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22.09.2020
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FENNE LILY

Gegen das Vergessen

Fenne Lily
Fenne Lily macht es wirklich niemandem einfach. Schon gar nicht sich selbst. Die junge Songwriterin aus Bristol wandte sich bereits auf ihrem Debütalbum "On Hold" von 2018 von dem Label "Folk-Singer" ab, das ihr aufgepfropft wurde, weil sie sich im Vorfeld, im Rahmen ihrer Stream- und Web-Karriere, mit ihren zerbrechlichen, melancholischen Balladen wie "Top To Toe" weitestgehend als solche präsentiert hatte. Es hätte jedoch zu denken geben sollen, dass Lily live meist eine elektrische Gitarre verwendete - und als dann noch John Parish ihren Song "Brother" produzierte, war dann endgültig klar, dass die Lagerfeuer- und Bedsitter-Szene nicht so Lilys Ding sein konnte. Wie auch teilweise schon auf "Hold On" setzt sich Lily mit ihrem neuen Album "Breach" musikalisch in einer rauere, erdigere Richtung ab - auch wenn sie nach wie vor mit den Besten um die Wette hauchen kann. Auf "Hold On" ging es quasi um eine Chronologie des Zerbrechens von Lilys erster ernsthafter Beziehung, die sie mit viel Schmerz, Erkenntnisgewinn und großer Ernsthaftigkeit sezierte und analysierte. "Breach" schließt nun an "On Hold" an - allerdings nicht im Sinne einer erzählerischen Fortsetzung, sondern einer tiefgreifenden, psychologischen und philosophischen Analyse der Hintergründe, die Fenne Lily zu dem machen, was sie heute ist.

Der Titel des Albums entstand - wie vieles - als eine Wortspielerei aus den Begriffen "Breech" (Steißlage - denn Lily wurde aufgrund einer Steißlage durch einen Kaiserschnitt entbunden) und "Breach" (Durchbruch). Was war denn der Hintergedanke dabei? "Nun auf dem Album beschäftige ich mich viel mit meiner Kindheit und natürlich auch damit, was mit meinen Eltern während dieser Zeit passierte. Deswegen schlich sich der 'Breech'-Aspekt ein. Und zweitens ging es darum, dass ich mich nie wohl gefühlt hatte, bevor ich in meine eigene Wohnung gezogen bin. Ich wollte also deutlich machen, dass ich mich davon gelöst hatte, die Umstände und Erfahrungen meiner Beziehungen dafür verantwortlich zu machen, wie ich mich fühlte. Der Durchbruch war dann für mich die Erkenntnis, dass es okay für mich ist, alleine und nicht verliebt zu sein." Wobei die Geschichte seit "On Hold" dann weitererzählt wird. Lily singt dabei ja grundsätzlich über sich selbst. Gibt es denn wenigstens ein wenig Fiktion in ihren Songs - oder muss alles wörtlich genommen werden? "Also auf dem ersten Album ging es definitiv nur um mich und was mir passiert ist", gesteht Lily, "aber auf diesem Album habe ich zumindest versucht, Charaktere für mich und andere zu erfinden. Ich mag nämlich durchaus die Geschichts-Erzähler-Elemente von anderen wie zum Beispiel Big Thief. Adrienne Lenker schreibt gleichzeitig über sich wie auch andere. Dieser Ansatz nimmt nämlich den Druck weg, wenn man auch über andere oder einer anderen Perspektive singen kann. Es gibt da zum Beispiel diesen Song 'Elliot' auf der Scheibe, der teilweise von meinem Vater handelt und teilweise von einem Mann, den ich traf - die ich dann zu diesem Charakter namens 'Elliot' verschmolz." Es ist dann also eine Art Konstrukt? "Ja, es gibt nichts auf der Scheibe, das ich nicht selbst erlebt habe, aber ich habe Gefühlen, die ich lange nicht selbst gefühlt habe, erlaubt, neben meinen eigenen zu existieren. Es ist eine Art Collage aus meinem und dem Scheiß anderer Leute. Darf man hier eigentlich fluchen?" Ja, klar darf man das.

