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05.10.2012
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CHRIS BROKAW

Inspiration auf Reisen

Chris Brokaw
Eigentlich ist es kein Wunder, dass es sieben Jahre gedauert hat, bis Chris Brokaw mit der nun erscheinenden brillanten neuen LP "Gambler's Ecstasy" den regulären Nachfolger zu seinem 2005er-Rock-Album "Incredible Love" fertigstellen konnte: Der Mann hatte einfach zu viel zu tun! Mehr als zehn Platten hat er seitdem veröffentlicht (EPs, Singles und Werke als reiner Sideman noch nicht einmal mitgerechnet), und ganz nebenbei begleitete er auch noch Evan Dando sowie Thurston Moore auf Tour und absolvierte nicht nur einige Reunion-Konzerte mit seiner 90er-Jahre-Band Come, sondern ging auch mit seiner für einige letzte Konzerte noch einmal zusammengekommenen ersten Gruppe Codeine auf weltweite Gastspielreise. Trotzdem hatte er die Idee für "Gambler's Ecstasy" schon lange im Kopf, wie er Anfang September im Gaesteliste.de-Interview verriet.

"Ich habe 2008 angefangen, das Album aufzunehmen", erinnert er sich. "Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch längst nicht alle Songs geschrieben, aber ich wollte schon mal mit dem Aufnehmen anfangen. Eine meiner Ideen basierte auf dem großen Spaß, den es macht, ins Studio zu gehen und lediglich ein, zwei Songs aufzunehmen und abzumischen. Ich dachte mir, wenn ich das mehrfach mache, würde am Ende ein Album dabei herauskommen. Letztlich ging das Ganze dann allerdings doch etwas anders vonstatten - obwohl ich immer noch gerne eines Tages ein Album auf diese Art aufnehmen würde." Die Initialzündung waren die Songs "The Appetites", "Exemption" und ein dritter namens "Eye Of A Host", der allerdings auf dem fertigen Album fehlt, für die Brokaw zwei ganz spezielle Gastmusiker von Tortoise im Kopf hatte. "Ich wollte unbedingt ein paar Nummern mit Doug McCombs und John Herndon aufnehmen. Ich war damals zusammen mit Doug in einer Band (den inzwischen aufgelösten fFlashlights) und immer schon ein großer Fan von Johns Schlagzeugspiel. Also nahmen wir die Stücke auf, obwohl ich noch gar keinen Text für 'The Appetites' und 'Exemption' hatte. Gerade die Lyrics für 'The Appetites' haben mir ziemlich zugesetzt. Ich wollte damit ein unglaublich breites Feld abdecken und unbedingt alles richtig machen. Letztendlich bekam ich den Text erst hin, als ich von Boston nach Seattle umzog. Überhaupt entstanden viele Texte erst 2011 und wurden inspiriert von der Reise gen Westen selbst. 'The Appetites' ist musikalisch sehr abstrakt, aber dass der Text von der Reise handelt, gab ihm einen unerwarteten Fokus. Sobald ich diesen ersten Song nach meinen Wünschen fertiggestellt hatte, fiel mir der Rest leichter." Ein Großteil der Platte entstand letztlich in Texas und wurde dann im Frühjahr 2011 mit dem finalen Mix in Seattle fertiggestellt. "Ich weiß wirklich nicht, warum es so lange gedauert hat. Vieles war reine Unsicherheit, ich wollte unbedingt alles richtig machen", gesteht Brokaw. "'How To Listen' war der letzte Song, den ich fertigstellte, und ähnlich wie 'The Appetites' handelt er am Ende von etwas anderem als ursprünglich gedacht. Die ersten Zeilen, die ich dafür schrieb, handeln von einem Typen, den ich traf, als ich in New York lebte, am Ende handelt aber fast der komplette Song von meiner jüngsten Schwester bzw. er wird aus ihrer Perspektive gesungen. Das Stück zu komplettieren bedeutete, das Album fertiggestellt zu haben, nicht zuletzt deshalb, weil ich damit genug 'rockende' Songs zusammengetragen hatte." Ob der langen Anlaufzeit bleibt es nicht aus, dass Kenner des Brokaw'schen Oeuvres einige Songs bereits kennen. Zum einen von seinen Live-Shows der letzten Jahre, zum anderen, weil der Amerikaner manche Stücke bereits auf einigen seiner vielen limitierten Veröffentlichungen in Alternativversionen "antestete". Einen Kunstgriff, den er sich übrigens vor "Incredible Love" auch schon erlaubte. "Das ist einfach passiert. Ein Plan steckte jedenfalls nicht dahinter", erklärt der Musiker. "Außerdem klingt ja 'Criminals' nun vollkommen anders als bei der Veröffentlichung auf 'The Boarder's Door', deshalb nehmen mir die Leute das hoffentlich nicht übel." Auch schon länger bekannt, aber trotzdem sehr willkommen auf "Gambler's Ecstasy" ist die einzige Coverversion, Wussys "Crooked". Die Band aus Ohio erhielt durch Brokaws Vermittlung inzwischen sogar einen Plattenvertrag in Europa und bezeichnet Brokaw stolz als ihren Botschafter. "Ich fühle mich nicht als ihr Botschafter, wenngleich ich nichts dagegen habe, so bezeichnet zu werden", sagt Brokaw bescheiden. "Den Song habe ich mit aufs Album genommen, weil einfach kein Weg daran vorbeiführte. Er ist inzwischen ein Teil von mir!"

