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06.05.2022
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Cassandra Jenkins - (On Overview) On An Overview On Phenomenal Nature

Cassandra Jenkins - (On Overview) On An Overview On Phenomenal Nature
Ba Da Bing
Format: LP

Es gibt Platten, bei denen man sich schon nach ein paar Takten sicher ist, dass sie einen den Rest des Lebens begleiten und begeistern werden. Cassandra Jenkins' "An Overview On Phenomenal Nature", veröffentlicht vor 15 Monaten in den Untiefen des Lockdowns, ist solch eine Platte. "I'm a three-legged dog / Workin' with what I got / And part of me will always be / Looking for what I lost" singt die in New York heimische Singer/Songwriterin gleich zu Beginn des Album-Openers "Michelangelo" zum wunderbar naturbelassenen Sound einer einzelnen Stromgitarre, die ein wenig klingt, als hätte Neil Young die Finger im Spiel, und sorgt damit nicht nur sofort für Gänsehautfeeling, sondern gibt auch von Beginn an brillant die Richtung vor, die sie mit dem Rest der LP einschlägt. Es geht es um Verlust, um das Verlorensein und andere Tiefschläge im Leben, doch Jenkins scheint stets gewillt, die negativen Schwingungen in etwas Positives zu verwandeln. Klanglich hat das Album deshalb etwas ungemein Tröstliches, Beruhigendes, Berührendes, wenn Jenkins, Produzent Josh Kaufman und fantastische Mitstreiter wie Drummer JT Bates, Saxofonist Stuart Bogie oder Bassistin Annie Nero dafür sorgen, dass die ausgetüftelten Arrangements im Dunstkreis von Folk und Ambient-Pop bisweilen klingen wie liebevolle Umarmungen. Das gilt für ganz besonders für "Ambigious Norway", die meditative Hommage an den 2019 aus dem Leben geschiedenen Musiker und Poeten Dave Berman, in dessen Purple-Mountains-Tourband Jenkins hätte spielen sollen, während sie mit der Spoken-Word-Großtat "Hard Drive" ein goldenes Händchen für raffiniertes Songwriting beweist, wenn sie ihre philosophischen Grübeleien geistreich als eine Reihe von beiläufigen, fast schon surrealen Konversationen mit einer Security-Dame des New Yorker Metropolitan Museum of Art, einem Buchhalter in einem Restaurant in Topanga, einem Fahrlehrer namens Darryl und einer Wahrsagerin mit Edelsteinaugen auf einer Geburtstagsfeier präsentiert, als gäbe es keine leichtere Übung für sie. Am Ende hat Jenkins so ein Album erschaffen, das von persönlichen Tragödien und dem Wirrwarr unserer Zeit inspiriert ist, klanglich aber nicht auf Chaos und Lautstärke setzt, sondern im Gegenteil mit leisen Tönen das perfekte Ambiente zum Nachdenken und Sich-Fallenlassen bietet.

Ließ Jenkins mit "An Overview On Phenomenal Nature" tiefe Einblick in ihr Seelenleben zu, ist das clever betitelte Schwesteralbum "(An Overview On) An Overview On Phenomenal Nature", das nun endlich auch auf Vinyl erscheint, eher ein künstlerischer Blick hinter die Kulissen. Mit bislang unveröffentlichten Songskizzen, Demos und später verworfenen Aufnahmen kann man hier an der Entstehung des fraglos ergreifendsten Albums des letzten Jahres teilhaben, sich von zunächst klanglich vollkommen anders interpretierten Songs wie "New Bikini" and "Hailey" überraschen lassen, sich in der seelenruhig fließenden Instrumentalversion von "Ambigious Norway" verlieren oder sich "American Spirit" hingeben, dem einzigen Lied, das auf dem letztjährigen Album nicht zu finden war, und das doch auf schwer zu erklärende Art all die Magie der LP in weniger als fünf Minuten zu bündeln scheint. Ein Stück weit unterstreicht diese Songsammlung zwar, dass "An Overview On Phenomenal Nature" erst bei der Arbeit im Studio endgültig Form angenommen hat, dass sich oft erst im Aufnahmeprozess kluge Geistesblitze in sagenhafte Songs verwandelt haben, in ihrer Ursprünglichkeit aber nehmen diese Versionen all diejenigen mit auf eine spannende Entdeckungsreise mit, die fasziniert von der Einzigartigkeit des letztjährigen Meisterwerks hinter das Geheimnis seiner sanften Schönheit kommen wollen.


-Carsten Wohlfeld-


 

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