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25.10.2019
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SIMON JOYNER

"Mir hat es hier unten immer gut gefallen!"

Simon Joyner
Die subtilen Absurditäten des Lebens sind seit mehr als 25 Jahren das Metier von Simon Joyner, aber selten setzte der amerikanische Singer/Songwriter aus Omaha, Nebraska, sein Talent als brillanter Geschichtenerzähler im Geiste von Leonard Cohen, Townes Van Zandt, Mark Kozelek oder Bill Callahan besser in Szene als auf seinem fantastischen neuen Album: Auf "Pocket Moon" fügen sich die klanglichen Ideen der beiden exzellenten Vorgänger, dem eher zurückhaltend-akustischen "Grass, Branch And Bone" und dem mit voller "Blonde On Blonde"-Grandezza eingespielten "Step Into The Earthquake", wandlungsfähig zu einem nuancierten Klangkostüm zusammen. Dabei schimmern die dieses Mal betont persönlich gefärbten Lieder in einem für Joyners Verhältnisse ungewöhnlich geschliffenen Sound mit gedämpftem Country-Einschlag, dem trotzdem nie die besondere menschliche Note fehlt. Zur Seite stand Joyner dabei sein langjähriger Mitstreiter und Produzent Michael Krassner sowie ein Ensemble aus Musikern, das erst bei den Sessions zusammenfand, um ohne vorherige Proben die Magie des Augenblicks einzufangen.

Das Ergebnis sind elf filmreife Storytelling-Songs, die ganz auf philosophische, von sanfter Schwermut getränkte Alltags-Beobachtungen ausgerichtet sind, mit denen der 48-jährige Troubadour nicht selten die Kehrseite des amerikanischen Traumes beleuchtet und dabei kleine Wahrheiten in Details findet, die andere gar nicht wahrnehmen. Joyner malt "Bilder, die sich eher auf die rissigen Scharniere und verwitterten Hölzer konzentrieren als auf die Menschenmenge, die durch die Tür strömt", hieß es dazu an anderer Stelle bereits sehr treffend. Auch beim ausführlichen Gaesteliste.de-Interview blitzt Joyners einmaliges Talent, die Normalität in bunten Farben zu beschreiben, immer wieder auf, etwa, als er gleich zu Beginn auf die simple Frage, wo wir ihn gerade erwischen, antwortet: "Ich sitze an meinem Küchentisch, begleitet vom Summen eines Dörrgeräts, das unsere letzte Kirschtomaten-Ernte auf etwas reduziert, das wir in Öl einlegen und im Winter zum Kochen verwenden können. Ich trinke Kaffee, die Hunde schlafen im Sonnenlicht auf dem Boden. Es ist ein Hundeleben!"

Ohne Hund, aber dafür mit seiner Gitarre kommt der Mann, der einst Conor Oberst auf den Weg brachte und Könner wie Gillian Welch, Kevin Morby oder Gisbert zu Knyphausen zu seinen treuesten Anhängern zählt, zudem im November auf Deutschland-Tournee, um auch live zu unterstreichen, warum er seit vielen Jahren als Amerikas bester unbekannter Songwriter gehandelt wird.

GL.de.: Simon, wie bist du eigentlich zur Musik gekommen?

