Nach einer formvollendeten Begrüßung der 1.600 Gäste des Capitol steigen Tocotronic mit "Der Tod ist nur ein Traum" ein. "Weine nicht, ich wart' auf dich, du kannst mir fast vertrau'n" singt Lowtzow in versöhnlichem Ton, bedächtig den wohlartikulierten Worten nachsinnend. Aber die Sicherheit ist trügerisch, denn er verspricht nicht, dass man ihm fest, sondern fast vertrauen könne. Inspiriert sein mag das Lied vom Tod des Theaterregisseurs René Pollesch, mit dem Lowtzow befreundet war. Und als Antwort auf den ersten Song folgt wie auf dem "Golden Years"-Album "Bleib am Leben". Aufgeräumter Indie-Pop. In ihrer textlichen Offenheit wollen die Lieder erobert werden, versehen mit individuellen Deutungen. Das gilt allemal für "Wie ich mir selbst entkam", im Grunde eine Kurzgeschichte, wie Lowtzow sagt, die den Ausbruch aus dem inneren Gefängnis erzählt. Geschildert aus einer Ich-Perspektive zwar, doch als Identifikationsangebot gestaltet. Ein fast perfekter Popsong, der gebrochen wird durch das Aufheulen der Gitarre in Gebhards kurzem Solo, dem Sound der Seelennot.
Für zwei Songs greift Lowtzow zur Akustikgitarre. "Ich tauche auf" stammt aus der Corona-Zeit und erhält durch Gebhards Morricone-Gitarre eine schwebende Weite. "Golden Years" zeigt eine Heimfahrt ins Ruhrgebiet: "Die Menschen in der zweiten Klasse erscheinen jetzt im goldnen Licht; der Dampf aus meiner Kaffeetasse, steigt mir ins Gesicht". Oder ein ironisch-melancholischer Blick in die Zukunft auf die goldenen Jahre der Best-Agers – schließlich sind die Musiker inzwischen alle Mitte 50. "Bye Bye Berlin" heißt es im gleichnamigen Song, "dein Berghain brennt, Feuer verzehrt sein Fundament". Man könnte sich erinnern an alternde Musikjournalisten, die sich immer noch cool in der Clubszene verankert sehen und in ihren Magazinen von ihren Besuchen schwärmen. Und die Freilichtbühne in Recklinghausen, "wo die öden Winde wehen", als Kontrast zum Berliner Berghain.
Ab Mitte des Konzerts mit "Let There Be Rock" aus dem Jahr 1999 schauen Tocotronic verstärkt auf die erste Hälfte ihres Schaffens zurück. Verzahnt mit "Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen" und "Drüben auf dem Hügel" wird durchgerockt und von den Fans textsicher mitgegrölt. "Das Geschenk" erhält ein langes Intro, in dem Gebhard mit an- und abschwellenden Wah-Wahs seine Gitarre lodern lässt, während im ersten Zugabenblock mit "Hi Freaks" gleich weitergerockt wird. Das ist dann oft das Unisono-Gitarren-Geschrammel der Frühzeit, das die Fans der ersten Stunde frenetisch bejubeln, das Freunde des Indie-Pops aber weniger goutieren. Für "Explosion" und "Freiburg" werden die Musiker noch zwei weitere Male mit Zugabe-Rufen auf die Bühne geholt. Auch wird reichlich Gitarren-Dynamit gezündet. Psychedelisch angerauter Garagenrock, Müllers Bass drückt auf den Brustkorb und lässt die Trommelfelle flattern. Zank, der’s auch filigraner kann, schlägt kräftig auf die Drums.
Das hat alles großen Unterhaltungswert, dennoch vergessen Tocotronic auch die politische Botschaft nicht. "Denn sie wissen, was sie tun", als zweiter Protestsong gleich nach "Sie wollen uns erzählen" gespielt, kritisiert die "Niedertracht" der AfD-Politiker*innen, deren hassgesteuerter Affektpolitik man nur mit Küssen auf den Mund begegnen könne. Und ja, mit vorbildhafter Freundlichkeit: Lowtzow verbeugt sich immer wieder, dankt mit Handküssen und formt Herzchen, entschuldigt sich, wenn er zur Wasserflasche greift, lobt Hannover als Rock-City. Und genießt mit großen Gesten die Euphorie des Publikums. Zur Band-Vorstellung werfen sich die Musiker Kuscheltiere zu, wie das Wollknäuel bei elterlichen Vorstellungskreisen im Kindergarten.
Auch wenn in Tocotronic-Songs oft der Hass auftaucht ("Ich hasse es hier") und der Protagonist der Welt die kalte Schulter zeigt ("Aber hier leben, nein danke"), so schimmert immer wieder das Motiv der Sehnsucht durch. Nach einer besseren Welt, einem freundlichen und toleranten Umgang miteinander. Sollten wir nicht alle ein bisschen "tocotronic" sein?