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07.08.2020
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JAYE JAYLE

Völlig unerwartet

Jaye Jayle
Das neue Jaye-Jayle-Album, "Prisyn", entstand durch eine glückliche Fügung. Eine Auftragsarbeit führte Band-Mastermind Evan Patterson mit Ben Chisholm (White Horse, Revelator, Chelsea Wolfe) zusammen, doch weil die Zeit knapp und der Amerikaner gerade auf Tournee war, nutzte er einfach die technischen Hilfsmittel, die ihm zur Verfügung standen: sein iPhone und die App GarageBand. Begeistert vom ersten gemeinsamen Track, beschlossen die zwei, ihre ursprünglich auf diesen einen Track beschränkte interaktive File-Sharing-Kollaboration in Albumlänge fortzusetzen - und das auch schon vor Corona-Zeiten in bester Social-Distancing-Manier, ohne sich auch nur einmal persönlich zu treffen.

Mit seiner legendären Band Young Widows fand Evan Patterson einst den Weg von kantigem Hardcore zu von Gothic-Folk geküsster Rock-Wucht, und bei den einst als Experimental-Soloprojekt gestarteten Jaye Jayle und an der Seite seiner Frau Emma Ruth Rundle widmet er sich am liebsten den dunklen Seiten der menschlichen Existenz. Für "Prisyn" ging die Inspiration nun buchstäblich auf Reisen: Unterwegs entstanden Lieder in einem düster brodelnden Elektronik-Sound, der erstmals ganz ohne Gitarren auskommt. Mal diente eine lange Fahrt über die Highways von Kansas als Inspiration, mal waren es bewusstseinserweiternde Erfahrungen in Deutschland, Klänge und Rhythmen spiegeln so individuelle Tourerlebnisse wider. Wie es dazu kam und vieles mehr verriet uns Patterson vor einigen Wochen, auf dem Höhepunkt der #BlackLivesMatterProteste in den USA, im Gaesteliste.de-Interview.

GL.de: Evan, wie geht's?

Evan Patterson: Ich bin in meinem Haus in Louisville, Kentucky. Heute ist es hier extrem heiß. In der vergangenen Woche hörte man aufgrund der Proteste überall Schüsse, Hubschrauber und Sirenen. Ich bin zu 100% für diese Bewegung. Sie ist lange überfällig.

GL.de: Was hat sich am meisten verändert, seit du mit Jaye Jayle angefangen hast?

Evan Patterson: Als ich mit Jaye Jayle anfing, war ich in New Mexico und schrieb Songs, an denen ich nicht lange herumschrauben wollte. Inzwischen habe ich mich nach drei Jahren mit einer echten Band zu einem vollelektronischen Album vorgearbeitet, das fast völlig ohne menschliche Interaktion zustande gekommen ist. Anfangs gab es nur mich und die Gitarre. Heute spielt die Gitarre unbewusst eine immer kleinere Rolle.

GL.de: In einem Interview mit Cathy Pellow, der Chefin deines Labels Sargent House, hast du erwähnt, dass die Arbeit an neuen Songs auf Tour eine Möglichkeit für dich war, etwas Produktives zu tun, anstatt die Zeit einfach backstage zu verschwenden. Dass daraus ein komplettes Album entstand, war aber dennoch eine Überraschung, oder?

Evan Patterson: Nachdem Ben die Musik zu "I Need You" fertig hatte, schlug er vor, auf die gleiche Weise ein ganzes Album zu machen. Ich verfasste ein Stück auf meinem Handy und schickte es ihm. Er fügte seine Parts hinzu und fertig! Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich auf diesen Songs singen sollte oder jemand anders. Wir haben uns über verschiedene Sänger Gedanken gemacht und sogar ein Instrumental-Album in Betracht gezogen. Schließlich beschloss ich, es zumindest zu versuchen, selbst auf diesen Liedern zu singen. Dazu druckte ich Gedichte und Geschichten aus, die ich auf Reisen geschrieben hatte. Irgendwie passte alles zusammen. Das war völlig unerwartet.

Gl.de: In gewisser Weise hat Jaye Jayle als Soloprojekt angefangen, entwickelte sich dann zu einer echten Band und jetzt nahtlos zu einer Kollaboration mit "externen" Mitstreitern weiter. Siehst du darin eine natürlichen Prozess?

Evan Patterson: Ich bin nie wirklich ein Solokünstler gewesen - zumindest nicht bis zu den akustischen Demos ("An Alcoholic Blue Bird"), die ich gerade während der Pandemie veröffentlicht habe. Alle anderen Jaye-Jayle-Songs waren stets eine Art Zusammenarbeit, ähnlich meiner Zusammenarbeit mit Ben. Der Unterschied bei diesem Album ist, dass Ben und ich nicht in derselben Stadt leben, wir nie zusammen Musik im selben Raum gemacht haben und unsere gesamte Kommunikation über unsere Telefone abgewickelt wurde.

