Da die Aussies mit dem Programm bereits Mittags anfangen, begann die Sache für uns dann im Molotow, wo um Punkt 12 Uhr Saxon Gable und Ray Sonder a.k.a. Baby Smith mit ihrer Band im Backyard bereits im Kunstnebel standen. (Über den Nutzen von Kunstnebel bei Open-Air-Veranstaltungen müssten dann auch noch mal schlüssige Untersuchungen angestellt werden.) Laut Tagline geht es bei der Musik des Projektes um das "eng verbundene kreative Gewebe" das zwischen den Eheleuten Gable/Sonder - nun ja - geflochten wird. Dabei setzen Baby Smith auf soulige Grooves und bluesige Grundthemen. Das Interessante dabei ist dann, dass tatsächlich Ray Sonder mit seinem ätherischen Falsett gesanglich gleich mehrere Oktaven höher angesiedelt ist als seine Frau, die allerdings auch nur gelegentlich Gesangsharmonien beisteuert und sich ansonsten auf die Erdung als Bassistin konzentriert.
Im Molotow Club hatte sich derweil die australische One-Woman-Band Milan Ring installiert. Nicht umsonst gehörte die aus Sydney stammende Wahlberlinerin zum erlesenen Kreis der ANCHOR-Kontestanten, denn was die Gute hier alleine mit Gitarre, Gesang und Electronics zu fast schon orchestraler Grandezza performerisch verdichtete, hatte es schon in sich. In Australien hat die Aria-nominierte Künstlerin quasi im Alleingang eine Renaissance des R'n'B-Genres eingeläutet (wie es in ihrer Bio nicht ganz untreffend ausgelobt wird) - zeigte aber auf der Bühne weit mehr als die Präsentation eines einzelnen Genres. Als ebenso virtuose wie impulsive Gitarristin, wandlungsfähige Sängerin, empathische Rapperin und nicht zuletzt flexible Technikerin verschmolz sie bei ihrer Show im Molotow Jazz, Soul, Funk, HipHop, R'n'B und Pop mit traumwandlerischer Sicherheit zu einer einzigartigen Melange, die weit vielschichtiger angelegt ist, als die Produktion des aktuellen Albums "Mangos" vermuten hätte lassen. Dabei zehrt Milan offensichtlich ebenso von ihren Erfahrung als Songwriterin, Produzentin, Tontechnikerin und Fachfrau für Elektronika jedweder Art wie auch von ihrer einnehmenden Art, mit dem Publikum in Kontakt zu treten. Das sollte man mal gesehen haben (was im Molotow Club aufgrund der Beleuchtungssituation ja nicht so ganz einfach ist).
In ihrer australischen Heimat und in den USA gehört die aus Queensland stammende Songwriterin Tia Gostelow inzwischen zu den angesagten Stars ihres Genres. Aufgrund der Entfernung und einer unglücklichen Booking-Politik konnte sich Tia zumindest hierzulande jedoch zu Beginn ihrer Laufbahn nie in der vordersten Riege der Teenie-Idole platzieren und präsentiert sich demzufolge heute - natürlich auch im Molotow Backyard - mit ihrem songorientierten, organischen Powerpop als routinierte, gereifte Performerin fast schon mit einem gewissen Retro-Flair und einer Vorliebe für klassische Westcoast-Sounds a la Fleetwood Mac. Natürlich präsentierte sie dabei auch Songs ihres aktuellen, dritten Albums "Head Noise" aus dem letzten Jahr, auf dem sie ihr Songwriting weiter in diese klassische Richtung entwickelte.
Bei der Spielbude war derweil der Swiss Business Mixer im Gange. Das ist eine Business Veranstaltung, bei der die Delegierten bei Smalltalk stundenlang für ein kleines Stückchen Raclette-Käse anstehen, während sich auf der Spielbudenbühne diverse Schweizer Acts der Laufkundschaft präsentieren. In diesem Jahr war die Spielbude den ganzen Tag für Schweizer Acts reserviert - wobei am Abend gar zwei exklusiven Premium-Shows das Tagesprogramm beschließen sollte. Hier präsentierte sich der Schweizer Songwriter Benjamin Amaru mit Band. Der Sohn einer Schweizer Mutter und eines iranischen Vaters hat sich als musikalisches Metier melancholischen Soul-Pop ausgesucht - möchte das aber nicht als Genreklassifikation verstanden wissen, da er sich sicher ist, selbst nach zehn Jahren Suche seinen definitiven Stil noch gar nicht gefunden zu haben. Sagen wir mal so: Durch die stilistische Offenheit - die auch dadurch geprägt wird, dass sich Amaru gelegentlich auch als Piano-Man betätigt - bieten sich dem Songwriter viele Möglichkeiten, seine Selbstfindungs- und Alltagsgeschichten in angenehm temperierten organischen Pop-Songs nach US-amerikanischen Muster zu verpacken. Bei uns erlangte der Mann zuletzt Aufmerksamkeit durch einen Auftritt bei Ina's Nacht im August des Jahres.
