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04.09.2020
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WIDOWSPEAK

Zurück zum Kern der Dinge

Widowspeak
"Wenn es darum geht, Musik zu machen, die leichtfüßig erscheint, sich aber tief in den Ohren und im Bewusstsein der Hörer festsetzt, sind nur wenige Künstler so geschickt wie Widowspeak", schreibt eine US-Journalistin unlängst über, "Plum", das großartige neue Werk des New Yorker Duos – und besser kann man es kaum ausdrücken. Dass Molly Hamilton und Robert Earl Thomas auf ihrem famosen fünften Album textlich ungewohnt konkret werden und die Irrungen des Spätkapitalismus unter die Dream-Pop-Lupe nehmen, mag neu und unerwartet sein, klanglich dagegen kehren sie nach dem düster-aggressiv gestimmten Vorgänger "Expect The Best" nun zum alten melodieselig-warmtönenden Sound von "All Yours" aus dem Jahre 2015 zurück, ohne sich nur zu wiederholen. Gemeinsam mit Produzent Sam Evian (Anna Burch, Cass McCombs, Hannah Cohen) finden Widowspeak hier neue Nuancen zwischen 60s-Psych-Rock und 90s-Dreampop, während ein spürbar gestrafftes Klangbild dafür sorgt, die diese zehn Songs mit bisher ungekannter Unmittelbarkeit glänzen und "Plum" so zum bislang schönsten, nein, besten Widowspeak-Album machen.

Widowspeak
Widowspeak sind keine Band, die den Erfolg erzwingen will. Anstatt die Spielchen der Musikindustrie mitzuspielen und sich auf den gängigen Social-Media-Kanälen ständig selbst ins rechte Licht zu setzen, übt sich das nach einem Abstecher nach Upstate New York inzwischen wieder in Brooklyn heimische Duo lieber in vornehmer Zurückhaltung. Doch auch wenn der ganz große Durchbruch deshalb ausblieb: Über die haben sich Molly Hamilton und Robert Earl Thomas, der in der Band wie im Leben ihr Partner ist, eine Fangemeinde erspielt, von der viele Künstler, die ständig und überall die Werbetrommel rühren, nur träumen können. Verbiegen musste sich das Duo dafür nie. Auch vor dem just veröffentlichten Album "Plum" legen die beiden klugen Köpfe eine mehrjährige Pause ein und wählten ihre nächsten Schritte mit bedacht, anstatt sie sich von den Gesetzen des Musikmarktes diktieren zu lassen. "Nach der Veröffentlichung von "Expect The Best" im Jahre 2017 sind wir in den USA und in Europa auf Tour gewesen, und als wir zurückkamen, fühlte ich mich ziemlich ausgebrannt", gesteht Hamilton, als wir sie zwei Tage vor der Veröffentlichung des neuen Albums daheim erwischen, während ihr Partner seiner Lohnarbeit nachgeht. "Nicht alle Songs auf der letzten Platte zeichnet eine bedrückte Stimmung aus, dennoch ist es bei einigen der Fall. Sie handeln davon, dass ich unglücklich über den Lauf der Dinge war, große Themen, die damals noch keine Lösung hatten. Damals war ich mir unsicher, ob Widowspeak noch das Richtige für mein mentales Wohlbefinden ist. Weil ich mit Lampenfieber zu kämpfen habe, kann vordergründig alles prima sein, wenn wir auf Tour sind, trotzdem finde ich nie zur Ruhe. Nach der Tournee war mir klar, dass ich eine Pause brauchte."

Die Musik an sich war für Hamilton aber weiter eine Herzensangelegenheit. Deshalb schieb sie weiter Songs, ursprünglich mit dem Gedanken, ein Soloprojekt aus der Taufe zu heben. Doch während ihr Partner Thomas genau das tat - er veröffentlichte 2018 seinen viel beachteten Alleingang "Another Age" -, blieb es für Hamilton bei der Idee, denn mit der Zeit kristallisierte sich heraus, dass die ein wenig politischer geratenen Songs mit stärker kommentierenden Tonfall, das nächste Kapitel für Widowspeak sein würden. "Die neuen Lieder, die ich schrieb, waren weniger flüchtig und spürbar unkomplizierter und direkter", erinnert sie sich. "Ich wollte die Geschichte der letzten Jahre erzählen, ohne mich dem Druck einer Deadline auszusetzen. Gleichzeitig wollten Rob und ich klanglich zu einem Sound zurückkehren, der nicht die Schwere von "Expect The Best" hat, sondern eher an "All Yours" oder auch unser erstes Album anschließt, denn wir beide haben ein wenig die Leichtigkeit vermisst, die diese Platten haben."

