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19.05.2017
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EMILY BARKER

Mehr als erwartet

Emily Barker
Eigentlich war Emily Barker fein raus. Mit ihrer Band The Red Clay Halo hatte sich die australische Singer/Songwriterin über die Jahre eine stetig wachsende Fangemeinde erspielt, die begeisterten Pressevertreter zählten sie zu den spannendsten neuen Stimmen im "Modern Female Folk", und als dann noch ihr Song "Nostalgia" aus dem Jahre 2008 als Titelmusik für die so immens erfolgreiche TV-Krimireihe "Wallander" ausgewählt wurde, spitzten plötzlich auch Hörerschichten die Ohren, die für gewöhnlich um alles einen weiten Bogen machen, was nur entfernt mit dem Stichwort "Americana" in Verbindung gebracht werden kann. Doch dann kam vor einigen Jahren plötzlich ein wenig Sand ins Getriebe bei der sympathischen 36-Jährigen, die seit Langem in Großbritannien heimisch ist. Jetzt wagt sie mit ihrem neuen Album "Sweet Kind Of Blue" gewissermaßen einen Neuanfang.

Als sich The Red Clay Halo vor einigen Jahren auflösten, schien es eine Zeit lang so, als wüsste Emily nicht so recht, was sie mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen sollte. Zwar veröffentlichte sie seitdem einige feine Platten, doch auf dem live im Studio auf Tonband mitgeschnittenen Album "The Toerag Sessions" interpretierte sie lediglich ihre alten Lieder solistisch neu, und beim selbstbetitelten Album des Projekts Applewood Road, das in Rekordzeit mit nur einem einzigen Mirko aufgenommen wurde, teilte sie sich das Rampenlicht mit Amy Speace und Amber Rubarth. Bei ihren Solokonzerten spielte sie derweil viele neue Lieder, aber eine Vision für ein weiteres Soloalbum wollte sich trotzdem lange nicht herauskristallisieren. Erst als sie den Grammy-prämierten, für seine Arbeit mit Margo Price und Jason Isbell bekannten amerikanischen Produzenten Matt Ross-Spang traf, nahm ihre nun erscheinende feine neue LP endlich Formen an. Textlich inspiriert von verlorener Liebe, neuen Beziehungen und anderen herzzerreißenden Zwischenmenschlichkeiten, spielen Emilys Wurzeln im Folk und Blues auf "Sweet Kind Of Blue" nur eine nebensächliche Rolle, denn vor allem glänzt das in Memphis im berühmten alten Tonstudio des Sun-Records-Gründers Sam Phillips mit lokalen Sessiongrößen aufgenommene Werk durch opulent ausstaffierte Lieder mit unverkennbarem Südstaaten-Soul-Feeling und einem Hauch von Gospel, Jazz und Country zwischen Tradition und Moderne. Wie es dazu kam, verriet uns Emily, als wir sie unlängst zwischen einer Hometown-Show und der Hochzeit ihres Bruders in ihrer Heimatstadt Bridgetown im Südwesten Australiens erwischten.

GL.de: Emily, wie fühlst du dich im Frühjahr 2017 und was ist der größte Unterschied zu früher?

Emily Barker: Ich erfreue mich der Tatsache, dass ich inzwischen auf die Erfahrung vieler Jahre zurückgreifen kann. Das gibt mir - performerisch genauso wie in geschäftlicher Hinsicht - das Gefühl, dass ich inzwischen besser weiß, was ich hier eigentlich tue. Natürlich gibt es auch heute noch viele Unbekannte, aber im Umgang mit meinen Musikern und dem Team um mich herum habe ich schon das Gefühl, dass ich heute vieles von dem anwende, was ich über die Jahre gelernt habe. Gleichzeitig ist diese neue Platte ziemlich aufregend für mich, weil ich mich einem neuen Genre zugewendet habe und mit neuen Mitstreitern zusammenarbeite. Es gibt derzeit eine Menge Veränderungen und ich verspürte eine große Unsicherheit, aber jetzt, wo die neue Platte im Kasten ist, ist alles viel stärker konsolidiert, und deshalb, um auf die Frage zurückzukommen: Ich fühle mich derzeit großartig!

