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23.06.2020
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PHOEBE BRIDGERS

"Mein Unterbewusstsein ist schlauer als ich"

Phoebe Bridgers
In den letzten drei Jahren eilte Phoebe Bridgers von Erfolg zu Erfolg. Erst rannte die junge amerikanische Singer/Songwriterin mit ihrem im Sommer 2017 veröffentlichten Debütalbum "Strangers In The Alps" überall offene Türen ein und katapultierte sich mit tonnenweise Charisma, bemerkenswertem songwriterischen Können und sicherlich auch durch ihr goldenes Händchen in puncto Social-Media-Selbstvermarktung praktisch aus dem Stand auf den Indie-Folk-Olymp, dann sorgten die viel beachteten Bandprojekte Boygenius (mit Julien Baker und Lucy Dacus) und Better Oblivion Community Center (gemeinsam mit Bright Eyes' Conor Oberst) sowie One-off-Kollaborationen mit The-National-Sänger Matt Berninger und The 1975 endgültig dafür, dass die smarte, gerade einmal 25-jährige Kalifornierin zu everybody's darling wurde. Entsprechend triumphierend klingt Bridgers auch auf "Punisher", ihrer hinreißenden neuen Solo-LP, auf der sie den mit ihrem Erstling eingeschlagenen Weg unbeirrt weiterverfolgt, trotz weiterhin schön düster-poetischer Texte aber in Sachen Dynamik, Melodie und Intensität einen gewaltigen Satz nach vorn macht. Dabei gelingt es ihr eindrucksvoll, zu Herzen gehende Lieder im Dunstkreis von Folk und Americana in hymnische Indie-Pop-Perlen zu verwandeln, die traditionell anmuten und doch vor Zeitgeist-Esprit sprühen.

Eigentlich hätten wir Phoebe Bridgers kurz nach Ostern persönlich in Berlin zum Gespräch treffen sollen - die Coronavirus-Pandemie verhinderte das. Stattdessen gibt sie die Interviews per Telefon aus ihrem Zuhause in Silver Lake, Los Angeles, und obwohl sie dabei die Gesprächspartner wie die ganz Großen bisweilen im 15-Minuten-Rhythmus abfertigt, ist schon nach ein paar Sätzen klar, dass sie trotz des Höhenflugs der letzten Jahre ganz die Alte ist. Sympathische Anflüge von Unsicherheit und Selbstkritik mischen sich unter eine typisch kalifornische Lässigkeit, wenn sie wie auch in ihren wie in Stein gehauenen Songs auch im Interview ehrlich, wortgewandt und clever die richtigen Worte findet und dabei so viel lacht, dass man sich fast einbilden könnte, die Pressetermine seien für sie mehr als nur eine lästige Pflichtaufgabe. Vielleicht ist daran auch ein wenig der Lockdown schuld: Ab einem gewissen Punkt sind vermutlich selbst die Gespräche mit Journalisten "somewhere in Germany" spannender, als nur daheim die Wände anzustarren.

Anders als viele andere Künstler hat Bridgers den Veröffentlichungstermin ihres neuen Albums nicht in der Hoffnung auf bessere Zeiten nach hinten verlegt. Wer allerdings glaubt, die Social-Media-affine Künstlerin haben einen Plan B für die Promotion ihrer LP in Pandemie-Zeiten in der Hinterhand, irrt. "Nein, ich fühle mich überhaupt nicht auf diese Situation vorbereitet, aber ich denke, wir müssen uns jetzt einfach der Lage gewachsen zeigen und tun, was in unserer Macht steht", sagt sie. Trotzdem genießt sie die unerwartete Freizeit schon ein wenig, gerade angesichts des vollgestopften Terminkalenders der letzten Jahre. "Ich freue mich sehr, dass ich momentan endlich mal die Zeit habe, mehr Musik zu hören oder einfach mal ein paar Dokumentationen zu gucken", verrät sie und muss auch gleich noch ein paar Tipps loswerden. "Hast du die Brainiac-Doku ['Transmission After Zero'] schon gesehen? Die ist der Knaller, die solltest du dir auf jeden Fall reinziehen. Die 'Country Music'-Dokumentation von Ken Burns ist auch toll!"

