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29.05.2020
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NICOLE ATKINS

Alea iacta est

Nicole Atkins
Auch die in Nashville lebende Songwriterin Nicole Atkins hatte sich die Sache mit ihrer aktuellen LP "Italian Ice" sicherlich anders vorgestellt: Gerade erst hatte Nicole einen frühen Tornado unbeschadet überstanden (während die Nachbarschaft in Nashville in Mitleidenschaft gezogen wurde) und sich an die Planung einer Tour gemacht, die im Anschluss an die für April geplante Veröffentlichung des neuen Albums stattfinden sollte, da wurde auch der Staat Tennessee in den Corona-Lockdown versetzt. Kurzerhand wurde die Veröffentlichung des Albums auf Ende Mai verschoben - und die geplanten Proben zur Tour auf dem heimischen Speicher verlegt, wo sich Nicole eine Art kleines Studio für wöchentliche Quarantäne-Streams eingerichtet hatte, zu denen sie dann befreundete Musiker virtuell per Konferenz-Schaltung einlädt. Die im Anschluss in unseren Breiten geplante Tour musste schließlich situationsbedingt auf nächstes Jahr verschoben werden.

Kommen wir aber mal zur neuen LP: Dieses wurde zwar in den legendären Muscle Shoals Sound Studios in Alabama eingespielt - aber es war keineswegs als klassisches Southern Soul-Album geplant, sondern tatsächlich als Hommage an Nicoles ursprüngliche Heimat, New Jersey - genauer gesagt, den dortigen Boardwalk und die damit verbundenen Erinnerungen. "Die Boardwalks und Strände an der Ostküste sind sich alle recht ähnlich", berichtet Nicole, "und haben ganz andere Vibes als jene an der Westküste. Das ist alles ein wenig erdiger und mehr Rock'n'Roll, wenn du nach Coney Island oder Asbury Park gehst. Ich kann New Jersey jedenfalls nicht entkommen." Wie ist das denn zu verstehen? "Ich habe viele Freunde, die - wie ich - von New Jersey weggezogen sind", führt Nicole aus, "wir haben dann irgendwann festgestellt, dass wir - anders als viele andere, die von irgendwo weggezogen sind - ständig über die alte Heimat sprechen." Und das hat sich dann auch musikalisch niedergeschlagen, oder? "Ja, als ich die neuen Songs schrieb, realisierte ich, dass sie alle ihre eigenen, kleinen Klangwolken hatten - und die erinnerten mich an das, was ich früher in New Jersey im Radio gehört habe. Wir hatten Soul-Musik aus Philadelphia, wir hatten Blondie und die Ramones aus New York und in New Jersey gab es Leute wie Southside Johnny, die ihre Art von Soul-Musik spielten. Der war immer da - obwohl ich den gar nicht gehört hatte, als ich aufwuchs." Was unterscheidet denn New Jersey von New York - das ja in Sichtweite gegenüber liegt? "New Jersey ist wie New York mit einem Minderwertigkeitskomplex", überlegt Nicole, "es ist ruhiger in New Jersey. Asbury Park ist eine ruhige Stadt am Strand, die ganz auf Musik und Kunst aufgebaut ist."

Worum ging es Nicole denn musikalisch? Nachdem das letzte Album "Goodnight Rhonda Lee" ja noch eine charmante Hommage an klassischen Retro-Pop gewesen war, scheint das deutlich opulentere neue Werk wieder zu jener Ästhetik zu tendieren, die Nicole dereinst für ihr erstes Album "Neptune City" implementierte - und ein Soul-Album ist das es ja (trotz der Mitwirkung von Spooner Oldham und David Hood) auch nicht. "Nun mit Spooner Oldham bin ich in Kontakt gekommen, als ich auf seiner Geburtstagsparty gesungen habe", erzählt Nicole, "wir haben uns dann so gut verstanden, dass wir eine Scheibe zusammen machen wollten. Ich habe also eine Menge Zeit in Muscle Shoals verbracht, um die Jungs besser kennenzulernen - wollte aber keine Muscle Shoals-Scheibe machen. Ich habe zwar eine Menge Inspirationen von dort bezogen, diese aber mit meinen anderen Inspirationen vermengt. Daraus ergibt sich dann der New Jersey Sound. Bruce Springsteen ist in seiner Musik ja auch von dieser älteren Musik inspiriert." Das Geheimnis liegt dann also im Mix. Und vielleicht auch daran, dass Nicole auf dem neuen Album ganz auf Kollaborationen setzt? Neben Spooner Oldham und David Hood sind ja auch Jim Sclavunos (mit dem zusammen Nicole öfter Songs schreibt) und Dave Sherman von den Bad Seeds oder Binky Griptite von den Dap Kings dabei. "Ja, ich habe viele Gäste auf dem Album", bestätigt Nicole, "Britt Daniel, Erin Rae, John Paul White, Seth Avett - ich habe sie alle angerufen. Erin Rae hat so eine interessante Missing-Link-Stimme, mit John Paul White wollte ich einen Mamas & Papas-Moment haben, mit Seth bin ich seit dem College befreundet. Ich habe aber zuerst die Songs geschrieben - und mir die Stimmen dann später ausgesucht. Die Scheibe habe ich dann mit Ben Tanner von den Alabama Shakes zusammen produziert. Die Arrangements habe ich mir vorher schon überlegt." Und diesbezüglich schöpft Nicole ja wieder aus dem Vollen. "Das stimmt", pflichtet sie bei, "ich mag halt diesen großen, cinematischen Sound. Und es sollte ja auch ein Sound sein, der die Leute verspüren ließe, dass sie sich wie auf einem Boardwalk fühlten. Denn dieser Sound ist für mich das, was Asbury Park für mich ausmacht."