Im Sommersalon gab es derweil den ersten Taiwanesischen Showcase-Tag ever. Hier präsentierten sich dann Acts wie das Duo Our Shame aus Taipei. Xiao Ao und Isan thematisieren in den ruppigen, englischsprachigen Indie-Rock Songs (einer davon mit eingeflochtenem deutschen Refrain) ihrer Debüt-LP "Modern Problem" von 2022 Themen wie Entfremdung und Isolation in einer technologisierten Welt. Musikalisch kommt das Ganze sympathisch schnürsenkelig und bodenständig rüber - strahlt dabei aber den unbefangenen Charme von Musikerinnen aus, die fast - aber nicht ganz - verstanden haben, worum es in der gewählten Subnische westlicher Rockmusik eigentlich geht. Wichtig auch: Hier gab es ausgezeichnetes asiatisches Fingerfood.
An dieser Stelle wurde dann ein Break vom normalen Festivalbetrieb notwendig, da es im Plattenladen Michelle Records einen "Secret Instore Gig" der Indie-Ikone Joan As Police-Woman geben sollte, die in Vorbereitung ihres Auftrittes beim PIAS-Barbecue am nächsten Tag - und der anstehenden Herbst Tour - am Veröffentlichungstag ihres brandneuen Albums "Lemons, Limes & Orchids" eine Auswahl der neuen Songs mit entsprechenden Hintergrund-Informationen spielte. Dabei zeigte sich Joan Wasser dann bestens aufgelegt, freute sich darüber, dass Indian Summer in unseren Breiten "Altweibersommer" heißt (was sie dann ironisch auf sich selbst bezog), berichtete wie die neuen Songs zustande gekommen waren, erklärte deren lyrische und emotionale Bedeutung und stand danach noch für Autogramme und Selfies zur Verfügung. Mal abgesehen davon, dass man hierzulande seinen Idolen für gewöhnlich nicht so nahe kommt (schon gar nicht am Veröffentlichungstag) wie in diesem Fall, erwies sich diese Show dann als in dem Sinne besonders, als dass Joan die "öffentliche" Show am Folgetag aufgrund technischer Probleme nur unvollständig realisieren konnte. Dazu später mehr.
Zurück auf dem Festivalgelände gab es dann im Canada House noch mal stilistische Vielfalt zu bewundern. Die autonome Songwriterin Katie Tupper aus Saskatoon in der Provinz Sasketchewan hat sich nämlich - anders als so ziemlich alle ihrer Landsleute aus dieser Gegend - nicht Folk und Americana als musikalisches Genre ausgesucht, sondern einen eleganten Jazz-, Soul- und R'n'B-Sound, der nur bedingt als Pop zu gebrauchen ist, aber erstaunlicherweise auf klassischem Storyteller-Songwriting beruht. Ihre letzte Scheibe "Where To Find Me" hatte Katie Tupper alleine geschrieben, aufgenommen, arrangiert und produziert - weswegen es dann auch nicht wunderte, dass sie nicht mit einer Band, sondern alleine mit einem Gitarristen auftrat und sich dabei als klassische Croonerin präsentierte. Das führte dazu, dass man sich dann auch auf das elegante Storytelling ihrer Songs konzentrieren konnte. Das wurde dann allerdings ein wenig dadurch konterkariert, dass sie im Plauderton die hinter den Songs liegenden Motivationen ihres Materials offenlegte. Der in der Pandemie entstandener Track "Live Inside", der ohrenscheinlich die Themen Zweisamkeit und Isolation im Lockdown zu behandeln scheint, sei entstanden, als sie ihrem Partner aus Langeweile zum Spaß den Kopf rasiert habe, um mal zu sehen, wie weit sie gehen könne und wie das denn wohl aussähe - was dann Zeilen wie "I don’t think you know, just how good it felt to take golden hairs off your golden head" erklärt. Irgendwie machte sie das natürlich auch wieder sympathisch - denn wer räumt ansonsten schon ein, ein ganz normaler Geek zu sein?