"Punisher" beschreibt Bridgers als Sequel, Fortsetzung ihres famosen Debüts - und wundert sich, dass manche Journalisten darin eine experimentelle Neuerfindung sehen. Natürlich betrachtet auch sie "Punisher" als Schritt nach vorn, aber vor allem sind für sie die spürbar ausgefeilteren, detaillierten Arrangements eine konsequente Weiterentwicklung dessen, was sie vor drei Jahren mit "Strangers In The Alps" begonnen hatte. Dabei war das spürbar erweitertes, bisweilen sanft elektronisch umspülte Klangspektrum gar nicht unbedingt das Ziel, sondern eher Resultat der Umstände, unter denen die Platte entstand. "Wirklich geplant war das nicht", gesteht sie. "Ich denke, bei uns Musikern geschieht das ganz von selbst. der Unterschied war lediglich, dass wir uns dieses Mal etwas mehr reingekniet haben. Wir hatten jetzt ein viel besseres Studio zur Verfügung, und natürlich waren auch ganz viele tolle Musiker dabei."

Entstand "Stranger In The Alps" noch im Hinterhof-Heimstudio von Produzent Tony Berg, wurde "Punisher" im altehrwürdigen, inzwischen von Berg geleiteten Sound City Studio in L.A. aufgenommen, in dem in den letzten 50 Jahren so unbedeutende Platten wie Neil Youngs "After The Goldrush", Fleetwood Macs "Rumours" oder Nirvanas "Nevermind" eingespielt wurden. Obwohl auf der langen Liste der "Punisher"-Mitstreiter auch neue Namen wie Schlagzeug-Legende Jim Keltner oder Tausendsassa Blake Mills auftauchen, achtete Bridgers auch hier auf Kontinuität. Auf dem Produzentensuhl saßen erneut Tony Berg und Ethan Gruska, die sich schon beim Erstling mit Oldschool-Wissen und Zeitgeist-Visionen perfekt ergänzt hatten, und unter den Mitstreitern finden sich die Musiker aus Bridgers' Touring-Band genauso wie ihre Mitstreiter von BOCC. Selbst ihre Kolleginnen von Boygenius haben Gastauftritte. Hatte sie ihr erstes Album, noch ohne Plattenvertrag, durch ihre Auftritte in diversen Werbespots selbst finanziert, geradezu heimlich aufgenommen, war der nun deutlich größere Pool an Ressourcen und Kollaborateuren für Bridgers Teil eines natürlichen Wachstumsprozesses. "Manche Leute fühlen sich dadurch eingeschränkt, aber ich hatte dieses Mal mehr Spaß und weniger Angst", erklärt sie. Die Zusammenarbeit mit anderen, da ist sie sicher, war der Schlüssel zu "Punisher".

Die Werke mit Boygenius und BOCC haben Bridgers aber nicht nur mit mehr Personal für ihre neue Solo-Platte versorgt. Ganz nebenbei hat sie mit dem Schlenker zu den Bandprojekten ganz lässig einen Weg gefunden, sich für "Punisher" alle Zeit der Welt nehmen zu können, ohne deswegen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu verschwinden, und entging so den Zeitdruck, den viele Künstler nach einem erfolgreichen Debüt spüren, wenn der Nachfolger gar nicht schnell genug erscheinen kann. Was wie ein brillant ausgetüftelter Plan klingt, war tatsächlich nichts als Zufall. "Ich hatte lange Zeit die Wahnvorstellung, dass meine nächste Platte nach 'Strangers In The Alps' mein zweites Soloalbum sein würde", gesteht Bridgers. "Dann ergaben sich aus heiterem Himmel all diese Möglichkeiten und ich sagte mir: 'Das musst du einfach machen, das hört sich fantastisch an.' Ich bilde mir aber auch ein, dass mein Unterbewusstsein schlauer ist als ich, denn die Songs, die ich damals für das Soloalbum vorgesehen hatte, waren ziemlich beschissen - außerdem hatte ich gerade einmal drei. Trotzdem war ich ganz versessen darauf, sofort die nächste Platte in Angriff zu nehmen. Tatsächlich habe ich diese lange Zeit aber wirklich gebraucht, um die Songs zu schreiben. Viele von ihnen sind auf Tournee [mit Boygenius und BOCC] entstanden, und ich hätte sicherlich über ganz andere Themen geschrieben, wenn ich nicht so viel unterwegs gewesen wäre." Sie hält kurz inne und lacht. "Letztlich war das genau das, was ich gebraucht habe - nur geplant war es nicht!"

Die ausgedehnte Entstehungsphase des neuen Albums ist eine Parallele zu "Stranger In The Alps", für das sich Bridgers auch viel Zeit gelassen hatte und für die ebenfalls die aus ihrer Sicht besten Songs erst spät entstanden. Trotzdem glaubt sie, dass dahinter mehr steckt als nur der typische Künstlerreflex, die neuesten Songs am meisten zu mögen. "In der Tat entstanden meine Lieblingssongs auf beiden Platten in der letzten Sekunde. Ich mochte auch die ersten Lieder, die ich für das neue Album geschrieben habe, aber ich glaube nicht, dass eine interessante Platte dabei herausgekommen wäre, wenn die Lieder alle diese Färbung gehabt hätten", sagt sie. "Erst auf den Tourneen mit meinen anderen Bands stellte ich fest: 'Mensch, die schnellen Songs zu spielen, macht ja den meisten Spaß!' Ohne diese Tourneen hätte ich vermutlich keine schnellen Nummern geschrieben, und am Ende wäre ein ziemlich depressives Album herausgekommen."