GL.de: Du hast "Sweet Kind Of Blue" in Memphis aufgenommen. Eine Australierin, die in England lebt und amerikanisch klingende Musik macht - wie passt das zusammen?

Emily Barker: Ich bin dort aufgewachsen, wo ich gerade sitze, in einem sehr entlegenen Teil im Südwesten von Australien, in einer kleinen Stadt namens Bridgetown. Hier leben etwa 2000 Einwohner, aber einmal im Jahr in gibt es ein internationales Blues-Festival und die Stadt schwillt auf 20.000 Menschen an. Zum Festival kommen seit jeher eine Menge amerikanische Künstler, und sie waren es, die mich überhaupt erst zur Musik gebracht haben. Ich schloss mich einer Highschool-Band als Sängerin an, und weil das Festival für uns alle eine Plattform darstellte, war es nur natürlich, dass wir uns dem Blues und dem Soul zuwendeten. Ich war damals ein Riesenfan von Aretha Franklin, aber ich musste erst nach Memphis reisen, um zu erfahren, dass sie tatsächlich dort geboren wurde!

GL.de: Was hast du zuvor mit Memphis verbunden, und entsprach die Stadt dem, was du dir in deiner Fantasie vorgestellt hattest?

Emily Barker: Ich war zwar vor den Aufnahmen zu meiner neuen Platte noch nie in Memphis gewesen, aber ich hatte Nashville, das Epizentrum der Countrymusik und Dreh- und Angelpunkt der gesamten Americana-Szene, schon des Öfteren besucht. In Nashville ist in der jüngeren Vergangenheit so viel investiert worden, dass die Stadt inzwischen ziemlich glamourös rüberkommt. Nach Memphis zu gehen, kam mir nie in den Sinn, bis ich meinen Produzenten Matt Ross-Spang kennenlernte, der zwar auch viel in Nashville arbeitet, aber vorschlug, meine Platte in Memphis aufzunehmen. Kaum war ich dort, habe ich mich sofort in die Stadt verliebt, vor allem, weil Memphis im Vergleich mit Nashville so bodenständig ist, aber trotzdem gewissermaßen geheiligter Boden des Blues, Soul und Rock'n'Roll ist. Gleichzeitig merkt man aber auch, das seine Glanzzeit lange vorbei ist. Nashville ist sehr zeitgeistig, Memphis dagegen fühlt sich an wie eine Stadt, der Amerika den Rücken gekehrt hat. Das hat sicherlich teils politische Gründe, denn in Memphis sind 60 Prozent der Bevölkerung schwarz und oft sehr arm. Für mich war das eine Dualität aus Nostalgie und einer Neugier auf all die Dinge, die es dort zu entdecken gibt, wenn man jenseits der offensichtlichen Touristenattraktionen sucht. Oft benötigt man allerdings die Hilfe von Einheimischen, um überhaupt erst Zugang zu erhalten.

GL.de: Hast du es als sportliche Herausforderung gesehen, dir so gewissermaßen einen neuen Kulturraum zu eigen zu machen?

Emily Barker: In gewisser Weise kann man das so sagen. Allerdings war es ja schon immer mein Ding, viel umherzureisen, wie man das halt so macht, wenn man europäische Vorfahren hat und sich irgendwann auf die Suche nach seinen Wurzeln macht. Ich bin schon ziemlich abenteuerlustig, aber in diesem Falle hatte ich das große Glück, Matt an meiner Seite zu haben. Er hält gewissermaßen den Schlüssel zur Stadt in Händen. Er ist noch sehr jung, aber auch sehr umtriebig. So konnte ich Memphis praktisch durch seine Augen kennenlernen.

GL.de: Du hattest für die neue Platte viel mehr Songs zur Verfügung, als du letztlich verwenden konntest. Haben sich die Lieder praktisch selbst ausgewählt? Wenn man eine Platte im Sound der amerikanischen Südstaaten aufnimmt, dann passen schließlich Songs über Skandinavien oder Australien wie "Stockholm Down Below" oder "Postcards To Bridgetown", die beide auf der LP fehlen, nicht so recht?