Simon Joyner: Es gab vier zentrale Lieder in meinem Leben. "Somewhere Over The Rainbow" aus "Der Zauberer von Oz" ist ein Lied, das ich meinem Bruder jeden Abend vorgesungen habe, damit er einschlafen konnte, als wir klein waren. Unsere Eltern schienen nachts immer unten zu streiten und wir teilten uns oben ein Zimmer mit einem Etagenbett. Er fragte mich aus dem unteren Bett, ob ich ihm dieses Lied singen könnte, um sie zu übertönen, weil wir sie durch die Wände und die Lüftungsschlitze hören konnten. Ich habe früh gelernt, Musik zur Realitätsflucht einzusetzen, und dieses Lied war so ein Fall. Dann gab es "After The Goldrush", das Neil-Young-Lied. Mein Vater spielte diese Aufnahme auf der Stereoanlage, als ich in der Grundschule war, und ich erinnere mich, dass ich eine instinktive Reaktion hatte, als ich dieses Lied hörte: Meine Nackenhaare richteten sich auf. Wenn mein Vater nicht in der Nähe war, spielte ich dieses Lied immer wieder, lernte es auswendig und sang es für mich jeden Tag auf dem Weg zur und von der Schule. Das war mein Mantra. Ich war wahrscheinlich zehn oder elf Jahre alt. Das Lied hatte etwas sehr Mysteriöses und Kraftvolles, und ich wusste, dass es für mich sprach, obwohl ich die Sprache nicht ganz verstand und nicht vollends begriff, worum es ging (das geht mir bis heute so). Auch bei diesem Lied handelte es für mich um Befreiung und Flucht. Ich war ein melancholisches Kind mit einigen Problemen und konnte mich auf ein Lied wie dieses konzentrieren, um meine Sorgen zu vergessen und in eine Art Fantasiewelt zu gelangen, so wie andere das mit Religion tun. Ein weiteres Lied, das mich stark beeinflusste, war "Desolation Row", das mein Vater für mich spielte, als ich ein Kind war, und von dem ich genauso besessen war wie von "After The Goldrush", auch wenn ich etwas älter war, 12 oder 13. Dieses Lied hat mir klargemacht, dass man all diese Charaktere nehmen und ihnen neue Rollen geben und mit ihrer Geschichte herumspielen und ihnen so eine eigene Welt in einem Lied erschaffen konnte. Es hat mich umgehauen. Als ich gerade mit der Highschool anfing, spielte mir dann Don Allred, ein alter Schulfreund meines Vaters, The Velvet Underground vor, als ich meine Großmutter in Alabama besuchte. Das Lied "Heroin" war wie das Gegenteil von "Desolation Row" in seiner Herangehensweise an ein ähnliches Problem, es schien allein dem Bauch statt dem Gehirn zu entspringen und die Bilder waren Reaktionen oder Improvisationen, als wenn dir ein Psychologe ein Bild von etwas zeigt und du das Erste sagen sollst, was dir in den Sinn kommt, um so zur Wahrheit zu gelangen. Das alles war für mich sehr entwicklungsfördernd, aber während mir Dylans vollständige Beherrschung seiner Welt unzugänglich schien, war Lou Reeds Herangehensweise für mich eine Art Aufforderung, mich im Songschreiben zu versuchen, um meine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, und das war echt eine Riesensache für mich! Ich wäre vielleicht im Gefängnis gelandet oder aus dem Fenster gesprungen, wenn ich "Heroin" nicht gehört hätte und angefangen hätte, meine eigenen Songs zu schreiben.

GL.de: Deine frühen Alben klangen bisweilen wie in Töne gegossene Schnappschüsse. Darf man sagen, dass sich deine Herangehensweise an deine Alben in den ungefähr letzten zehn Jahren verändert hat und die Entstehungszeit heute länger ist?

Simon Joyner: Es ist definitiv richtig, dass ich jetzt normalerweise ein wenig länger brauche, um ein Album zusammenzustellen, als es früher in meiner Karriere der Fall war. Ich würde das allerdings hauptsächlich darauf zurückführen, dass ich heutzutage mehr Verpflichtungen habe und mich nicht wie damals ganz auf die Musik konzentriere, so wie das der Fall war, als ich begonnen habe, Platten aufzunehmen. Wenn ich heute anfange, Songs zu schreiben, dauert es ungefähr genauso lange, bis ein Album fertig ist, der Unterschied ist lediglich, dass ich nun manchmal ein Jahr gar nichts schreibe, bis ich plötzlich bereit bin, wieder zu arbeiten. In diesem Sinne habe ich mehr Zeit, meine Erfahrungen zu bündeln und darüber nachzudenken, was ich ausdrücken will. Es kann sein, dass das die Geschichten verändert, die ich am Ende schreibe. Ich glaube allerdings nicht, dass sich mein Ansatz, Alben zu machen, wesentlich geändert hat. Ich denke, ich habe das Album immer als ein großes Kunstwerk gesehen, und alle Songs mussten diesem größeren Ziel dienlich sein. Ich bin mir aber sicher, dass mehr Erfahrung dazu beigetragen hat, dass die Alben nicht so sehr wie Schnappschüsse wirken. Ich denke, ich habe schon zu "Heaven's Gate"-Zeiten versucht, bestimmte Stimmungen einzufangen oder übergreifende Themen auf meine Alben zu übertragen - das hat nicht erst in den letzten zehn Jahren angefangen.