Der Hintergrund der Frage war der, dass es ja irgendwann mal langweilig sein könnte, über sich selbst zu singen, weil einem ja normalerweise gar nicht so viel erwähnenswertes passiert. "Oh - darüber habe ich noch nicht nachgedacht", zögert Lily, "während der Quarantäne habe ich noch gar nicht so viel geschrieben, aber wenn ich es mir überlege, dann handelt das, was ich geschrieben habe, weniger von mir als vielmehr von abstrakten Gefühlen, die ich auf einen Charakter projiziert habe. Ich denke also, dass ich langsam an Sachen interessiert bin, die zwar grob auf mir basieren, aber auch anderes beinhalten. Andererseits gibt es auch so viele Gefühle, die ich vergessen habe, dass ich unterbewusst versuche, diese wieder hervorzuholen. Es gibt z.B. diesen Song namens 'Someone Else's Trees' und der handelt davon, dass ich als Kind ein Mal aufgehört hatte zu atmen - woran ich mich selbst natürlich nicht erinnern kann, aber ich erinnere mich an die Reaktion meiner Mutter. Das sind also Sachen, die ich vergessen hatte und die ich auf diesem Wege in meine Songs einweben möchte." Einen Plan für ein Thema gibt es also vorher nicht? "Weniger", überlegt Lily, "es wäre vielleicht mal interessant zu sehen, ob ich ein Konzeptalbum zu einem bestimmten Thema schreiben könnte - so wie Andy Shauf das mit seiner Party-Scheibe gemacht hat." Nun ja - auf gewisse Weise ist "Breach" ja selbst schon ein Konzept-Album. Auch deswegen, weil ziemlich viele philosophische Referenzen darauf auftauchen. Ist das vielleicht etwas, was Lily studiert hat? "Ich habe keine Philosophie studiert, aber ich habe jemanden gedated, der ein selbsterklärter Nihilist war", verrät Lily, "das war insofern sehr problematisch, als dass ich dazu tendiere, über alles vielleicht ein wenig zu intensiv nachzudenken, während er alles eher oberflächlich betrachtete. Die Sache mit dem Song 'I Nietzsche' ist nicht ganz ernst gemeint. Es geht hier nicht um Nietzsche, sondern um die Art von Mann, der Nietzsche liest und meint, das mache ihn interessant." Ein bisschen Augenzwinkern ist also - neben der Philosophie - auch dabei? "Sicherlich", bestätigt Lily.

