorischer Jam-Sessions. Zusammen mit der Drummerin Ille van Dessel treibt er dieses Prinzip dann auch auf der Bühne im im Duett (oder soll man "Duell" sagen?) auf die Spitze. Dabei wird dann erst deutlich, warum Uschenko diesen Weg gewählt haben könnte, denn in der selbstlosen Zurücknahme hinter den musikalischen Dialog zugunsten eines eher psychedelischen Flows entfachen Evan und Ille auf der Bühne eine sehr eigene Dynamik.
Die britische Schauspielerin und Avantgarde-Musikerin Keeley Forsyth präsentierte im Frannz-Club zusammen alleine mit einem Organisten eine experimentellen, rezitativen und oft am atonal kratzenden Gegenentwurf zu allem, was mit gefälliger Popmusik zu tun haben könnte. Tatsächlich erweckten die so formulierten Drones auch eher den Eindruck einer theatralischen Klanginstallation als jenen eines konventionellen Konzert-Erlebnisses. Zu sehen gab es da allerdings nichts, da Forsyth jede Möglichkeit nutzte, sich in den Schatten hinter einem dichten Kunstnebel-Wand unsichtbar zu machen.
Das vielleicht gelungenste und integrativste Projekt des Festivals offenbarte sich im Anschluss im Palais-Club, wo sich im Rahmen einer Berlin-Toyko-Residenz die irisch-japanische Künstlerin emhoi mit ihrem aus der japanischen Musikerin Utena Kobayashi und der japanisch/kanadischen Künstlerin Julia Shortread bestehenden Bandpropjekt Black Boboi und den Multilayer-Künstlerinnen Rosa Anschütz und Eddna (Elena Herrman) zusammenfanden, um ein faszinierend vielschichtiges Klang-Universum aus Ambient-, Indie-Pop-, Klassik-, Electronica- und Folklore-Elementen zu erzeugen und im wechselseitigen Vortrag mit einem eigenwilligen Eigenleben zu erfüllen. Zum Instrumentarium gehörten dabei neben Keyboards auch Gitarre, Steel-Drum, Cello, Querflöte und immer wieder die menschlichen Stimmen - ob mit oder ohne Gesang und/oder Text. Das war dann ebenso hypnotisch wie faszinierend.
Als Nikki Sudden und sein Bruder Epic Soundtracks 1980 ihre erste Band Swell Maps auflösten, befanden sich die beiden inzwischen längste verstorbenen Musiker noch am Anfang ihrer Musikerkarrieren. Nikki Sudden war es jedenfalls zeitlebens wichtig darauf hinzuweisen, dass die Swell Maps vor allen Dingen ein Ausdruck jugendlicher Begeisterung und Selbstfindung für das Medium Musik gewesen seien. Insofern mutet es dann schon etwas seltsam an, dass der letzte Swell Maps-Veteran Jowe Head zusammen mit ein paar Kumpels und wechselnden Gast-Musikern unter dem Moniker Swell Maps C21 das Erbe der Band - zumindest für ausgesuchte Live-Präsentationen - aufrecht zu erhalten sucht. Denn dieses Erbe besteht unter anderem darin, die Tugenden des DIY-Musikertums ohne Rücksicht auf handwerkliche Feinheiten, Schönklang oder klangtechnische Möglichkeiten zu betonen. Das gelang den Herren (und Damen) auch bei der Show im Palais zweifelsohne recht gut. Die Frage ist nur: Warum?
Da es sich beim Pop-Kultur Festival um eine Multi-Disziplinäre Angelegenheit handelt, ist das konventionelle Liedermacher- und Singer-Songwriter-Genre hier nicht so prägend vertreten, wie bei anderen Veranstaltungen mit Festival-Charakter. Tatsächlich war das aus dem Gitarristen Aaron Green und der nicht-binären Songwriterin Art Ross bestehende, kanadische Duo Pillow Fyte aus der Provinz Nova Scotia das einzige Projekt, dass klassisches, akustisches Singer-Songwriter-Fodder mit Americana- und Country-Touch vorzuweisen hatte. Bei ihrer Show im Panda Platforma Club zeigte sich Aaron - als Sprachrohr des Duos - amüsiert, überrascht und erfreut darüber, dass sich zu später Stunde doch ziemlich viele Interessierte eingefunden hatten, um zu später Stunde "lesbische Folksongs mit anzüglichem Inhalt" anzuhören.
Der letzte Tag des Festivals sollte dann im Palais dieses Mal nicht mit einem DJ-Set ausklingen, sondern mit einem Auftritt des Duos The KVB, das in der Kulturbrauerei schon des Öfteren gezeigt hatte, wie man aus der Liebe zur Architektur und zu Musik eine glaubwürdige, lebendige, effektive und künstlerisch überzeugende Synthese erzeugen kann. Mit bildgewaltigen Back-Produktionen mit digital erzeugten architektonischen Motiven zeigten Nicholas Wood und Kat Day an diesem Abend erneut, dass sie die ungekrönten Royals in Sachen Kunstform-Synthese sind. Seit sich das britische Duo mit dem vorletzten letzten Album "Artifacts" entschlossen hatte, die Musik in eine rockig-poppige Richtung zu führen, wandten sie sich mit dem neuen Werk "Tremors" in eine eher Club-orientierte Richtung. Bei der Show im Palais verbanden sich diese beiden Ströumungen dann zu einem mitreißenden, erstaunlich organischen, psychedelischen Gesamtkunstwerk, das nun wirklich kaum Wünsche übrig ließ - gleichwohl Nick und Kat keine gesteigerten Bemühungen unternehmen, um sich mit dem Publikum zu assoziieren. Nun ja: Es geht hier halt auch eher um die Kunst als solche. Im richtigen Leben sind Nick und Kat übrigens recht sympathisch und zugänglich.
Offiziell klang das Festival dann mit einigen Dance- und DJ-Projekten in der Ramba Zamba Probebühne aus - aber hier ging es ja um die Live-Musik. Als Fazit lässt sich vielleicht zusammenfassen, dass diese Ausgabe des Pop-Kultur-Festivals einen immens breit gefächerten Überblick über die Berliner und internationale Kunst-Szene bot - wobei das Ganze dann ohne wirklich herausragende Höhepunkte auskommen musste, allerdings auf wirklich hochstehendem Niveau (jenseits irgendwelcher Mittelmaß-Überlegungen) auf der anderen Seite auch keinerlei Ausfälle zu verzeichnen hatte. Mit Sicherheit bot auch das Pop-Kultur Festival 2024 wieder etwas für alle. Es spricht also nichts dagegen, das Konzept mit dieser Haltung auch in den nächsten zehn Jahren fortzuführen.
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