Auf dem Weg zum Abendprogramm überraschte dann noch die australische Musikerin Mia Wray mit einem unglaublich intensiven, stimmgewaltigen und hochemotionalen Set am N-Joy-Bus. Die Frau, die sich dazu bekennt, musikalisch sehr wählerisch zu sein und nicht allzu viel zu mögen, hat sich als Metier eine bluesige Variante des Piano-Pop mit leichtem R'n'B-Einschlag gewählt. Aufgrund des raumgreifenden Gesangsvortrages fühlte man sich als Zuschauer unweigerlich an Vocal-Queens wie Adele erinnert - wobei Mias Vortrag im Vergleich dann doch eine erdigere, bodenständigere Ausrichtung hat. Niemand geringerer als Elton John ist bereits auf die Melbourner Künstlerin aufmerksam geworden und hat ihren Song "The Way She Moves" als Empfehlung in seiner Radio-Sendung ausgelobt. Eine erste LP ist für nächstes Jahr geplant.
Einige Meter entfernt konnte man sich im Bunker Uebel & Gefährlich der Musik von John Ryan Kaiser aka Yot Club hingeben. Kaiser war natürlich mit kompletter Band angereist, um seine Songs aus der Indie-Pop-Ecke zu präsentieren, machte technisch auch viel her, konnte für allgemeines Wohlbefinden und Kopfnicken sorgen - aber irgendwie mehr auch nicht.
Danach galt es eine Spielstätte namens "Stage 15" zu finden, die mit einer falschen Adresse auf dem Lageplan des Festivals notiert war. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um das ehemalige Drafthouse, wo in den vergangenen Jahren auch schon gelegentlich Shows im Rahmen des Festivals stattgefunden hatten. Hier präsentierte dann Noemi Bunk mit ihrer Band Willow Parlo den aktuellen Stand der Entwicklung. Gerade hatten Willow Parlo den Song "I Love You Always Forever" von Donna Lewis in einer Softrock-Variante als Coverversion neu aufgelegt (und spielten den natürlich auch) - aber im wesentlichen ging es bei diesem Auftritt wohl auch darum, sich für die ersten Auftritte im UK warmzuspielen, die im Oktober anstehen. Mit ihrem angenehm entspannten, aggressionsfreien Grunge- und Indie-Rock mit Dreampop-Flair haben sich Noemi und ihre Jungs aus dem Stand heraus in die Herzen der Indie-Fans gespielt, die es demzufolge kaum erwarten können, dass die Band auch mal etwas mehr als die gelegentliche Single- oder EP-Veröffentlichung auf die Beine stellt. Das - so verriet Noemi nach der Show - sei nun aber für das nächste Jahr durchaus ins Auge gefasst.
Wieder rüber zum Uebel & Gefährlich, wo im sehr gut gefüllten Ballsaal NewDad aus Irland spielten und für sicherlich ein Highlight des Reeperbahn Festivals sorgten. Alle an IndieRock-/Pop, Dream-Pop, Shoegaze, Post-Punk interessierte Leute dürften sich einfach überaus gefreut haben, diese talentierte Band live erleben zu dürfen. Julie Dawson, Cara Joshi, Fiachra Parslow und Sean O'Dowd haben einfach ein tolles Gespür für große Melodien, ein Händchen für das passende Sound-Design und sind einfach eine sympatische Band - an diesem Abend hat es einen Querschnitt durch das komplette bisherige Programm gegeben, sowie einen kleinen Ausblick auf die Zukunft mit gleich zwei neuen Songs (einer recht poppig, einer recht rockig). Es bleibt spannend und man sollte NewDad auf jeden Fall weiter verfolgen.
Gleich im Anschluss spielte im Sommersalon Stina Holmquist mit ihrer Band einen ihrer ungemein lebhaften und unterhaltsamen Showcases. Die zierliche Person aus dem Ruhrgebiet hat sich im Laufe des letzten Jahres als neues Fräuleinwunder in Sachen abenteuerlustig angelegten Indie-Pops etabliert und mit ihrer lebensbejahend fröhlichen Art und den dementsprechend lebhaften Live-Shows einen Platz im Herzen vieler Freunde gut gemachter, authentischem Songwritings erspielt. Nicht alleine aber auch aufgrund von Support Slots bei den Giant Rooks und Leoniden - vor allen Dingen aber wegen ihres brillant komponierten Songmaterials und der positiven Attitüde, mit der sie ihre (manchmal erstaunlich nachdenklich angelegten) Selbstfindungs-Songs auf der Bühne präsentiert. Bruder Lasse Per sitzt dabei hinter dem Drumkit und Multiinstalist Paul Sabel sorgt zuweilen mit einer Posaune für musikalische Kurzweil - auf sowas muss man ja auch erst mal kommen.
