"Stillstehen" ist ein Wort, das im Wortschatz von Rhiannon Giddens nicht zu existieren scheint. Die Veröffentlichung ihres letzten echten Solowerks "Freedom Highway" liegt zwar schon sechs Jahre zurück, doch untätig war die 46 Jahre alte, in den letzten Jahren mit Preisen und Ehrungen geradezu überhäufte Singer/Songwriterin und Banjo-Virtuosin aus North Carolina in der Zwischenzeit trotz Pandemie natürlich keinesfalls: Zwei gemeinsame Platten mit dem Italiener Francesco Turrisi, eine Kollaboration mit Allison Russell und anderen für "Songs Of Our Native Daughters", Auftritte als Schauspielerin in der Hit-Serie "Nashville" und die Veröffentlichung einer Reihe von Kinderbüchern sind nur die Spitze des Eisbergs, und trotzdem ist ihr nun erscheinendes neues Album unter eigenem Namen, "You're The One", das erste in ihrer langen, illustren Karriere, das ausschließlich eigene Songs enthält.

Trotz dieser Fokussierung legt sich Giddens klanglich auf "You're The One" nie fest. Vielmehr streift sie Blues, Jazz, Cajun, Country, Gospel und Rock - stets auf der Suche nach dem magischen Ort, wo all diese unterschiedlichen Ausprägungen typisch amerikanischer Musik organisch zusammenfließen. Dem Banjo gilt dabei auch weiterhin ihr Hauptaugenmerk, wenngleich sie keine Traditionalistin im engeren Sinne ist. Lieber sucht sie nach neuen Kontexten und Farbschattierungen für ihr Instrument, ohne dabei seine geschichtsträchtige Vergangenheit zu vergessen.

Das Ergebnis sind betont lebensbejahende Songs, mit der sich Giddens nicht scheut, ihre Folk-Wurzeln in Popgefilde zu tragen. Dass sie hier und da übers Ziel hinausschießt, gehört praktisch zum Konzept, zur Rastlosigkeit, zum unbändigen Spaß am Ausprobieren. Produziert von Jack Splash (Kendrick Lamar, Solange, Alicia Keys, Valerie June) und eingespielt mit einem vielköpfigen Ensemble aus langjährigen Mitstreitern wie Francesco Turrisi, Multiinstrumentalist Dirk Powell, Bassist Jason Sypher und dem kongolesischen Gitarristen Niwel Tsumbu in den legendären Criteria Studios in Miami, wo zuvor schon Bob Dylan und Eric Clapton Meisterwerke aufnahmen, spannt sie so einen weiten Bogen von seelenvollen Songs, mit denen sie das Erbe von Aretha Franklin ins Hier und Jetzt trägt, bis zur Storytellingnummer "Another Wasted Life", bei dem sie im Geiste Nina Simones an die tragische Geschichte von Justizopfer Kalief Browders erinnert. Weil es mit "Who Are You Dreaming Of" auch einen Song gibt, der klingt wie aus dem Great American Songbook gepflückt, und sie mit "You Put The Sugar In My Bowl" auch ihr Händchen für authentisches Roots-Feeling einmal mehr unter Beweis stellt, steht am Ende fest: Immer in Bewegung zu sein, steht Rhiannon Giddens ganz ausgezeichnet.