GL.de: Bei unserer letzten Begegnung im Sommer 2018 war auffällig, dass deine Ansagen länger und persönlicher waren als sonst, und "Pocket Moon" scheint genau das nun widerzuspiegeln. Ein Zufall?

Simon Joyner: Die Alben waren immer voller persönlicher Geschichten, aber seit mir etwas wohler dabei ist, vor Leuten aufzutreten, bin ich bereit, diese Themen ein wenig mehr zu diskutieren. Ganz allgemein bin ich allerdings der Meinung: Je weniger während einer Show gesagt wird, desto besser. Lass die Songs für sich selbst sprechen und vertraue deinem Publikum! Dennoch gibt es einige Songs, über die ich kurz spreche, bevor ich sie spiele, denn ich weiß, dass es dem Publikum gefällt, wenn der Künstler etwas erzählt. Also habe ich versucht, meinen Widerstand dagegen ein wenig zu überwinden. Tut mir leid, wenn ich bei manchen Auftritten zu viel rede, aber manchmal, wenn ich aus irgendeinem Grund nervös bin oder besonders angetan bin von der Zuhörerschaft, dann rede ich zu viel. Der Normalfall ist das nicht, vermutlich hast du einfach einen der seltenen Auftritte erwischt, bei dem ich redefreudig war. Bei manchen Künstlern funktioniert es, wenn sie viel reden, ich liebe Ryley Walkers Stand-up-Comedy zwischen den Songs, und auch Jerry David DeCicca gelingt es, mit seiner sehr gesprächigen Art das Publikum einzufangen, aber wenn ich auftrete, möchte ich lieber die Augen schließen und sie erst wieder aufmachen, wenn alles vorbei ist, und ich hoffe, dass das auch in Ordnung ist. Um wirklich ganz in meinen Songs aufgehen zu können, muss ich die Zuschauer ein wenig ausblenden. Wenn ich mir Musikdokumentationen anschaue, sind die schlimmsten Sequenzen für mich immer die, in denen der Künstler zum Publikum spricht. Dann denke ich mir: "Spiel einfach das Lied, du bist viel interessanter, wenn du singst."

GL.de: "Pocket Moon" vereint wunderbar die Zurückhaltung von "Grass Branch And Bone" und die Verspieltheit von "Step Into The Earthquake", wenngleich der Kontext ein anderer ist. War das einer der Gründe, mit neuen Musikern zusammenzuarbeiten: Den Weg der letzten Platten fortsetzen zu können, ohne Gefahr zu laufen, dich zu wiederholen?

Simon Joyner: Ich betrachte Platten nicht unter solchen Gesichtspunkten. Für mich ist jedes Album ein Songzyklus, eine Sammlung von Liedern, die für sich selbst steht. Wenn ich mich auf die Songs festgelegt habe, die thematisch am besten zusammenpassen, überlege ich mir, welches musikalische Setting, welche Herangehensweise für sie am besten geeignet wäre. Ich denke dabei wirklich nie an die vorherige Platte, nur an das, was diese bestimmten Songs zu brauchen scheinen. Für "Pocket Moon" hatte ich das Gefühl, dass die Songs eine kleinere Band und eine zurückhaltende Begleitung benötigten. Dazu kam, dass Michael Krassner sich nicht lange genug freinehmen konnte, um für die Aufnahmen nach Omaha zu kommen. Also flog ich zu ihm nach Phoenix, um in seinem Heimstudio aufzunehmen, und das wurde Teil des kreativen Prozesses. Ich konnte meine Band nicht mitnehmen und vertraute darauf, dass Michael Musiker vor Ort finden würde, die intuitiv sind und die Musik verstehen, die wir machen wollten. Diese Herangehensweise haben wir schon einmal zuvor gewählt, als wir "Lost With The Lights On" in Los Angeles eingespielt haben. Michael lebte damals dort und ich flog zu ihm rüber, um aufzunehmen, und er stellte die Band für die Aufnahme zusammen. Auch da hatte ich vorher mit keinem der Musiker je zusammengespielt. Krassner hat, mit wenigen Ausnahmen, all meine Alben seit "Yesterday, Tomorrow, And In Between" aufgenommen und ist sehr genau mit meiner Musik vertraut und wir sind uns eigentlich immer sofort einig, was die richtige Herangehensweise für diese oder jene Platte ist, fast wie bei einem Zwillingsbruder. Um deine Frage zu beantworten: Ich mache mir keine großen Sorgen um Wiederholungen. Ich weiß, dass jede Songsammlung das Potenzial hat, ihre eigene Welt zu sein, wenn ich bei den Aufnahmen keinen Verrat an ihnen begehe. Ich könnte wahrscheinlich mit der gleichen Band und unter genau den gleichen Umständen aufnehmen, und die Aufnahmen würden ganz anders klingen, wenn die Songs andere Dinge ansprächen und emotional oder thematisch in verschiedene Richtungen gingen. Für mich besteht das Geheimnis immer darin, die Songs so stark zu machen, dass sie für sich allein stehen. Der Rest ist reine Dekoration.

