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29.09.1999
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STEREOLAB

Let There Be Pop

Stereolab
"Cobra And Phases Group Play Voltage In The Milky Night" ist der Titel des neuen Stereolab-Albums, das Mitte September erscheint und von dem Sextett am 20.9. auch auf deutschen Bühnen live vorgestellt werden soll. Es wird höchstwahrscheinlich nicht nur Begeisterungsstürme auslösen, denn erstmals in ihrer achtjährigen Karriere geht die einflussreiche englisch-französische Kult-Band einen Schritt zurück. Nach dem eher elektronisch geprägten Album "Dots And Loops" kehren sie nun zum Sound der krautrockenden '96er Platte "Emperor Tomato Ketchup" zurück. Das Konzept also ist nicht neu, aber einfach: Die Weitsicht der teutonischen Avantgarde-Gurus Can, das unfehlbare Melodiengespür des 60s Easy-Listening-Sounds, die moderne Eleganz der Chicagoer Schule kommen hier zusammen. Wer nun aber glaubt, Stereolab könnten das Wort "Krautrock" nicht mehr hören, irrt, wie uns ein äusserst gut gelaunter Tim Gane, Songschmied und Gitarrist von Stereolab, erklärt, als wir ihn vor dem Konzert in der Schorndorfer Manufaktur beim Sonnenbaden treffen.

Tim: "Gerade in England ist Krautrock noch sehr, sehr angesagt. Allerdings hat sich das erst in den 90ern ergeben. Zwar mochten alle Kraftwerk und ein bisschen auch Can, aber Bands wie Neu! oder Faust sind erst sehr spät in Grossbritannien bekannt geworden."

Gästeliste: Stimmt. Wo früher alle Tortoise zitierten, reden die Leute jetzt wieder von Can, weil sie gemerkt haben, dass sich Bands wie Tortoise selbst auf die deutsche Krautrock-Szene bezogen haben.

Tim: "Ich finde aber, Tortoise sind mindestens genauso gut wie Can. Und wir sind auch besser als Neu!, weil wir uns viel mehr Freiheiten nehmen, ganz besonders live. Es gibt immer wieder vergangenheitsverliebte Leute, die meinen, wir können nie so gut sein wie Neu!, aber das sehe ich anders. Ich liebe Musik, die spontan und lebendig, ist und das können dir alte Sachen einfach nicht geben."

Gästeliste: Obwohl Stereolab ohne Zweifel eine der ambitioniertesten Bands der 90er Jahre sind, verändern sie sich von Album zu Album relativ wenig. Tim, du hast vor einigen Jahren gesagt, es sei notwendig, ein Album nicht zu einem grossen, endgültigen Statement aufzublasen. Wo andere Bands alle drei oder vier Jahre eine Platte machen, mit der sie dann für ebenso lange Zeit leben müssen, würdet ihr lieber alle sechs bis zwölf Monate neues Material zusammenstellen, um Langeweile zu vermeiden. Stimmt das heute noch?

Tim: "Man sollte nicht in Alben rechnen. Schliesslich geht es um einen kreativen Prozess, und der muss ja nicht zwangsläufig mit einer Platte abgeschlossen sein. Vielleicht reicht es für die zweite Hälfte eines Albums, ein paar Singles und den Beginn einer nächsten LP. Das ist eine kontinuierliche Entwicklung. Unsere Musik kann man nicht nach Alben, sondern nur nach Zeitabschnitten zusammenfassen. Natürlich versuchen wir mit jeder neuen Platte voranzukommen, aber mir ist die allgemeine Philosophie zuwider, dass jedes neue Album grösser, besser komponiert und besser produziert sein muss. Ich frage mich oft, woher diese Sichtweise überhaupt kommt. Es gibt keine andere Kunstform, die so beurteilt wird."

Gästeliste: Das klingt ja fast wie ein Zugeständnis an die Kritiker, die in dem neuen Album eher Rück- als Fortschritt sehen. Die Parallelen zwischen dem neuen Album und dem '96er "Emperor Tomato Ketchup" sind nun wirklich nicht von der Hand zu weisen.