Nachdem "Expect The Best" auf das Live-Set-up von Widowspeak zugeschnitten war, hatte die ausgiebige Bühnenauszeit - Hamilton kann sich nur an ein oder zwei Konzerte in den letzten drei Jahren erinnern - zur Folge, dass "Plum" spürbar leichter und organischer ausfällt. "Aus meiner Sicht kehren wir mit dieser Platte zum Kern der Dinge zurück, zu dem, was uns vor zehn Jahren als Band zusammengeführt hat und was die Sache zu etwas Besonderem gemacht hat, als wir damals unsere erste Platte aufgenommen haben", sagt Hamilton. "Wir sind nie darauf aus, ein großes stilistisches Statement abzuliefern, aber in der Vergangenheit haben wir manchmal mit anderen Sounds experimentiert und uns auf neues Terrain vorgewagt, bevor wir wieder zu dem zurückgekehrt sind, was für uns stets im Zentrum stand. Das ist etwas, das mir an unserer Band ganz besonders gefällt, denn wir waren in unserem Sound nie gefangen. Das Mengendiagram des Musikgeschmacks von Rob und mir beinhaltet verschiedene Genres aus der Indierock-Welt und darüber hinaus, aber ich habe das Gefühl, dass 'Plum' näher an der gemeinsamen Schnittmenge ist als etwa 'Expect The Best'."

Widowspeak
Der vielzitierte Blick zurück nach vorn ist etwas, das heute für immer weniger Künstler eine Rolle zu spielen scheint. Vielmehr scheint es den meisten heute darum zu gehen, nah an Trends und Zeitgeist die immer geringer werdenden Chancen auf kommerziellen Erfolg auszuloten, auch wenn das zur Folge hat, dass sich nicht wenige Bands mit jeder ihrer Platten neu erfinden. Widowspeak dagegen bleiben lieber sich selbst treu. "Dass andere Musiker ihre Bands als breite Spielwiese betrachten und nichts unmöglich erscheint, hat natürlich auch seine Berechtigung, aber an Widowspeak schätze ich besonders, dass wir uns nie zu weit von dem entfernen, was mich an der Band von Anfang an besonders gereizt hat", bestätigt Hamilton. "Außerdem gefällt es mir, dass ich einen gewissen Abstand zu meiner Arbeit habe, während bei vielen anderen Musikern, gerade in Zeiten von Social-Media, ihre Persönlichkeit eins mit ihrer Band zu sein scheint."

All das gab auch den Low-key-Rahmen für die Arbeit an "Plum" vor. Aufgenommen haben Widowspeak das Album in der Abgeschiedenheit der New Yorker Catskills in Sam Evians Heimstudio Flying Cloud. "Keine unserer Platten ist in einem teuren Studio entstanden. Wir haben stets mit Leuten zusammengearbeitet, die sich ihr Set-up selbst zusammengebastelt hatten", verrät Hamilton. "Sam lebt nicht weit von unserem alten Zuhause in Kingston entfernt, und wir mochten die Platten, die er gemacht hat. Er hat sich in seinem Haus mitten im Nirgendwo ein Studio eingerichtet, das nicht erdrückend professionell ist, sondern dir das Gefühl gibt, bei einem Freund daheim aufzunehmen - was ja letztlich auch stimmt. Er hat eine sehr spezielle Vorstellung von Sound, und wir waren neugierig, wie er das auf unsere Songs anwenden könnte, und sind sehr glücklich mit dem, was er in die Arbeit eingebracht hat."
Wie alle vorangegangenen Platten des Duos hat "Plum" deshalb trotz eines hohen Wiedererkennungswertes eine betont eigene Klangfarbe. "Mir ist es wichtig, dass Inhalt und Sound sich gut ergänzen", betont Hamilton. "Wenn wir eine neue Platte in Angriff nehmen, versuche ich zunächst die Stimmungslage zu eruieren, und das gibt dann vor, welchen Referenzen wir uns widmen, ganz egal, ob es Sounds aus Shoegaze, Psychedelic oder Country sind. Es geht stets darum, dem Inhalt und der Stimmung der Songs gerecht zu werden. Dieses Mal waren allerdings auch die Texte besonders wichtig. Es ging mehr als zuvor um den Inhalt der Songs als allein um die Stimmung. Ich denke, speziell mit den Liedern auf 'Plum' ist unser Songwriting textlich präsenter geworden."