Wie bereits erwähnt, war die Spielbude am Festival-Freitag den ganzen Tag für die Schweizer Delegation reserviert. Den Abschluss bildeten dann am Abend zwei außergewöhnliche, exklusive Präsentationen. Da war zum einen die schon seit einigen Jahren im Schweizer Exil lebende israelische Songwriterin Ella Ronen, die auf der Spielbuden-Bühne mit ihrer Band die Songs ihres im Frühjahr dieses Jahres erschienenen, vierten Albums "The Girl With No Skin" präsentierte. In der Welt von Ella Ronen - die neben ihrer Berufsbezeichnung als Musikerin noch jene der Poetin, Lehrerin und Aktivistin führt - geht es um Mystik, Mysterien, Poesie und Spiritualität. Dementsprechend feinsinnig und vielschichtig war dann auch ihr Set angelegt, das sie zudem mit allegorischen Geschichten über die Inhalte ihrer Songs anreicherte. Vor allen Dingen war aber dieses Konzert nicht laut, druckvoll und poppig (mit Ausnahme des als Erinnerung an die stürmische Jugendzeit angelegten Rausschmeißers "The Mall") - auch weil sich Ella weitestgehend in einem Folk-Pop-Szenario bewegt. Das war dann insofern problematisch, als dass sich zur Abendzeit das Auditorium mit relativ vielen Personen gefüllt hatte, die den Tag damit verbracht hatten, ihren Alkoholpegel kontinuierlich zu steigern und sich deswegen - mit lautstarken, sexistischen Sprüchen - unangemessen ins Geschehen einbrachten und den eigentlichen Konzertgenuss demzufolge erheblich beeinträchtigten. Ella Ronen nahm diese Situation mit einer gewissen Gelassenheit, versuchte die Zwischenrufe zu ignorieren und sich stattdessen an die Menschen zu wenden, die an ihrer Musik auch tatsächlich interessiert waren - beispielsweise indem sie sich an den Bühnenrand setzte oder stellte. "Man muss versuchen, so etwas auszublenden", erklärte sie nach der Show mit guter Miene zum blöden Spiel.
Besser erging es im Folgenden Tiffany Athena Limacher a.k.a. To Athena ("To" ist Tiffanys Spitzname und "Athena" ihr zweiter bürgerlicher Vorname - womit der Projektname dann auch hinreichend erklärt ist), die ihren Auftritt gleich mit einem neunköpfigen Kleinorchester mit Streichern, Harfe, Synthesizern und kompletter Band bestritt. Trotz des beeindruckenden Produktionsvolumens war der Auftritt von To Athena auch nicht wirklich laut - aber die besoffenen Störer hatten sich zwischenzeitlich in die Bewusstlosigkeit verabschiedet und dann verstand es Tiffany auch souverän, das Publikum in ihre poetische Kammer- und Kookpop-Welt einzubinden. Sei es, dass sie sich als impulsive Dirigentin betätigte und das Publikum in einen mehrstimmigen Chor aufteilte oder indem sie die Geschichten etwa hinter ihren auf ihrer Muttersprache Schwytzerdütsch vorgetragenen Stücken wie z.B. dem anrührenden Autotherapie-Walzer "Angscht" erläuterte. Das Programm bestand aus den Songs ihrer beiden Alben "Aquatic Ballet" und "The Movie" (etwa die Hälfte ihrer Songs trägt sie auf Englisch vor) und dem mit der deutschen Kollegin Marlena Käthe geschriebenen Stückes "Garten", das auch auf Deutsch gesungen wurde. Bei diesem Stück erzeugte dann das Orchester ein zwitschernden, zirpenden Soundtrack aus Gartengeräuschen. Die Show endete dann bei einem Pop-Up-Merch-Store am Bühnenrand, wo Tiffany auch noch mal darauf hinwies, dass im Dezember ihre allererste Headliner-Tour hierzulande anstünde.
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