GL.de: Mit der Herangehensweise hat sich gewissermaßen auch das Blatt gewendet: In der Vergangenheit hast du bereits des Öfteren erwähnt, dass du gerne deine Musiker vor den Aufnahmen im Dunkeln lässt, um intuitivere und spontanere Ergebnisse zu erzielen. Dieses Mal wusstest du selbst nicht, was du erwarten konntest.

Simon Joyner: Ja, das gehört auch dazu, mich aus meiner Komfortzone zu zwingen. Situationen wie "Pocket Moon" und "Lost With The Lights On" sind perfekte Voraussetzungen für eine Katastrophe, in der niemand zusammengespielt hat und niemand das Material sehr gut kennt oder Teile einstudiert hat. Aber wenn die Musiker gut genug sind, müssen sie nicht zu streng über "Teile" nachdenken, weil sie so kreativ sind, dass sie nicht anders können, als auf natürliche Weise evokative Dinge zu tun.

GL.de: "Pocket Moon" hat einen wunderbar vollen Sound, ist aber trotzdem in jeder Hinsicht auch eine "Solo"-Platte mit dir allein im Mittelpunkt, während du bei einigen anderen Alben zuvor eher "einer der Jungs in der Band" warst. Die Band scheint dieses Mal eine reine Unterstützerrolle zu haben?

Simon Joyner: Ich weiß, was du meinst. Ich denke, es hängt vom Songzyklus ab, ob ich Teil der Band werde oder die Band lediglich eine unterstützendere Rolle spielt. Die Lieder auf dieser Platte schienen auf jeden Fall intim oder privat zu sein, also ergibt es Sinn, dass sich die Musiker entschlossen haben, sich bei diesen bestimmten Songs eher zurückzuhalten. Es würde die Intimität einiger dieser Erste-Person-Geschichten verringern, wenn die Band zu aufdringlich wäre.

GL.de: Mit "Sean Foley's Blues" und "Time Slows Down In Dreams" tauchen zwei Songs auf der neuen Platte auf, die du bereits vor zehn Jahren auf einer Single veröffentlicht hast. Über die Jahre hast du immer wieder auf unveröffentlichte alte Songs zurückgegriffen oder lange gebraucht, bis du einzelne Lieder fertiggestellt hast, aber dass dich erneut Songs zuwendest, die bereits erschienen sind, ist neu. Wie kam es dazu?

Simon Joyner: Das ist eine gute Frage. Beide Songs wurden vor vielen Jahren zu "Out In The Snow"-Zeiten geschrieben, schienen aber aus irgendeinem Grund nicht auf dieses Album zu passen. Zum einen war ich mit den Aufnahmen nicht zufrieden und sie passten auch nicht zu dem, was thematisch auf dieser Platte passiert. Obwohl Team Love die 7" mit diesen beiden Songs veröffentlichte, wollte ich sie immer im Rahmen eines richtigen Albums verwenden. Seitdem habe ich eine ganze Reihe Platten gemacht, aber erst bei der neuen hatte ich das Gefühl, dass die alten Lieder richtig gut zu den neuen passen würden. Ich habe einige Zeilen verändert und konnte sie nun auf eine Weise aufnehmen, die besser zu ihnen passt. Ich war überrascht, dass beide Lieder auf der neuen Platte so gut funktionierten. Ich dachte zuerst, dass es vielleicht nur eins auf die Platte schafft, aber letztendlich habe ich dann neuere Songs rausgeworfen, um Platz für die alten zu habe. Ich bin mir allerdings sicher, dass die rausgefallenen Stücke auf einem späteren Album auftauchen werden.