Lieder wie "Money" ("Will you get out what you put in? It's too late to start over again") verdeutlichen Hamiltons Ringen mit ihrer Sinnkrise der letzten Jahre und dem daraus resultierenden Rückzug aus der Öffentlichkeit. "Ich wollte mich nicht ständig selbst vermarkten müssen, und ich wollte auch mit der ganzen Musikindustrie nichts mehr zu tun haben", gesteht Hamilton. "Ich glaubte nicht, dass mir die Maschinerie noch irgendwie nützen könnte. Für mich war sie einfach nur noch eine Last." Anstatt sich den zermürbenden Mechanismen der Musikindustrie in den Rachen zu werfen und den Erfolg mit der Brechstange zu erzwingen, zogen sie und Thomas sich lieber aus der Öffentlichkeit zurück und gingen regulären Jobs nach, wenngleich auch das kein Idealzustand war, wie der Song "Breadwinner" und Zeilen wie "Always, always bringing your work home" unterstreichen. Heute ist sie froh, dass sie so die Integrität der Band schützen konnte. "Wir haben nie etwas gemacht, nur weil wir darauf spekuliert haben, dass es uns erfolgreicher machen könnte", sagt sie. "Jobs neben der Musik zu haben, hat es mir erlaubt, mich der Arbeit mit Widowspeak ohne Druck zu widmen - obwohl ich anders als Rob, der in der holzverarbeitenden Industrie so etwas wie eine Karriere hat, immer nur Tätigkeiten angenommen habe, die mir größtmögliche terminliche Flexibilität erlaubt haben. Mit inzwischen 32 ist mir auch durchaus bewusst, dass ich mir langsam Gedanken darüber machen sollte, wie meine Nebenbeschäftigungen dauerhafter zu meinem Lebensunterhalt betragen können, aber angesichts der allgegenwärtigen Ungewissheit ist natürlich jetzt der falsche Zeitpunkt, sich über eine Karriere Gedanken zu machen."

Widowspeak
Vielleicht auch deshalb ist Hamilton bereits jetzt in Gedanken schon bei der nächsten Platte ihrer Band, mit der das Klanggerüst von Widowspeak mehr denn je auf das absolute Minimum heruntergebrochen werden könnte. Denn die Quarantäne haben Hamilton und Thomas dazu genutzt, die klanglichen Ideen von "Plum" neu zu interpretieren. Zunächst stand dabei in erster Linie die Vorbereitung von Live-Stream-Konzerten im Vordergrund, für die sich die zwei der kreativen Herausforderung stellten, ihre Lieder für lediglich zwei Stromgitarren und Stimme umzugestalten. Schon bald wurde den beiden allerdings klar, dass sie so unbewusst womöglich über einen Ansatz für neue Songs, für eine weitere Platte gestolpert waren. "Im Laufe des Prozesses ist uns bewusst geworden, dass wir tatsächlich in der Lage sind, uns selbst aufzunehmen, und dass das Ergebnis magisch klingen und sich bruchlos in den Rest unseres Tuns einfügen kann. Ich muss auch gestehen, dass ich ein Faible für Homerecordings habe, solange die Qualität nicht zu grottig ist. Wer weiß, vielleicht nehmen wir die nächste Widowspeak-Platte wirklich allein auf!"

Hamilton geht es dabei aber nicht allein darum, das in Pandemie-Zeiten erst recht knappe Budget zu entlasten und den logistischen Aufwand möglichst gering zu halten. Auch die Idee, zur Simplizität des ersten, damals nur auf Bandcamp veröffentlichten Demos von Widowspeak zurückzukehren, gefällt ihr sehr. "Unsere ersten Aufnahmen haben wir mit dem eingebauten Mikro unseres Macs gemacht - viel rustikaler kann man's kaum machen", erinnert sie sich lachend. "Wenn ich mir das heute anhöre, denke ich: 'Hui, das klingt ja ganz schön … fürchterlich', gleichzeitig sorgt die schlechte Aufnahmequalität aber auch für das gewisse Etwas." Dabei ist ihr auch bewusst, dass eine reduzierte Besetzung die Qualität des Songwritings viel stärker in den Mittelpunkt rückt. "In den letzten Jahren hatten Produktionswerte in der Musikkultur einen höheren Stellenwert als das Songwriting, der Style eines Liedes war wichtiger als seine Substanz. Es ist sehr interessant zu sehen, wie all die Live-Streams der Musikkultur ihre Fassade rauben und es plötzlich wieder um die Frage geht: Hast du einen guten Song geschrieben oder nicht? Kannst du ihn auf einer Akustikgitarre spielen oder geht ohne Tontechniker und Produzent im Hintergrund gar nichts?"

Dass die zwei alles andere als typische Technik-Nerds sind und sich stattdessen lieber auf die Basics - ein paar gut klingende Mikrofone und eine Bandmaschine - konzentriert haben, sieht Hamilton dabei nicht als Problem an. "Ich denke, das Wichtigste ist, einfach viel auszuprobieren und zu lernen, wie man richtig mit dem Equipment umgeht, das man zur Verfügung hat", sagt sie. "Das braucht natürlich Zeit - aber davon haben wir derzeit wahrlich mehr als genug!"

Weitere Infos:
widowspeakforever.com
www.facebook.com/widowspeakband
www.twitter.com/widowspeaking
www.instagram.com/widowspeaking
widowspeak.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Widowspeak-
Widowspeak
Aktueller Tonträger:
Plum
(Captured Tracks/Cargo)
 

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