Fenne Lily
Ernster ist da schon das Thema "Solipsism" - eine Lehre, die besagt, dass es nur das eigene Ich geben kann. "Ja, als ich das das erste Mal hörte, fand ich auch, dass das sehr egoistisch und introspektiv sei", überlegt Lily, "wenn dir aber klar wird, dass du nur ein kleiner, unwichtiger Teil in einem großen Ding bist, dann kommst du irgendwann zu der Erkenntnis, dass du das einzig Reale in deinem Leben bist. Das kann erschreckend sein, weil dazu auch die Erkenntnis gehört, dass man für immer mit sich leben muss. Ich denke, dass es ermüdend sein kann, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, sich auf sich selbst zu konzentrieren oder über sich selbst zu schreiben, weil man da zu der Erkenntnis kommen könnte, langweilig und unwichtig zu sein. Es ist dann wichtig, sich ablenken zu können, um erkennen zu können, dass man doch irgendwie bedeutend ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das Sinn macht - aber für mich hat es Sinn gemacht." Nun ja, kompliziert genug ist es jedenfalls. In dem Song "Alapathy" geht es um eine Kombination der Begriffe "Apathie" und "Allopathisch" (= das Gegenteil der Homöopathie). Das ist ja noch komplizierter. "Ja, der Begriff 'allopathisch' hat mich deswegen gereizt, weil es dabei darum geht, statt wie in der westlichen Medizin die Symptome, die Ursachen einer Krankheit zu bekämpfen. Wenn es zum Beispiel in der westlichen Medizin um die Bekämpfung der Depression oder anderer psychischer Krankheiten geht, dann sollen die verschriebenen Medikamente immer nur alle Gefühle unterdrücken - und das will ich nicht. Ich wollte nie Pillen nehmen, die alles ausblenden. Der Begriff 'Apathie' bezieht sich auf den Zustand, in dem ich mich hilflos fühle, meine Gefühle zu ändern. Es ist manchmal einfach langweilig, sich traurig zu fühlen und sich zu fragen, warum das so ist. Die Realität ist aber, dass viele sich oft zumindest teilweise genauso traurig fühlen, und dass man das einfach mal rauslassen muss. Ich denke, es ging mir darum, zu beschreiben, warum ich eigentlich Songs schreibe. Ich schreibe nämlich immer dann, wenn ich mich emotional am schwächsten fühle - das wollte ich deutlich machen." Und dass man keine Drogen nehmen soll? "Keine Drogen?", fragt Lily, "Du meinst die Pillen? Ich erkenne schon an, dass die manchen Menschen helfen - mir aber nicht. Gras kann aber seltsamerweise helfen. Also: Nehmt keine Drogen, aber nehmt doch Drogen!" Lassen wir das lieber mal. Wie ist das Album musikalisch konzipiert worden? "Mein Haupt-Ziel war es, ein Album zu schreiben, dass ich gerne live aufführen möchte und das meinen Bandmitglieder gerne mit mir spielen würden - weil ich das Gefühl habe dass ich meine Musiker bislang zu wenig genutzt habe", berichtet Lily, "außerdem haben sich meine Hörgewohnheiten geändert. Ich höre heute mehr Modest Mouse, Pavement und Cat Power und wollte, das sich das widerspiegelt. Und ich liebte als wirklich Kind Pop Songs. Natürlich gibt es Gelegenheiten, still und leise zu sein - aber im Moment will ich einfach nicht leise sein."

Okay - letzte Frage: Warum sind eigentlich die Single-Tracks "Hypochondriac" und "To Be A Woman Pt. 2" nicht mit auf die Scheibe gewandert? Immerhin sind das ja beides starke Songs. "Die Reihenfolge der Songs auf einer Scheibe zu bestimmen, ist eine knifflige Angelegenheit", überlegt Lily, "es geht um den Klang, die Geschichte, die es zu erzählen gilt und die Atmosphäre. Und die Geschichte funktionierte auch ohne diese Songs. 'To Be A Woman Pt. 2' schrieb ich zum Beispiel über eine ziemlich ungesunde Beziehung, und dieses Thema sollte ja nicht Bestandteil des nächsten Kapitels meiner Musik sein. Und 'Hypochondriac' ist zwar ein starker Song, aber er passte einfach nicht zu dem Tracklisting, das ich mir vorgestellt hatte, weil ich die Scheibe so konzipiert habe, dass sie auch als Vinyl-Album funktioniert - weil das die Art ist, in der ich Scheiben höre und da passte der Song einfach nicht rein. Seltsamerweise veröffentlichte ich den Song übrigens zu Beginn der Quarantäne - was ganz gut passte, da es hier um die Angst vor dem Tod geht - und jedermann hat schließlich Angst vor dem Tod." Wie bereits erwähnt: Einfach macht es sich Fenne Lily wirklich nicht. Und vielleicht macht gerade das den Reiz von Alben wie "Breach" aus, denn zufällig oder aus Kalkül passiert hier wirklich nichts.

Weitere Infos:
www.fennelily.com
fennelily.bandcamp.com
twitter.com/FenneLily
www.instagram.com/fennelily
www.facebook.com/fenne.lily
www.youtube.com/watch?v=hCrhT7clK-U
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Nicole Loucaides-
Fenne Lily
Aktueller Tonträger:
Breach
(Dead Oceans/Cargo)
 

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