GL.de: Du bist berühmt für die betont lebendigen Charaktere, die deine Lieder seit jeher bevölkern. Vielleicht liegt es an der zurückhaltenden Instrumentierung, aber bei den neuen Liedern scheint das noch mehr als in der Vergangenheit der Fall zu sein, zumal viele Stücke auch spürbar direkter als zuvor wirken. Dadurch bekommen die Text geradezu cineastisches Kammerspiel-Flair, als seien die Songs Szenen aus einem Film. Viele wirken zudem so, als würdest du die Szene vom Schlafzimmer deines Hauses aus beobachten, ein wenig so wie in Alfred Hitchcocks "Das Fenster zum Hof". War das von vornherein beabsichtigt?

Simon Joyner: Es freut mich, dass sich die Platte cineastisch anfühlt. Ich mag "Das Fenster zum Hof" sehr, und ich denke, wenn Songs besonders persönlich erscheinen, versetzt es den Hörer manchmal in eine Voyeurrolle. Vielleicht kommt sie Assoziation zu "Das Fenster zum Hof" daher. Ich hoffe, dass sich die Lieder auf einer gewissen Ebene privat anfühlen, aber auch universell genug sind, damit sich die Leute mit den Problemen der Charaktere in den Songs identifizieren und sich darin wiederfinden können. Etwas Unbehagen ist in Ordnung, es sollte sich sicher nicht über die gesamte Platte erstrecken. Ich verbrachte ein paar Wochen mit Housesitting in Nord-Idaho und schrieb dort viele der Lieder. Ich lief fünf bis zehn Meilen pro Tag und hatte viel Zeit, um die Natur um mich herum zu beobachten und über meine eigenen Irrungen und Wirrungen nachzudenken. Ich erlaubte mir, in die Schönheit dort einzutauchen, und ich glaube, es half mir dabei, auf etwas zuzugreifen, das ich in mich hineingefressen hatte und über das ich schreiben musste. Manchmal kann ein einfacher Ortswechsel einen aus dem Alltagstrott herausreißen. Ich hatte lange Zeit nichts geschrieben, und so war ich erleichtert, als die Lieder zu fließen begannen, während ich dort oben war. Außer dem Hund, auf den ich aufpasste, gab es niemanden, mit dem ich sprechen konnte, und keine wirklichen Pflichten, außer den Hund und mich selbst am Leben zu halten. Was das "Nennen von Namen" angeht: Natürlich tue ich das, aber ich würde da nicht zu viel hineinlesen. Wenn ich in meinem Song eine reale Person nenne, verwende ich ihren Namen und verbinde ihn mit einer völlig fiktiven Geschichte. Wenn ich erfundene Namen verwende, kann ich etwas völlig Autobiographisches verarbeiten. Es sind alles nur Farben, am Ende zählt nur das Ergebnis.

GL.de: Die Fokussierung auf deine unmittelbare Umgebung gibt den Songs ihren intimen Charakter. Wie viele Gedanken machst du dir, wenn du echte Personen - Freunde, Familie, sogar Nachbarn - in deinen Songs auftauchen lässt? Du willst doch sicher niemandem nur für eine gute Textzeile auf die Füße treten?