Tim: "All unsere Alben weisen grosse Unterschiede auf. Man spürt zwar sofort, dass es die gleiche Band, die gleichen Leute, die gleichen Ideen sind, aber wir versuchen, jedes Mal eine neue Herangehensweise zu finden. Das passiert auch mit Absicht, sonst wäre es zu langweilig. 'Dots And Loops' haben wir alles mit Computern gemacht. Wir hatten das noch nie zuvor gemacht. Einiges davon war gut, andere Aspekte dieser Arbeitsweise haben mir überhaupt nicht gefallen. Genau das reflektiert nun die neue Platte. Dieses Mal haben wir alles live aufgenommen und dann erst mit dem Computer nachbearbeitet. Aber natürlich ist der Aufnahmeprozess nur ein Aspekt. Die Ideen, die du für die Songs einbringst, sind schliesslich mindestens genauso wichtig."

Gästeliste: Ihr habt 50 Songs für das neue Album geschrieben, 25 davon wurden letztendlich aufgenommen, und 15 Songs landeten schliesslich auf "... Milky Night"...

Stereolab
Tim: "Die Leute denken immer, bei uns liefe alles ganz geplant und in geregelten Bahnen ab. Das stimmt nicht. Das ist wie mit den Filmen von Godard. Sie scheinen sehr anarchistisch, sehr free-form zu sein, aber sie haben sehr starke Ideen, die sich als roter Faden durch die Filme ziehen und die Persönlichkeit dahinter reflektieren. So etwas fehlt mir bei den meisten Bands. Sie scheinen keine Ahnung zu haben, was sie wollen, und auch keinen Einfluss darauf, was mit ihren Ideen geschieht. Wir dagegen begeben uns bewusst in Situationen, in denen musikalisch sehr viel passieren kann."

Gästeliste: Thema Kommerz. Neben euren Veröffentlichungen beim Majorlabel Elektra gibt es ausserdem auch noch jede Menge Platten auf diversen anderen Labels, vor allem aber natürlich auf Duophonic, der bandeigenen Firma. Wie entscheidet ihr, wo was veröffentlicht wird?

Tim: "Wenn wir eine Platte für Elektra aufnehmen, ist es 'das nächste Album', und wir benutzen dafür den Vorschuss, den sie uns zahlen. Zwischendurch machen wir Platten mit unserem eigenen Geld, damit hat Elektra nichts zu tun. Sie könnten auch gar nicht so viele Platten veröffentlichen, wie wir wollten, weil sie viel zu gross und bürokratisch sind."

Gästeliste: Und vielleicht auch deshalb, weil es den Majors in erster Linie ums Geldverdienen geht und eventuell noch um die reine Unterhaltung, keinesfalls aber um 'Kunst'?

Tim: "Wenn Entertainment die raison d'etre ist, finde ich das bizarr. Die Musik, die du machst, sollte immer von dir selbst ausgehen. Wenn du nur das schreibst, von dem du glaubst, dass es andere unterhält, wäre das nichts für mich. Ich interessiere mich für Songstrukturen und Rhythmen, und für mich persönlich ist das auch unterhaltsam. Allerdings mache ich es in erster Linie für mich selbst."

Gästeliste: Als Fazit könnte man also sagen: Stereolab machen nicht nur tolle Musik, sie sind auch äusserst sympathische und bescheidene Menschen. Tim, wie war das gleich mit dem kommerziellen Erfolg?

Tim: "Oft kommen Leute zu uns und fragen uns, ob wir uns schlecht fühlen, weil wir noch nie einen Hit hatten. Nein! Überhaupt nicht. Ich wüsste auch keinen Grund, warum wir versuchen sollten, einen Hit zu produzieren. Für die Leute scheint das eines der wichtigsten Ziele zu sein, wenn du in einer Band bist. Wir brauchen ihn nicht. Wir sind bei einem Major, werden aber nicht unter Druck gesetzt, wir machen genau die Musik, die wir klasse finden, und wir können davon gut leben. Natürlich sind wir keine reichen Popstars, aber wir brauchen auch nicht mehr Geld. Am Ende des Tages machen wir aber immer noch Popmusik. Auch wenn wir uns manchmal ziemlich weit davon entfernen, kommen wir doch immer wieder zu ihr zurück."

Weitere Infos:
www.maths.monash.edu.au/~rjh/stereolab
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Carsten Wohlfeld-

Aktueller Tonträger:
Cobra And Phases Group Play Voltage In The Milky Night
(Eastwest)
 

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