GL.de: Apropos Mitstreiter: David-Lynch-Kollaborateur Dean Hurley, der das letzte Jaye-Jayle-Album "No Trails and Other Unholy Paths" abgemischt hatte, zeichnet dieses Mal für das Mastering verantwortlich. Abgesehen davon, dass du ein großer Fan seiner Arbeit bist - wolltest du auf diesem Wege auch ein bisschen mehr Kontinuität erreichen, angesichts der ansonsten komplett anderen Umstände und Mitstreiter?

Evan Patterson: Deans Beteiligung gab mir eine gewisse Sicherheit. Wir brauchten für das Album noch eine weitere Meinung, und ich vertraue ihm, wenn es um meine Musik geht. Ich hoffe, dass ich mit Dean und Ben auch bei zukünftigen Alben zusammenarbeiten kann.

GL.de: Als bekennender Fan von Iggy Pops "The Idiot" hast du ursprünglich mit dem Gedanken gespielt, die Songs instrumental unter dem Titel "Songs For Iggy" zu veröffentlichen. Was reizt dich so an seiner Stimme, dass du - wenn auch nur in der Theorie - ein ganzes Album aufgenommen hast, auf der er singen sollte?

Evan Patterson: Auf "The Idiot" vereint Iggy eine ganze Welt an Einflüssen in seiner Stimme - und ist dabei selbst sicherlich stark von David Bowie beeinflusst gewesen. Selbst in seiner Zeit bei The Stooges schwang in seiner Stimme immer etwas Verachtung mit – das war gleichermaßen beunruhigend und fesselnd. Als Fan wäre es mir eine große Ehre, eine Platte für ihn zu machen. Mit der Idee, das Album "Songs For Iggy" zu nennen, wollte ich seinen Einfluss unterstreichen und meine Dankbarkeit in Form eines Kunstwerks ausdrücken, das selbst jenseits seiner oder meiner Lebensspanne noch existiert.

GL.de: Vielleicht ist es nur die deutsche Perspektive, aber das Stück "The River Spree" klingt wie das heimliche Herzstück des Albums. Ist das Iggys "The Idiot" geschuldet, das ja in Berlin entstand?

Evan Patterson: Ich bin mir nicht sicher, warum, aber "The River Spree" fühlte sich in der Tat stets wie das Herzstück der Platte an. Ich erinnere mich, wie ich meinen Teil fertigstellte und ihn an Ben sandte. Seine Antwort war "frei schwebend" - und genau das ist dieser Song! Selbst ohne das narrative Element ist er eine sofortige Realitätsflucht. Die Musik bot sich zu meiner Acid-Story aus Berlin geradezu an, weil der Sound des Songs am besten das Gefühl der Verwirrung und die Realisierung einer psychedelischen Reise einfängt. Meinen "The Idiot"-Fimmel habe ich immer klar vor Augen, wenn ich in Berlin bin. Das Gleiche gilt für mein Interesse an Can, wenn ich in Köln bin. Der Einfluss dieser Künstler ist unermesslich - nicht nur für mich, sondern auch für viele andere Experimentalkünstler.

GL.de: Mit dem letzten Lied der Platte ("From Louisville") geht es derweil zurück in deine Heimat. Wie würdest du den Einfluss Kentuckys auf dich als Mensch und Künstler beschreiben?

Evan Patterson: Ich hätte sicherlich eine ganz andere Sichtweise auf Musik und Kunst ganz allgemein, wenn ich nicht die letzten 22 Jahre als hauptberuflicher Musiker verbracht hätte. Hier in Kentucky hatte ich die Möglichkeit, mit einem schmalen Einkommen über die Runden zu kommen und genau die Art von Kunst zu machen, die mir vorschwebte. Das heißt allerdings nicht, dass Kentucky ein sicherer Hafen für Künstler ist. Das Wetter ist unbeständig. Die Künstlergemeinde ist überschaubar und Alkoholismus ist allgegenwärtig. Bisweilen trage ich mich mit dem Gedanken, wegzugehen, aber bislang ist das noch nicht passiert.

GL.de: Bei diesem Album war nicht nur die Entstehung sehr ungewöhnlich, es klingt auch vollkommen anders als deine früheren Werke. Angesichts der Tatsache, dass du dich letzten Endes doch dazu entschlossen hast, selbst auf der Platte zu singen - hast du je darüber nachgedacht, auch noch Gitarren hinzuzufügen?

Evan Patterson: Die Platte vollkommen elektronisch zu halten, war seit Beginn an das Konzept. Vielleicht spiele ich live hier und da Gitarre bei einigen Songs, aber das ist noch nicht endgültig entschieden.

GL.de: Keyboards und Synthesizer sind kein völliges Neuland für dich, trotzdem hast du bislang Songs vor allem auf der Gitarre geschrieben. Hat der Verzicht auf die Gitarre dazu beigetragen, dass du gewissermaßen zu der Art von künstlerischer Naivität zurückkehren konntest, die man nur hat, wenn man sich nicht sicher ist, was zur Hölle man da eigentlich tut, und die mit wachsender Erfahrung schnell verschwindet?