Lange Produktionszeiten bergen das Risiko, dass dem Ergebnis am Ende der Zusammenhalt fehlt. Nicht so bei "Gambler's Ecstasy", denn wenngleich das Album durchaus vielfältig ist, klingt es dennoch wie aus einem Guss. "Das hinzubekommen, hat viel Mühe gekostet", gesteht Brokaw. "Ich habe viel darüber nachgedacht, deshalb macht es mich sehr glücklich, dass du das so siehst. Die Platte ist etwas chaotisch, aber ich dachte mir: Das Leben ist auch chaotisch, warum sollte die Platte das nicht reflektieren? Ich war mir vollkommen darüber im Klaren, dass die Songs sehr unterschiedlich klingen, aber dennoch ergeben sie für mich ein Ganzes. Bob Weston hat die Platte gemastert und er sagte, dass das sehr schwierig gewesen sei, weil 'jeder Song anders klingt!' Er hat allerdings tolle Arbeit abgeliefert. Eine Reihenfolge zu finden, war ebenfalls schwer, und auch das hat alles noch ein wenig verzögert. Ursprünglich war 'The Appetites' als zweiter Song vorgesehen, zwischendurch hatte ich ihn auch mal als Schlussstück eingeplant. Letzten Endes ist er nun der letzte Song auf Seite 1, und das scheint ein guter Platz dafür zu sein. Ich habe mir mit dieser Platte wirklich Zeit gelassen. Immerhin habe ich in der Zwischenzeit diverse andere Platten herausgebracht. Ich wollte mir einfach sicher sein, dass alles perfekt ist!"