Auch so ist "Punisher" natürlich keine sorgenfreies Sunshine-Pop-Platte geworden. Vielmehr hat Bridgers ihre typische Symbiose aus niederschmetternder Ehrlichkeit und poppiger Eingängigkeit weiter perfektioniert und auf eine musikalisch breitere Basis gestellt. Dabei ist es immer wieder faszinierend, wie groß bisweilen die Kluft zwischen der Phoebe Bridgers ist, die ihrer Twitter-Anhängerschaft mit augenzwinkernd-aberwitzigen Einzeilern bestes Entertainment bietet, und der Phoebe Bridgers, die in ihren Songs bisweilen brutal offen und tiefgründig finstere Szenen aus ihrem Leben seziert. "Für mich ist die Musik etwas sehr Persönliches", erklärt sie. "Ich habe keine echte Band, und deshalb existieren die Songs lange erst einmal nur bei mir. Natürlich gibt es keine strikte Trennung und letztlich sind es nur verschiedene Facetten, aber mein privates Ich ist schon anders als mein öffentliches. Wenn ich einen Song allein aus meinen Tweets zusammenbauen würde, wäre er wohl ziemlich mies. Meine Musik ist dagegen eher wie eine Therapie. In den Songs thematisiere ich die Dinge, über die ich nicht jeden Tag sprechen möchte."

Gerade das bereits erwähnte Aufgreifen von Tourerlebnissen führt dazu, dass Bridgers' Texte bei den neuen Liedern eher Schlaglichter auf bestimmte Episoden werfen und Schnappschüssen gleichen, anstatt darauf abzuzielen, eine zusammenhängende Geschichte in Albumlänge zu erzählen. "Durch das Streaming sind die Hörgewohnheiten heute natürlich ganz andere", gibt sie zu bedenken. "Eigentlich gibt es gar keinen Grund mehr, zehn Stücke gleichzeitig zu veröffentlichen, es könnten genauso gut auch nur vier oder gleich 20 sein, weil heute eh jedes einzelne Lied gewissermaßen eine Single ist. Trotzdem mag ich es, komplette Platten zu hören, und ich mag auch Konzeptalben, aber ich habe nie den Drang verspürt, selbst eines in Angriff zu nehmen."

Die vielen neuen Eindrücke, die in den vergangenen Jahren im Zuge ihres kometenhaften Aufstiegs auf sie eingestürzt sind, brachten für Bridgers als Songwriterin Vor- und Nachteile mit sich. Einerseits hatte sie eine Fülle von neuen Erfahrungen, die als Inspiration herhalten konnten, andererseits hatte sie kaum Zeit, all das wirklich zu verarbeiten. "Abstand ist wichtig", sagt sie. "Lebenserfahrung aufzubauen ist das Beste, was dir passieren kann, aber ich benötige in der Regel mindestens zwei Jahre, bis ich überhaupt versuche, etwas Geschehenes in Worte zu fassen." Dabei geht es ihrs nicht zwingend darum, durch die Thematisierung ihrer Probleme in den Songs auch gleich mögliche Lösungen mit anzubieten. Der Weg ist gewissermaßen das Ziel, auch wenn er wie auf "Punisher" an Einsamkeit und Finsternis vorbeiführt, bis er am Ende bei der Apokalypse ankommt. "Ein Lied an sich dient erst einmal nur dazu, mir die Dinge von der Seele zu schreiben", erklärt sie. "Anschließend in Interviews darüber zu reden und mit Freunden, die meine Songs gehört haben, über meine Gefühle zu sprechen - das ist ein bisschen wie Therapie. Mit den Liedern sage ich zunächst nur: 'So fühle ich mich'. Im Anschluss daran ständig darüber zu sprechen, das ist das eigentliche Verarbeiten. An dem Punkt bekomme ich die guten Ratschläge oder kann loslassen." Man könnte auch sagen: Mit "Punisher" ist Phoebe Bridgers mehr denn je bereit, sich selbstbewusst der Dunkelheit zu stellen.

Weitere Infos:
www.phoebefuckingbridgers.com
www.facebook.com/phoebebridgers
twitter.com/phoebe_bridgers
www.instagram.com/fake_nudes
phoebebridgers.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Frank Ockenfels-
Phoebe Bridgers
Aktueller Tonträger:
Punisher
(Dead Oceans/Cargo)
 

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