Wenn die Zuwachsraten in Europa doch nur überall so gut wären wie bei Rockoper-Projekten... Doch auch wenn Ayreon-Mastermind Arjen A. Lucassen mit "The Human Equation" auf einen mit u.a. Avantasia, Genius, Nostradamus, Leonardo und ganz aktuell Aina bereits Fahrt beträchtlich aufgenommen habenden Transrapid springt, bleibt er doch gänzlich frei vom Vorwurf des Trittbrettfsurfens, denn die Konzeptalben, die er spätestens seit "Into The Electric Castle" veröffentlicht hat, waren ja auch stets dem opernhaften Genre schon äußerst nahe, wenn auch vielleicht die trockeneren Rezitative, solistisch verzierungsreichen Arien und der Ensemblegesang (Duett, Terzett...) noch nicht so stilbildenden Charakter hatten wie auf "THE".
Die zugrunde liegende Story ist schnell erzählt: James LaBrie (Dream Theater, hier stimmlich wieder völlig überzeugend, wie auch schon auf der letzten DT-Deutschlandtournee) als eiskalten J.R. Ewing-Typ haut es nach einem zunächst rätselhaft bleibenden en Autounfall ins Koma und Krankenhaus, wo sich alsbald seine Frau (Marcela Bovio, mexikanisches Talent unter den Ayreon-Fans rekrutiert) sowie sein bester Freund (Arjen selbst) um sein Einzelzimmer- / Chefarztbehandlungs-Bett scharen - da ahnt man doch schon einiges, wenn man in seinem Leben auch nur EINE TV-Soap abbekommen hat...
Schwer originell wird das Opus nun aber dadurch, dass Arjen alsbald in der Art eines mittelalterlichen Allegorien- oder Mysterienspieles auch die folgenden (Un-)Tugenden oder Wesenszüge / Werte Furcht sich um das Bett scharen und um Kontrolle um den Protagonisten kämpfen und singen lässt: Liebe (Heather Findlay, die propere Folkfee von Mostly Autumn), Leidenschaft (Irene Jansen, bekannt und beliebt von der Star One-Tournee), Vernunft (Eric Clayton, das singende Wort zum Sonntag von Saviour Machine), Stolz (grandios: Magnus Ekwall, The Quill), Furcht (furchterregend: Mikael Akerfeldt, Opeth), Qual (anbetungswürdig: Devon Graves, ex-Psychotic Waltz, Dead Soul Tribe; allein für dessen Beiträge lohnt die Doppel-CD schon), Wut (ideal besetzt mit Devin Townsend, u.a. SYL).
Sinnigerweise ist das die Zeit nach dem Unfall abbildende Progepos in die verstreichenden Tage gegliedert. Nach einem vom Intro zu "Operation Mindcrime" der Pioniere Queensryche nicht völlig unbeeinflussten Einstieg geht mit Day 2 eine schon durch Irene Jansens Chorgesang nahezu vollkommen nach Star One klingende Sonne auf. Day 3, ein erster Höhepunkt, zeigt uns, wie sich Qual und Wut in ureigener Weise um das Unfallopfer "bemühen", bis in einem wunderbar folkigen Zwischenspiel die Liebe einschreitet. Day 4 ist ein wunderbares Stück 70er Jahre Progrock mit dezenten Anleihen an Jesus Christ Superstar bei den weiblichen Vocals (Marcela Bovio). Am Day 5 hat Stolz seinen großen Auftritt, die Musik changiert von Britfolk zu hartem Progmetal der Marke Dream Theater.
Ab dem sechsten Tag wird es inhaltlich wieder wirklich spannend im Musikdrama durch Rückblicke auf Kindheit, prügelnden Vater (stark Mike Baker von Shadow Gallery), mobbende Schulkollegen, Tod der Mutter etc., doch soll hier von der Entwicklung der Geschichte nicht zu viel verraten werden, die zu erleben und sich unter dem Kopfhörer zu erarbeiten sich wirklich mal lohnt!
Arjen bedient selbst alle Gitarren, Mandoline, Bass, etliche Keyboard- und Percussion-Passagen. Dennoch ist die Gästeliste auch instrumental schlicht beeindruckend: Weiteres, meist analoges Tastenwerk wird von Oliver Wakeman (Sohn von Rick W.), Martin Orford (u.a. IQ), Ken Hensley (ex-Uriah Heep) sowie Joost van den Broek (Sun Caged, Star One) beigesteuert. Die prächtigen Folk-Beiträge erreichen ihr teils schwindelerregendes Niveau durch Szenegrößen wie Marieke van der Heyden, Robert Baba und Jeroen Gossens von den legendären Flairck oder John McManus (von Celtus, dessen Querflötenparts auch von Ian Anderson nicht zwingender gebracht worden wären.).
In Summe: Das ist die neue Messlatte für Rockopern. Unverzichtbar wenn auch vermutlich teils verstörend u.a. für Fans von Stare One, Dream Theater, Shadow Gallery, Rick Wakeman, Opeth, Dead Soul Tribe / Psychotic Waltz, Devin Tonwnsend, Flairck, Celtus, Jethro Tull, David Bowie, Saviour Machine...