Evan Patterson: Das war nicht die ursprüngliche Idee, aber sobald es an die Live-Umsetzung geht, wird es hundertprozentig eine "Was zur Hölle tue ich hier eigentlich"-Situation sein - und das ist sehr aufregend. Ich sehe den Tagen, an denen Live-Musik wieder möglich ist, mit einer gewissen Nervosität entgegen, denn ich muss an einer Umsetzung arbeiten, die komplett anders sein wird als alles, was ich zuvor auf der Bühne gemacht habe.

GL.de: Worin besteht für dich der größte Unterschied zwischen Songs, die auf der Gitarre oder mit Elektronik/Keyboards entstanden sind?

Evan Patterson: Die Gitarren-Songs entstehen in der Gewissheit, dass dazu gesungen wird. Die Lieder mit Synthesizern sind experimenteller und improvisierter.

GL.de: Für Nicht-Musiker ist es bisweilen schwer zu begreifen, dass es genauso aufregend sein kann, Musik per Mausklick am Computer oder per Touchscreen am Mobiltelefon zu erschaffen anstatt mit echten Instrumenten in Händen. Wie passt die Technologie in deinen kreativen Prozess? Wo haben die Maschinen ihre Stärken, wo die Menschen?

Evan Patterson: Für mich sind Instrumente eher simple Werkzeuge als komplexe Maschinen. Wie komplex ein Arrangement ist, bleibt meine Entscheidung, nicht die der Maschinen. Mir ist es egal, ob ich meine Stimme, eine Gitarre, Schlagzeug, Synthesizer, Klavier oder ein Handy benutze. Ich verwende, was mir gerade zur Verfügung steht. Werkzeuge gibt es überall. Wir müssen uns nur entscheiden, wie wir sie einsetzen.

GL.de: Gewissermaßen haben Ben und du schon in Zeiten vor COVID-19 eine typische "Pandemie-Platte" gemacht. Wo liegen für dich die Vor- und Nachteile in der persönlichen Zusammenarbeit im gleichen Raum verglichen mit dem Austausch von Ideen und Files per E-Mail?

Evan Patterson: "Prisyn" fertigzustellen war drei Monate lang praktisch alles, was ich getan habe. Dieser Teil der Arbeit war weniger kompliziert, jedoch stärker abgeschottet, gleichzeitig aber auch überwältigend und der Arbeit mit der Band gar nicht so unähnlich. Manche Bandsongs schwimmen erst einmal fünf Jahre im Think Tank, und anschließend muss ich einen Weg finden, sie der Band in einer Art und Weise zu präsentieren, die es den Musikern möglich macht, sie zu spielen. Außerdem improvisiert die Gruppe, und wir probieren manchmal monatelang Ideen aus, die zu nichts führen. Für "Prisyn" dagegen haben wir mit einer einzigen Ausnahme alle Stücke verwendet, die ich komponiert habe. Ich kann nicht sagen, dass mir die eine Arbeitsweise lieber ist als die andere, und habe deshalb schon darüber nachgedacht, in Zukunft beide Methoden zu vereinen.

GL.de: Wie siehst du das Verhältnis von Klang zu Komposition? Am Ende bilden sie eine Einheit, aber wie ist das während des Entstehungsprozesses?

Evan Patterson: Jedes Stück ist anders. Ich muss instinktiv die richtige Formel finden. Für gewöhnlich mag ich Momente der sanften Auflösung. Mir gefällt es, wenn der Anfang eines Stücks verwirrend ist, sein Ende dagegen geradliniger.

GL.de: Was hilft dir, kreativ zu sein, und was sind die größten Ablenkungen auf dem Weg dorthin?

Evan Patterson: Die Ablenkungen sind allgegenwärtig: Social Media, Essen, Trinken, selbst der gewöhnliche Tagesablauf auf Tournee stellt eine große Ablenkung dar. Am besten macht man sich über die Ablenkungen keine Gedanken. Am liebsten denke ich an gar nichts. Offen für alles bin ich am kreativsten.

GL.de: Zum Schluss: Die COVID-19-Pandemie hat auch deine Pläne für 2020 ordentlich durcheinandergewirbelt. Bei allem Mitgefühl für die Betroffenen - kannst du der Situation dennoch etwas Positives abgewinnen?

Evan Patterson: Ich plane gerade nur von Tag zu Tag. Wir sind in Gesprächen für eine Tournee im kommenden Jahr, aber daran will ich gerade noch gar nicht denken. Zu Hause mit meiner Familie sein zu können, ist ein großer Trost, denn dazu hatte ich schon seit Jahren keine Gelegenheit mehr. Ich mache mir um meine Karriere keine Sorgen. Ich mache mir auch um die Zukunft keine Sorgen. Ich hoffe, dass ich morgen aufwache und einen weiteren Tag mit Wertschätzung und Mitgefühl für meine Umgebung überstehen kann.

Weitere Infos:
www.facebook.com/jayejayle
www.instagram.com/jayejayle
sargenthouse.com/jaye-jayle
jayejayle.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -A.F. Cortes-
Jaye Jayle
Aktueller Tonträger:
Prisyn
(Sargent House/Cargo)
 

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