Brokaw hatte "Gambler's Ecstacy" von Anfang an als Nachfolger für seine letzte Rock-Platte "Incredible Love" konzipiert, nachdem seine zwischenzeitlichen Werke zumeist betont akustisch gehalten waren. Hier geht er zurück zu den Wurzeln des klassischen Indierock, der schon Come beeinflusst hatte. Brokaw liefert ein von seinem neu erwachten Interesse an Punk und Black Metal beseeltes Werk ab, das die düster-chaotische Jetztzeit textlich wie musikalisch reflektiert und gerade ob seines bisweilen bewusst ungeschminkten Lo-Fi-Sounds ein wenig an die seelenverwandten Shellac erinnert. Trotz der eher trostlosen Grundstimmung endet die Platte nicht ohne ein Licht am Ende des Tunnels. "Das letzte Stück mit Gesang ist 'Anacordia', das ich für sehr hoffnungsvoll halte", sagt Brokaw. "In gewisser Weise ist es ein Liebeslied, bevor das schön verwaschene Instrumental 'Richard And Vanessa In The Box' den Hörer nach draußen geleitet." Der letzte Titel deutet es schon an: Auf "Gambler's Ecstasy" greift Brokaw vermehrt auf echte Namen und Orte zurück, was seinen Texten zusätzliches Leben einhaucht. War diese neue Herangehensweise lediglich eine künstlerische Herausforderung, oder ist er einfach im Umgang mit offeneren Bezügen zu seinem Leben oder Menschen aus seinem Umfeld (wie seiner Schwester) inzwischen lediglich entspannter? "Ich bin einfach etwas relaxter", entgegnet er, "und ein bisschen verspielter. Mir ist aufgefallen, wie sehr ich es mag, wenn zum Beispiel Steely Dan Namen und Orte in ihren Songs verwenden. Mein Song 'Danny Borracho' ist einfach ein Wahnsinnsspaß: Er ist lustig und verspielt, obwohl er im Kern eigentlich ein zorniges Lied ist. Es ist für mich ziemlich aufregend, etwas zu singen, das diese Melange aus alberner Heiterkeit und Wut besitzt."

Neue Wege geht Brokaw auch mit der Covergestaltung. Praktisch all seine Veröffentlichungen seit "Incredible Love" zierten Fotos, die er selbst geschossen hatte, dieses Mal ist ein abstraktes Gemälde des Künstlers Paul Rucker aus Seattle auf dem Cover. "Ich wollte etwas anderes", sagt Brokaw bestimmt. "Ich wollte das Werk eines anderen. Hätte ich eines meiner Fotos benutzt, hätte ich mich eingeschränkt gefühlt. Ich hab vor einigen Jahren in einem Museum in der Schweiz ein Bild gesehen, das dem nahekommt, das ich nun verwendet habe: Bunt, belebt, chaotisch und doch auch formell. Das Bild, das ich damals sah, kam meiner Vorstellung sehr nahe, traf sie aber nicht vollkommen, denn darauf gab es eine Menge japanischer Schriftzeichen, die keinerlei Verbindung mit meiner Platte hatten. Einmal mehr musste ich warten, bis mir das Richtige begegnete. Als ich Pauls Gemälde dieses Jahr sah, wusste ich sofort, dass ich es verwenden musste. Ich bin mit Paul befreundet, wir haben sogar mal ein Konzert zusammen bestritten, denn er spielt auch Cello. John Engle hat das Foto auf dem Rückcover geschossen, als wir im Juni auf Tournee waren - also auch in letzter Minute! Das 'Lego'-Foto von mir hat ein 9-Jähriger gemacht, der ein großer Fan meiner 'Stories'-Platte ist. Er ist der Sohn des Mannes, der die Codeine-T-Shirts designt hat. Alles in allem war ich sehr glücklich, dass ich auf dieser Ebene Unterstützung von anderen erfahren habe und nicht alles in meiner Hand lag. Es wird übrigens auch endlich Chris Brokaw-T-Shirts geben, und auch da habe ich die Gestaltung jemand anders überlassen - und bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Ich hatte zuvor Jahre damit verbracht, über ein Design nachzudenken - ohne Erfolg. Dann habe ich meinen Künstler-Freund Curt Erlinger gefragt, und er hat eins über Nacht entworfen, mit dem ich sehr glücklich bin. Ich denke, daraus habe ich etwas gelernt!"

Weitere Infos:
www.chrisbrokaw.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Chris Brokaw
Aktueller Tonträger:
Gambler's Ecstasy
(Damnably/Indigo)
 

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