Interessanterweise stellt sich Nicole als Vokalistin bei diesem Prozess nicht dominant ins Zentrum. Stattdessen werden die - oft gedoppelten Stimmen in das allgemeine, orchestrale Klangbild integriert. "Es gibt ja schon Tracks, bei denen die Stimmen im Vordergrund stehen", zögert Nicole, "bei anderen arbeite ich halt mit Schichten. Es kommt halt auf den Song an. Manche Songs brauchen Call & Response, manche eine Art von Rock-Gospel-Stimmung oder ein Mix aus Frankie Valley-Direktheit und Gruppendynamik, bei der jeder mitsingt." Wichtig scheint dabei dabei aber dennoch der Gedanke, dass die Rock-Elemente nicht untergehen. "Ja - das habe ich von Muscle Shoals mitgenommen. Eine meiner Lieblingsbands als ich aufwuchs war Traffic", verrät Nicole, "weil der Sound so groß und psychedelisch war. Wie sich herausstellte hatte David Hood mal in Traffic gespielt, und das war eine Offenbarung für mich - und dann gab es diesbezüglich auch kein halten mehr." Wenn Nicole sagt, dass "Italian Ice" eine Hommage an ihre Jugend in New Jersey sei, dann geht es dabei aber doch sicher um ihre ganz spezifische Sichtweise, oder? "Ja, in Stücken wie 'AM Gold' referenziere ich das, was ich damals im Radio hörte, in dem Song 'Captain' geht es um meinen Mann, der gleichzeitig auch mein Tourmanager ist, denn Tourmanager sind die am härtesten arbeitenden Menschen im Business. Er hat sich lange um mein Wohl gekümmert und dieser Song ist meine Art zu sagen: Entspann’ dich, jetzt kümmere ich mich mal als Kapitän um dein Wohl. Der Song 'St. Dymphna' wurde vom Besuch einer Bar gleichen Namens inspiriert. Ich hatte diesen Song im Frankie Valli-Stil und suchte nach einem Thema. Ich habe dann herausgefunden, dass St. Dymphna die Schutzheilige der psychisch Kranken ist - und das war dann sehr passend, weil es in dem Song darum geht, nicht den Verstand zu verlieren; was zufällig zu der Geschichte von St. Dymphna passte. 'Mind Eraser" entstand im Hause meines Freundes Carl Broemel von My Morning Jacket - ich hatte eine Melodie im Kopf, die ich als Roy Orbison Hommage anlegen wollte, er jammte im Radiohead-Jam dazu, bis schließlich eine Art Blur-Song dabei rauskam. Das war psychedelisch genug, um dann einen Text über ausgelöschte Gedächtnisse dazu zu schreiben. In 'Domino' geht es um die Domino-Theorie. Meine Idee war, dass ich mein Leben auskosten will, bevor die ganze Welt zusammenfällt wie eine Reihe von Dominosteinen. Und der letzte Track 'In The Splinters' handelt vom Hurricane Sandy, der damals die ganzen Städte an der Küste und natürlich die Boardwalks hinwegfegte. Sie waren alle zerstört. Man steht dann da - in den Splittern - und alles ist kaputt, aber du lässt dich nicht unterkriegen. Nachdem das Wasser sich zurückgezogen hat und die Wolken sich lichten, wirst du wieder auf die Beine kommen." Das ist ja ein versöhnlicher Schlusspunkt. "Genau das war meine Idee", ergänzt Nicole, "ich wollte nämlich hier etwas machen, was ich in der populären Musik zur Zeit nicht höre - nämlich Hoffnung zu vermitteln ohne die Realität zu beschönigen. Immer nur herumzulamentieren ist reine Zeitverschwendung. Man muss das Beste aus dem machen, was einem gegeben ist."

Das ist ja alles schön schlüssig und rund und konzeptionell nachvollziehbar. Warum aber heißt das Album eigentlich "Italian Ice"? Hat das auch mit einer Kindheitserinnerung in New Jersey zu tun? "Ja - 'Italian Ice' von Martinelli's gab es im Sommer immer mit Kirsch- oder Zitronen-Geschmack", berichtet Nicole, "eigentlich wollte ich das Album anders nennen, aber dann dachte ich mir, wie cool es wäre, den Namen zu verwenden, den ich mir als Würfelspielerin nach den Sessions zu den Musikaufnahmen in Muscle Shoals zugelegt hatte - und das war dann eben 'Italian Ice'." Was dann auch das Covermotiv erklärt, das eine Hand zeigt, die Würfen fallen lässt: "Alea iacta est".

Weitere Infos:
www.nicoleatkins.com
www.facebook.com/NicoleAtkinsOfficial
nicoleatkins.bandcamp.com
twitter.com/nicoleatkins
www.youtube.com/watch?v=LzbEuGrskso
www.youtube.com/watch?v=2bd3g7Y21o0
Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Pressefreigabe-
Nicole Atkins
Aktueller Tonträger:
Italian Ice
(Membran)
 

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