Simon Joyner: Natürlich will ich das! Es macht mir nichts aus, auf ein paar Füße zu treten! Aber im Ernst, es ist wichtiger, die Menschen zu respektieren, als ihre Privatsphäre heilig zu halten, denke ich. Es ist nie mein Ziel, Menschen mit einem Text zu verletzen. Wenn tatsächliche Ereignisse aus meinem Leben und dem Leben der Menschen um mich herum in Liedern auftauchen, nutze ich sie in der Regel als glaubwürdigen Hintergrund für meine Erforschung der menschlichen Natur und nicht, um tatsächlich über ihr spezifisches Privatleben zu sprechen. Für gewöhnlich steckt ein Funken Realität in einem Lied und der Rest ist fiktiv. Deshalb ist es selten, dass sich jemand aufregt, wenn ich ihn in einem Lied erwähne. Wenn sie den Song hören, verstehen die Leute, dass es sowieso nicht wirklich um sie geht. Allerdings gab es Zeiten, in denen ich so viel über eine persönliche Beziehung preisgegeben habe, dass eine mir nahestehende Person wütend auf mich war. In diesen Fällen schrieb ich aber über meine eigenen Gefühle, und daher fühlte es sich für mich trotzdem richtig und angemessen an, egal wie unangenehm es schien, diese Gefühle in die Öffentlichkeit zu tragen. In erster Linie spreche ich hier von Alben, die während meiner ersten Ehe entstanden. Da gab es einige schwierige, unglückliche Jahre, und ich hätte mich wahrscheinlich in Therapie begeben sollen, anstatt Songs zu schreiben, aber ich konnte mir keinen Therapeuten leisten!

GL.de: Nach all den Jahren, nach all den Platten - gibt es noch Dinge, die du als Musiker gerne noch angehen würdest, wenn Zeit und Geld kein Hinderungsgrund wären?

Simon Joyner: Ja, ich möchte noch viele Dinge tun! Ich möchte sie hier aber nicht erwähnen, weil ich mir sicher bin, dass ich nicht alle in die Tat umsetzen werde, und ich möchte später nicht auf eine Liste von Dingen zurückblicken, die ich geplant habe, und mich dann noch schlechter fühlen, als ich das ob der langen Liste der Dinge, die ich nie angegangen bin, eh schon tue.

GL.de: Letzte Frage: Anders als die meisten Musiker, die schon so lange wie du dabei sind, scheinen dich die Umwälzungen der Musikindustrie in den letzten Jahren nicht so hart getroffen zu haben. Im Gegenteil: Mit weniger Geld besser klingende Platten machen zu können, der direkte Draht zu den Hörern via Social Media und eine aufblühende Wohnzimmer-Konzertszene scheinen dir sogar noch in die Karten zu spielen. Darf man das so sagen?

Simon Joyner: Ja, ich denke, das stimmt. Ich habe immer außerhalb der normalen Musikbranche existiert. Die einzige große Veränderung, die ich gespürt habe, ist, dass weniger Leute für Musik zahlen, als das früher der Fall war. Deshalb muss man sich auf loyale Fans verlassen, die einen unterstützen. Früher verkaufte sich selbst eine Platte auf einem unabhängigen Label gut genug, denn wenn man neue Musik ausprobieren wollte, kaufte man sich einfach etwas. Jetzt kommen viele Leute zu mir an den Merch-Tisch, die eher ein T-Shirt kaufen, denn Musik hören sie lieber auf Spotify - wann und was sie wollen. Gelegenheitshörer sind heute ob YouTube und Spotify nicht mehr gezwungen, die Künstler zu unterstützen, und selbst die Fans, die es ernst meinen, haben heute oft keinen Plattenspieler mehr und hören sich alles digital an. Deshalb setze ich inzwischen auch mehr auf Nicht-Musik-Artikel, die auf Tour die Fraktion kaufen kann, die keine physischen Tonträger mehr will: Kaffeetassen, T-Shirts, Hüte, Plakate, all so etwas. Da ich allerdings nie bei einem größeren Label war, sind die Veränderungen, mit denen andere Künstler jetzt zu kämpfen haben, immer der Status quo für mich. Aber ich habe nie erlebt, dass ich Teil eines größeren Labels war, das sich um die Dinge kümmerte. Wohnzimmerkonzerte als Ergänzung zu Konzertshows und Homerecording - das war bei mir die ganze Zeit so, ich habe also im Vergleich nicht so gelitten. Andere, die sich an die Bequemlichkeiten gewöhnt hatten, die damit einergeht, sich in die Gefangenschaft eines Labels zu begeben, sind vermutlich auf mein Niveau gesunken, aber mir hat es hier unten immer gut gefallen.

Weitere Infos:
simonjoyner.net
facebook.com/simonjoynermusic
simonjoyner.bandcamp.com
bbislandmusic.com/simon-joyner/
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Simon Joyner
Aktueller Tonträger:
Pocket Moon
(BB*Island/Grapefruit Records/Cargo)
 

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