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13.09.2019
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JOAN SHELLEY

Geysire und Gartentraktoren

Joan Shelley
Wenn gut nicht gut genug ist: Auch auf ihrem famosen neuen Album "Like The River Loves The Sea" spürt Joan Shelley dem Besonderen auf dem weiten Feld des zeitgemäßen Indiefolk nach und findet im Spannungsfeld von Schönheit und Schmerz, Anmut und Traurigkeit mit wunderbar intimen Liedern immer wieder neue Ausdrucksformen für ihre wagemutige Experimentierfreudigkeit, die in der Vergangenheit bereits Größen wie Richard Thompson, Wilcos Jeff Tweedy oder Will Oldham (alias Bonnie "Prince" Billy) zu erklärten Fans der amerikanischen Singer/Songwriterin werden ließ. Komplexe Arrangeurskunst und musikalische Finesse im Dunstkreis von Jazz, Folk und einem Hauch von Postrock treffen auf eine hinreißende Gesangsperformance - oder anders gesagt: Es war nicht geflunkert, als der Rolling Stone Shelley als "one of the loveliest voices in music" bezeichnete! Aufgenommen in Island mit alten Weggefährten und neuen lokalen Mitstreitern, offenbart "Like The River Loves The Sea" Shelleys raumgreifende Klangvielfalt besser denn je, wenn eine spürbar opulentere und doch nie aufdringliche Instrumentierung mit nordischer Traumhaftigkeit Hand in Hand geht und so mit oft schwereloser Leichtigkeit die Einzigartigkeit der liebenswerten Musikerin aus Kentucky eindrucksvoll unterstreicht.

Auf "Like The River Loves The Sea" strahlt Joan Shelley die Gelassenheit einer Künstlerin aus, die ihren Frieden mit ihrer Situation gemacht hat und in sich selbst ruht - zumindest darf man sich das einbilden. "Frieden ist nicht ganz das richtige Wort", schränkt sie im Gespräch mit Gaesteliste.de ein. "Es steckt doch immer noch eine Menge Bewegung, eine Menge Unruhe mit drin. Die Räder stehen nicht still, dennoch weiß ich meine Situation sehr zu schätzen." Angefangen hat Shelleys Laufbahn vor inzwischen rund zehn Jahren mit der Erkenntnis, dass der Weg zum Erfolg steiniger sein würde, als sie das vielleicht insgeheim erhofft hatte. "Damals habe ich versucht, all meine Helden - Will Oldham, Rachel Grimes, Musiker, die den Absprung vom lokalen aufs nationale Level geschafft hatten - aufzutreiben und herauszufinden, was ich tun müsste, damit mir das auch gelingt", erinnert sie sich. "Ihre Antwort war: 'Keine Ahnung, die Dinge laufen heute ganz anders!' Es sah anfangs ganz schön hoffnungslos für mich aus." Dass ihr gleich zu Beginn ihres Weges der Zahn gezogen wurde, dass die Musik eine echte Karriere werden könnte, empfindet sie rückblickend allerdings eher als Glücksfall. "Meine Erwartungen klein zu halten, war ein wichtiger Teil des Prozesses, eine passionierte Musikerin zu werden", ist sie überzeugt. "Ich sagte mir: 'Du machst das jetzt, weil du mit dem Herzen dabei bist.' Ich habe das getan, was ich liebe, und genau das hat mich in die wunderbare Position gebracht, in der ich nun bin."

Zumeist hat sie auf ihrer Reise nicht die offensichtlichste Route genommen und auch der Weg von den daheim in Kentucky geschriebenen Songs für "Like The River Loves The Sea" bis zu den fertigen Aufnahmen war ein kleines Abenteuer mit vielen Unbekannten. Fasziniert von Lee Hazlewoods herrlich surrealem Aussteiger-Album "Cowboy In Sweden", neugierig auf den Effekt, den die einzigartige Landschaft auf die Musik haben würde, und letztlich überzeugt durch die billigen Flüge nach Reykjavik, entstanden die Aufnahmen zum neuen Album dort unterstützt von alten Wegbegleitern wie Produzent James Elkington, Gitarrist Nathan Salsburg und Gastvokalist Will Oldham und neuen isländischen Verbündeten wie Tontechniker Albert Finnbogason oder den Schwestern Sigrún Kristbjörg und Þórdís Gerður Jónsdóttir, die Violine, Viola und Cello zu den neuen Songs beisteuerten "Ich mag es nicht, im Studio in Routine zu verfallen", erklärt Shelley. "Ich möchte den gleichen Weg nicht zweimal beschreiten. Mir gefällt es, in einen neuen Raum zu kommen und herauszufinden, wie die Leute dort die Dinge angehen. Ich mag es, meine Freunde aus ihrem heimischen Trott herauszureißen, sie von allen häuslichen Pflichten loszulösen und so eine ganz neue Dynamik zu erzeugen. Die Musik, die dabei entsteht, ist einfach besser, weil mehr Spielfreudigkeit in ihr steckt."

