Big Thief sind eine Band, die seit jeher nur eine Richtung kennt: vorwärts. Schon früh in ihrer kometenhaften Karriere waren die Konzerte der vier Amerikaner nicht wie üblich allein Bühne für die aktuelle Platte, sondern stets auch gleich für die folgende, für den nächsten Schritt in der rasanten Entwicklung dieser vielleicht spannendsten Band des Indie-Universums unserer Tage. Durch die COVID-19-Pandmie der Chance beraubt, die eigene Geschichte live vor Publikum weiterzuschreiben, suchten sich Big Thief neue Herausforderungen abseits der Bühne und fanden sie bei Sessions in Upstate New York, Südkalifornien, Arizona und Colorado, die mit betont unterschiedlichen Charakteristika in puncto Umfeld, Klang und Stimmung zu einer solch kreativen Explosion führten, dass das fünfte Album von Sängerin/Gitarristin Adrianne Lenker, Bassist Max Oleartchick, Gitarrist Buck Meek und Drummer James Krivchenia ein 20-Song-Doppelabum mit rund 80 Minuten Länge werden musste.

Allerdings sind es nicht nur die schieren Dimensionen von "Dragon New Warm Mountain I Believe In You" die beeindrucken, denn das Werk ist musikalisch genau so spleenig vollgestopft, wie es der seltsam-ausufernde Titel verspricht. Scheinbar losgelöst von Zeit und Raum widmen sich Big Thief hier ihrem "Was wäre, wenn...?"-Credo, bis sie am Ende zwischen kaleidoskopischem Erfindungsreichtum, hinreißender Schönheit und augenzwinkerndem Humor weit jenseits dessen landen, was sie als Band zuvor ausgemacht hat. Mit James Krivchenia auf dem Produzentenstuhl und erstklassigen Tontechnikern - Shawn Everett, Sam Owens Griffith (alias Sam Evian), Scott McMicken von Dr. Dog und dem von den letzten Big-Thief-Platten bekannten Dom Monks - an seiner Seite, wird auf dem Album das oft informelle Setting der Sessions genauso spürbar wie die unbändige Freude der vier Musikerinnen und Musiker, die eigenen Grenzen neu auszuloten und Lenkers Gedanken zu lähmender Angst und toxischen Beziehungen in ein neues Licht zu rücken.

Laurel-Canyon-Folk, (nur) auf den ersten Blick fast parodistisch anmutende Country-Rock-Nummern und Freistil-Stücke, bei denen zwischen Psychedelik, Weltmusik-Anleihen und einem Schuss quecksilbrigem 80s-Pop alles erlaubt scheint, sorgen ebenso wie Americana-Rock-Songs mit Jam-Session-Vibe dafür, dass "Dragon New Warm Mountain I Believe In You" bisweilen ein wenig an das "White Album" der Beatles erinnert: Ein Album, auf dem alles kann und nichts muss, eine Platte zudem, die trotz vier leiser, solistischer Momente das Spotlight von Lenker nimmt und (verdientermaßen) auf das komplette Quartett richtet. Lose Skizzen für eine aufregende Bandzukunft oder imposanter Ausdruck künstlerischer Unbestechlichkeit? Diese Platte ist beides!