Emily Barker: Ich habe in den vergangenen Jahren unglaublich viele Songs geschrieben, und das ohne klare Richtung. Eine ganze Reihe dieser Lieder schrieb ich gemeinsam mit anderen, und ich experimentierte auch viel. Ich spielte Matt dann die etwa 30 Lieder vor, die ich hatte, und ihm gefielen vor allem die mit einem Blues- und Soul-Einschlag. Ihm schwebte vor, sie so wie die alten Burt-Bacharach-Nummern klingen zu lassen, mit großer Produktion, und er nannte auch Ann Peebles und Dusty Springfields "Memphis"-Album. Ich stürzte mich sofort auf diese Idee, denn damit hatte ich endlich eine klare Richtung. Obwohl ich schon so viele Lieder geschrieben hatte, setzte ich mich dann hin und schrieb "Sweet Kind Of Blue", "More!" und einige weitere der offensichtlich Soul-beeinflussten Nummern.

GL.de: "Sweet Kind Of Blue" zeichnet sich durch eine feine Balance zwischen dem Sound der erwähnten Klassiker und modernen Elementen aus, die aus der Platte mehr machen als nur noch ein weiteres um Authentizität bemühtes Retro-Album. War das schwierig zu erreichen?

Emily Barker: Nun, Matt war sehr umsichtig bei der Wahl der Musiker für die Sessions und er hat den Nagel dabei auf den Kopf getroffen, obwohl wir gar keine große Vorproduktion gemacht haben. Ich habe den Musikern die Songs einfach am Klavier oder an der Gitarre vorgespielt und wir haben sie dann gemeinsam arrangiert. Da Matt genau wusste, welche Qualitäten die Musiker mit zu den Aufgnahmen bringen würden, geschah das alles auf sehr natürliche Art und Weise. Ohne sein Wissen über die beteiligten Musiker wäre das aber nicht möglich gewesen.

GL.de: Manchmal führt der große Einfluss des Produzenten auch dazu, dass es am Ende mehr sein Album ist und die Vision der Künstler etwas verloren geht. Wie hast du sichergestellt, dass genug von dir auf der Platte landet?

Emily Barker: Das passierte schon allein durch die Songs an sich. Außerdem waren Matt und die Musiker unglaublich respektvoll. Wir haben jede einzelne Idee durchgesprochen, und sie haben sich immer rückversichert und nie eigensinnig gehandelt. Gleichzeitig waren sie auch nie beleidigt, wenn ich mal einen Vorschlag aus ihren Reihen abgelehnt habe und stattdessen etwas anderes vorgeschlagen habe. Zudem habe ich die Streicherarrangements selbst geschrieben. Der ganze Prozess lief fast schon unterbewusst ab, weil alles so unproblematisch war. Die Kollaboration war so offen, dass wir nie kämpfen mussten.

GL.de: Hast du am Ende mehr bekommen, als du erwartet hattest?

Emily Barker: Oh ja! Das Album, so wie es jetzt klingt, hätte ich mir noch nicht einmal im Traum vorstellen können! Es ist viel besser als das, was ich zuvor für möglich gehalten hatte. Ich bin die Arbeit total frei und vollkommen unvoreingenommen angegangen. Das Ganze war eine der schönsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe, und ich bin unglaublich stolz auf den Sound, den wir gemeinsam erschaffen haben, denn auch wenn in der Platte viel von mir steckt, ist sie doch auch ein Schnappschuss der Aufnahmen, bei denen viele wundervolle Leute blendend miteinander ausgekommen sind.

GL.de: Für "Sweet Kind Of Blue" hattest du, wie schon bei "The Toerag Sessions" und dem selbstbetitelte Album von Applewood Road, einen klar abgesteckten Rahmen...

Emily Barker: Ja, ich mag es, in klar abgesteckten Grenzen zu arbeiten. Ich arbeite gerne schnell und möchte so viel wie möglich live aufnehmen, denn es steckt so viel in der Performance. Bei Applewood Road zum Beispiel kann ich hören, dass wir uns die Songs erst ein, zwei Tage vor den Aufnahmen beigebracht haben. Die Performances sind manchmal etwas zurückhaltend und etwas unsicher, aber genau das gibt ihnen die besondere Würze.