In der Tat hat Island seine Spuren auf "Like The River Loves The Sea" hinterlassen, wenngleich auf eine etwas andere Weise, als Shelley das im Vorfeld erwartet hatte. "Ich hatte gehofft, dass die Landschaft dort unser Tun durchtränken würde", gesteht sie. "In Kentucky ist die Luftfeuchtigkeit hoch, deshalb herrscht hier immer eine milde Schwüle. Bereits in der Vergangenheit habe ich festgestellt, dass ich eine ganz andere Energie habe, wenn ich woanders bin. Das war eines der Dinge, auf die ich mich in Island ganz besonders gefreut habe." Ein Stück weit wurde diese Hoffnung auch erfüllt, trotzdem war Shelley überrascht, wie sich die Reise ins Unbekannte auf das Album niederschlug: "Letztendlich haben aber für die tiefsten Spuren nicht das Vulkangestein und die Szenerie gesorgt, sondern die Menschen dort, die von der Landschaft ihr ganzes Leben lang geprägt worden sind." Besonders akzentuiert werden Shelleys federleichte Kompositionen zwischen Melancholie und Verträumtheit dieses Mal durch bisweilen in Richtung Nick Drake deutende Streicherarrangements von Produzent Elkington. Besonders wichtig war Shelley dabei ein betont unaufdringlicher Einsatz der Instrumente. "Streicher haben oft etwas geradezu emotional Manipulatives. Deshalb werden sie so häufig in der Filmmusik eingesetzt: Sie ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich", weiß sie. "Ich habe mich schon immer von dieser Art von Melodramatik ferngehalten und Jim hat mit seinen Arrangements instinktiv genau das Richtige getan. Er hat Melodien hinzugefügt: eine weitere Stimme, aber keine neue Emotion."

Auch als Texterin beschreitet Shelley auf "Like The River Loves The Sea" einen ungewöhnlichen Weg. Während die meisten Songwriter nur zu Beginn ihrer Karriere mangels anderer Erfahrungen ihr eigenes Leben vertonen, lässt sich die Mittdreißigerin auf ihrem inzwischen fünften Album tiefer in die Karten schauen als zuvor - auch wenn sie die Beschreibung "confessional songwriter" nicht mag. "Ich habe das Songschreiben immer als Handwerk betrachtet, in dem ich mich verbessern will - aber nicht um jeden Preis", sagt sie. "Ich lebe drei Stunden von Nashville entfernt und ich liebe Countrymusik, aber wenn du dir die Platten des goldenen Zeitalters in Nashville anhörst, stößt du schnell auf das Schablonenhafte vieler Lieder und merkst schnell, an welchem Punkt sie nur noch ein Silbenrätsel waren. Wir hier in Louisville, wir sind nicht Nashville. Wir sind keine Songschreibemaschinen. Mein Ziel ist es immer gewesen, viel Seele in die Songs zu legen und dabei präsent und ehrlich zu sein."

Shelley selbst beschreibt "Like The River Loves The Sea" als Oase, als einen metaphorischen Rückzugsort, der Schutz bietet und die Möglichkeit zur Reflexion, um sich in einer immer turbulenteren Welt zurechtzufinden. Deshalb suchte sie nach neuen Ausdrucksformen abseits des ausgetrampelten Pfades - und fand Inspiration bei einer Seelenverwandten in Kanada. "Mir ist aufgefallen, dass mir Reime nicht mehr so wichtig sind", erklärt sie. "Viele Platten, die mir derzeit besonders gut gefallen, haben Texte, die gewissermaßen nur eine Aneinanderreihung von Gedanken sind. Ganz besonders mag ich das bei The Weather Station. Sie (Frontfrau Tamara Lindeman) ist eine Freundin, und ich habe sie immer im Kopf, wenn ich schreibe. Mich begeistert, was sie zugelassen hat. Zuvor waren ihre Songs kurz mit abrupten Endungen, jetzt reimt sie Gedanken statt den Klang bestimmter Wörter - so kommt es mir zumindest vor." Auch Shelley wendet diesen Kniff nun auf "Like The River Loves The Sea" an und kann damit ähnlich begeistern wie zuvor Lindeman.

Inhaltlich ist "Like The River Loves The Sea" gleichermaßen Liebeserklärung und kritische Auseinandersetzung mit Shelleys Heimat Kentucky, über die einst Mark Twain gesagt haben soll: "When the world ends, I want to be in Kentucky where it's always five years behind." "Auf meinen Reisen habe ich viele funktionierende Städte kennengelernt, die Menschen in Kentucky dagegen wissen gar nicht, was es heißt, in einer gut durchgeplanten Stadt zu leben", ist Shelley überzeugt. "Ich wünschte wirklich, mehr Leute hier würden erkennen, dass es auch besser laufen könnte - dass unsere Luft sauberer sein könnte, unsere Bildung für alle zugänglich sein könnte und wir vielleicht auch staatliche Theater haben könnten. Ich beneide den Rest der Welt um viele strukturelle Dinge, ganz abgesehen von beeindruckendem Essen und all den unterschiedlichen Kulturen. Aber was für mich heraussticht: Ich wünschte, wir könnten harmonischere Städte aufbauen!" Shelley selbst lebt eine halbe Stunde entfernt von Louisville, das gemeinsam mit Lexington die liberale Seite Kentuckys verkörpert. "Es gibt in Louisville ein überströmendes Reservoir an unprätentiösen Songwritern wie Catherine Irwin, Joe Manning oder Will Oldham, denen die Musik allein genug ist", sagt sie über die Vorzüge der größten Stadt des Bundesstaates.

Bleibt zum Schluss noch die Frage, was Shelley derzeit besonders glücklich macht. Das Songwriting? Die Arbeit im Studio? Die Konzertreisen? Nein! "Echte Freude bereitet mir derzeit der Traktor, den ich seit Kurzem besitze. Ich kann gar nicht beschreiben, wie wunderbar es ist, damit Dinge hochzuheben, die unglaublich schwer sind!", verrät sie lachend. "Ich gärtnere gerne und der Boden hier ist sehr lehmverkrustet. Manchmal muss man die Erde einfach umgraben, und den Traktor dafür einsetzen zu können, ist eine unglaubliche Befreiung!"

Weitere Infos:
www.joanshelley.net
www.facebook.com/joanshelleymusic
twitter.com/joanshelley
www.instagram.com/joanshelley
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Joan Shelley
Aktueller Tonträger:
Like The River Loves The Sea
(No Quarter/Cargo)
 

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