Eine große Karriere geht zu Ende. In den 80er Jahren erlebte Derek William Dick alias Fish mit der Band Marillion einen kometenhaften Aufstieg. Von einigen Kritikern als Genesis-Epigonen verspottet, von unzähligen Fans heiß geliebt. Und wer unvoreingenommen an "Script For A Jester's Tear", "Fugazi", "Misplaced Childhood" und "Clutching The Straws" herangeht, muss zugeben, dass den Briten vier immer noch hörenswerte Progressive Rock-Klassiker gelungen sind. Fish, damals ähnlich bemalt und verkleidet wie Peter Gabriel, allerdings aus Schüchternheit, sendete dann nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge wie seine Bandmates und startete eine Solokarriere mit elf überwiegend gelungenen Studioalben in den folgenden 30 Jahren. 2020 kam mit "Weltschmerz" sein letztes Album heraus, Corona verhinderte die im Anschluss geplante Abschiedstour. Diese wird zurzeit unter dem Namen "Road To The Isles" nachgeholt - mit einem Zusatztermin in Hannover - und findet im März nächsten Jahres ihren Abschluss in Glasgow. Natürlich im heimatlichen Schottland. Dann will Fish sich mit seiner Frau in sein Haus auf einer Hebriden-Insel zurückziehen, um Romane, Drehbücher und eine Autobiografie zu verfassen. Schließlich sei er eher ein Autor, der singen kann, meint Fish, als ein Sänger, der schreibt.
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Die gut 1.000 Besucher des Capitol in Hannover-Linden schätzen aber sowohl Fishs Kompositionen als auch seinen Gesang, wenngleich er nicht mehr alle Höhen so trifft wie in jüngeren Tagen. Er weiß das, singt dafür in tieferen Lagen vielleicht sogar besser. Das zeigt sich bei dem Marillion-Block zum Ende des Konzerts. Aber selbst wenn Fish bei "Kayleigh" und "Lavender" noch ins Falsett gelangen würde, hätte man nicht viel davon gehört, übertönt doch der Publikumsgesang seine Stimme. Zu "Heart Of Lothian" breiten die Fans in der ersten Reihe eine Schottland-Fahne aus, was Fish mit einem "Daumen hoch" zufrieden goutiert. Mit "Incubus" geht es noch ein weiteres Mal zurück in Marillion-Zeiten: flirrende 80s-Keyboards, die Mickey Simmonds mit Cembalo-, Kirchenorgel- und puren Klavier-Passagen anreichert. Gut acht Minuten mit atemberaubenden Stimmungs- und Tempowechsel. Die Fans skandieren mit rhythmischem Klatschen und "Hey Hey Hey”-Sprechchören.
Der Höhepunkt - zumindest für Progressive Rock-Anhänger - liegt aber in der sechsteiligen Suite "Plague Of Ghosts" vom "Raingods With Zippos"-Album. Wie sich das gehört mit über 20 Minuten eine LP-Seite füllend. Zu Beginn spookige Keyboards, "I found a home in the darkness", raunt Fish, dann heult Robin Bolts Gitarre mit Wah-Wah-Klängen auf, Elisabeth Troy Antwi stimmt mit ein und taucht mit Fish noch tiefer in die Dunkelheit ein: "Digging deep in the darkness". Dann eine gesprochene Passage, expressionistisch-assoziativ, vom Keyboard plätscherndes Wasser, das Biotop der mysteriösen "chocolate frogs". Steve Vantsis' abgrundtiefer Bass pulsiert, dann ein Scheinwerfer auf die Discokugel und der Saal ist voller Sterne. Winken und Zurückwinken zu "Waving The Stars". Dann tanzen die Regengötter: "Raingods with Zippos/A tin man rusts away and slowly falls apart/Raingods with Zippos/And all he leaves behind a bleeding broken heart". Man muss das nicht verstehen, Raum für eigene Gedanken bieten sich allemal, und so funktionieren gute Lyrics ja auch. Beim Schlussteil des Monsterstücks singen alle beseelt "We can make it happen", auch noch, als die Musiker einer nach dem anderen die Bühne verlassen haben. Zu "Gentleman's Excuse Me" sind Fish und Simmonds zurück, nur Klavier und Stimme, ein Durchatmen nach dem "Plague Of Ghosts”-Brocken.
Fish trägt eine grün-blaue Schotten-Karo-Hose, sonst aber ist sein Erscheinungsbild eher der Gegenwurf eines durchtrainierten Rockstars. Doch gerade sein unprätentiöses Auftreten und der feine Humor machen Spaß. Mit einer deutschen Frau verheiratet, parliert er in einer Mixtur aus Deutsch und schottischem Dialekt: von einem Spiegel über dem Bett, dessen Sinn man mit 22 eher gesehen habe als mit 66 ("Das ist mein Arsch?!"), von seiner in diesem Jahr eingetretenen Rentenberechtigung, von dem depressiv machenden Trump-Sieg verbunden mit einem dringlichen Wahlaufruf und von herrlichen deutschen Wörtern wie "Zeitgeist" oder "manchmal", deren sperrige Gravität er liebe. "Weltschmerz" nannte er dann sogar sein letztes Album und der Titelsong schließt sich an: "Please let me introduce myself, I'm simply a man of our time, confused and bewildered. I seem to live without reason nor rhyme, betrayed by a system I'd given up trying to change. Let me tell you now for nothing, I'm back in the game." Die Befreiung aus dem düsteren Loch, vielleicht auch die Freude auf den neuen Lebensabschnitt. Und die vermittelt sich auch auf der Bühne: Fish tanzt, streckt die Arme in die Höhe, animiert das Publikum zum Mitklatschen, zieht sich ein Tuch über den Kopf und befragt das Publikum hinsichtlich der Stabilität ihrer Beziehung: "Zwanzig Jahre, really?!" Und dann zelebriert er einen Akt der Hygiene: 1. Brille putzen, 2. Schweiß vom kahlen Schädel wischen, 3. Nase schnauben und 4. das benutzte Taschentuch als Fan-Souvenir anbieten. Da greift man lieber nicht zu.
Fish konstatiert, dass sich mancher fragen könnte: "Was spielen die da? Auf welchem Album war das?" Und tatsächlich ändert sich die Setlist von Konzert zu Konzert. Statt "The Plague Of Gods" gibt es mitunter das Erster-Weltkrieg-Epos "The High Wood" vom vorletzten Album "The Feast Of Consequences", dessen Titelsong in Hannover erklingt, als galoppierender Rocksong mit poppigem Refrain. Diesmal dabei sind auch "Vigil", "Credo", "Big Wedge", "Pipeline" und "Shadowplay", vor allem aber das wunderbare "Cliché". Zu "Just Good Friends" werden die Bandmitglieder vorgestellt, alte Freunde, die Fish noch einmal zusammengetrommelt hat. Gavin Griffiths erweist sich als prima Drummer, Bolt steuert manch gen Himmel strebendes Gitarrensolo bei und Antwi bringt gesanglich den Soul-Touch ein und erntet nach einem Duett mit Fish eine tiefe Verbeugung des Meisters.
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