GL.de: Magst du diese Art von Spontaneität auch rückblickend noch? Bisweilen entwickeln die Songs dann ja live ein Eigenleben, das sie in den frühen Versionen der Platte einfach noch nicht haben konnten.

Emily Barker: Wenn du alles live und am besten noch auf Tonband aufnimmst, dann sind die Aufnahmen wirklich ein Schnappschuss dieses einen Moments, und wenn ich die Platten später höre, bringt mich das sofort zurück in die Situation, in der sie entstanden sind. Ich bin dann wieder im Sam Phillips Recording Service, zusammen mit all den Musikern, und für mich ganz persönlich ist das ein wunderbares Gefühl. Genauso mag ich es aber auch, die Songs live neu zu interpretieren, und sei es nur deshalb, weil in meiner Live-Band Engländer und keine Amerikaner spielen und wir die Songs ihren Bedürfnissen anpassen. Ich finde es wirklich cool zu sehen, wie sich die Songs auf der Bühne entwickeln. Für mich sind sie auch nie besser oder schlechter, sondern einfach anders.

GL.de: Du arbeitest sehr selbstständig, hast alle Aspekte deiner Kunst unter deiner Kontrolle. Aber Hand auf Herz: Werden da manchmal Songs nicht geschrieben, weil noch eine Excel-Tabelle für den Plattenvertrieb ausgefüllt werden muss - und wie kommst du damit zurecht?

Emily Barker (lacht): Oh ja, das ist leider die Wahrheit! Ich versuche einfach, mir meine Zeit gut einzuteilen. Mir ist auch sehr bewusst, dass alles in Kreisen verläuft. Im Moment bin ich gerade im Promotion-Modus, gebe Interviews und kümmere mich um die ganze Kommunikation, die nötig ist, die Veröffentlichung vorzubereiten. Deshalb verbringe ich derzeit den ganzen Tag mit administrativen Aufgaben, aber gleichzeitig spiele ich auch noch viele Konzerte, denn es ist mir schon wichtig, dass ich auch noch dazu komme zu singen und Gitarre zu spielen. Ich habe auch immer ein Notebook dabei und kann schnell Ideen aufnehmen, wenn mir etwas einfällt, aber im Moment hätte ich nicht die Zeit dazu, mal einen ganzen Nachmittag darauf zu verwenden, sie auszuarbeiten. Das wird sich aber auch wieder ändern und die Prioritäten werden sich wieder verschieben, sobald es mit der Promotion für die neue Platte etwas weniger wird. Ich finde es wichtig, mir für neue Songs richtig Zeit freizuschaufeln, statt zu versuchen, das "nebenbei" zu schaffen.

GL.de: Was passiert mit den rund 20 Songs, die es nicht auf "Sweet Kind Of Blue" geschafft haben?

Emily Barker: Einige davon werde ich sicherlich in Zukunft aufnehmen. Fünf davon habe ich bereits mit meiner Live-Band für eine kleine Tour-EP eingespielt, andere werden als B-Seiten für die Singles, die wir aus dem Album auskoppeln, Verwendung finden. Ich mag die Idee, dass die Lieder auf diese Weise nicht einfach unter den Tisch fallen, sondern noch ein Zuhause finden.

GL.de: Letzte Frage: Was macht dich derzeit als Musikerin am glücklichsten?

Emily Barker: Was mich auf sehr persönlicher Ebene sehr glücklich macht, ist die Tatsache, dass mein Partner, mein Freund, in meiner Band Bass spielt und wir deshalb zusammen unterwegs sein können und ich nicht wochen- oder monatelang von ihm getrennt sein muss. Das finde ich wirklich cool!

Weitere Infos:
www.emilybarker.com
facebook.com/EmilyBarkerHalo
emilybarker.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Emily Barker
Aktueller Tonträger:
Sweet Kind Of Blue
(Everyone Sang/Indigo)
 

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