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02.10.2020
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THE LATE CALL

In der Stille der Nacht

The Late Call
Johannes Mayer hat sich Zeit gelassen für "Your Best Friend Is The Night", das neue, inzwischen fünfte Album seines Projekts The Late Call. Losgelöst von den "Nach der Tour ist vor der nächsten Veröffentlichung“-Mechanismen der Musikindustrie hat der seit Langem in schwedischen Stockholm lebende Musiker fünf Jahre nach dem Vorgänger "Golden" verstreichen lassen, um auf neue Ideen zu kommen und neue Ausdrucksformen zu finden. Die meisten Songs entstanden dabei in dem Gefühl, losgelöst zu sein vom Alltag. Dass sich am Ende ein Album mit zart instrumentierten Pianonummern herausschälen würde, nachdem bislang all seine Lieder im Troubadour-Modus auf der Akustikgitarre ihren Anfang genommen hatten, war dennoch eher dem Zufall geschuldet. Im Gaesteliste.de-Interview verrät Johannes, wie es dazu kam.

GL.de: Wo bist du gerade, während du die Fragen beantwortest, und wie ist die Stimmung?

Johannes: Am Tisch in meiner Wohnung, die Stimmung ist: offenes Fenster, offene Bierdose, Jeff Tweedy solo auf dem Plattenspieler, der alles zu langsam abspielt und jetzt auch noch klickt. Alles bestens also.

GL.de: Um die Corona-Frage gleich am Anfang aus dem Weg zu räumen: Wie hast du die letzten Monate erlebt, und hast du inzwischen die Chance gehabt, aus den Umständen - so schlimm sie für viele auch waren oder sind - persönlich oder künstlerisch positive Perspektiven für das Jetzt und die vielbeschworene neue Normalität zu gewinnen?

Johannes: Ich bin kurz vor Ausbruch des Virus erneut Vater geworden und da hat man zehn Tage zu Hause mit dem Kind. Genau in den Tagen ging alles los, Restriktionen, zu Hause bleiben etc. Insofern war ich in einer Kapsel innerhalb einer großen Kapsel. Ich finde es so eigenartig, denn die Ruhe durch den ganzen Lockdown ist eine trügerische Ruhe: Während sich das Hamsterrad plötzlich weniger schnell dreht, werden Menschen sehr krank, viele sterben sogar, viele verlieren ihren Job oder werden ihn verlieren. Ich denke, dass wir alle einfach durchhalten müssen. Es gibt auch keine Wahl. Die erste wirklich allumfassende Einschränkung unserer sonst maßlosen Freiheit. Damit meine ich so was wie Weekendtrips und Konsumwahn. Ich glaube aber nicht an all die Essays darüber, wie alles anders werden wird. Die Menschen können es ja kaum abwarten, wieder ihre alten Gewohnheiten pflegen zu können. Künstleisch macht Corona für mich keinen Unterschied, ich schreibe, wann immer mir danach ist.

GL.de: Wo wir gerade bei Veränderungen sind: Deine Songs haben dieses Mal einen ganz anderen klanglichen Fokus. Allerdings war es aber eher der Zufall, der dich und das Klavier zusammengebracht hat, oder?

Johannes: Nun ja, meine Mutter hatte ein Piano zu Hause, als ich ein Kind war, daher spüre ich eine große Vertrautheit dem Instrument gegenüber. Ich hatte auch immer den Wunsch, es spielen zu können. Nur hatte ich selber nie eines bei mir. In den drei Monaten, die ich vor ein paar Jahren in Berlin wohnte, gab es ein Piano in der Wohnung und ich dachte: Wann, wenn nicht jetzt? Ich habe jeden Tag Akkorde und Umkehrungen geübt, und dann ging es einfach los.

GL.de: Was ist für dich der grundlegende Unterschied zwischen Liedern, die du auf der Gitarre bzw. am Klavier schreibst?

Johannes: Das Klavier gibt mir sehr viel Raum für meine Stimme, ich liebe es, den Akkord einfach nur auszulegen. An der Gitarre ist bei mir alles filigraner. Und ganz ehrlich, es geht nichts über live Gitarre zu spielen, das rein physische Erlebnis ist perfekt, während hinter dem Klavier alles Präzision auf weißen und schwarzen Tasten bleibt. Schwer nachzuvollziehen? Für mich ist es eben so.

GL.de: Sind die Klavierlieder nur klanglich anders, oder bugsiert dich die Klangfarbe des Pianos auch bewusst oder unterbewusst in eine andere Gemütslage, in der auch anders gefärbte Themen für die Texte wichtig werden?

Johannes: Hmm, habe ich nicht drüber nachgedacht. Aber das könnte sein. Klaviersongs sind für mich weniger "vorbelastet" von Phrasen, die ich irgendwo in Folk-Songs gehört haben mag.

GL.de: Ohne die Texte zu sehr sezieren zu wollen: Du hast dich vom "Pale Morning Light" - dem Titel deiner dritten LP - zu "Night" vorgearbeitet. Was macht die Nacht zu etwas Besonderem für dich und wie hat sich das speziell auch auf die Texte der neuen Lieder niedergeschlagen?

Johannes: Die Nacht als Stimmung passt zu den Songs. Das klingt vielleicht etwas banal, aber so wie ich mich gefühlt habe beim Schreiben, kam ich an der Nacht als sicherer Ort, als Versteck, als letzter Freund, als eine Decke, die alles einhüllt, als ultimativer Ruhepunkt nicht vorbei. Sie ist unaufgeregt, sie besänftigt, sie gibt einem gehetzten Menschen eine Verschnaufpause - und kann im nächsten Moment etwas Bedrohliches bekommen. Das macht sie für mich interessant, gerade für diesen Song "True Friends Are Rare", woraus die Zeile "The Night Is Your Friend" stammt.

GL.de: Bei unserem letzten Interview hast du gesagt, dass du "Golden" als eine Art Befreiungsschlag empfunden hast, der dir für die Zukunft erlaubt, zu machen, was du willst - und offenbar hast du ja genau das getan. Vielleicht ist es nur Einbildung, weil die letzte Platte so lange zurückliegt, aber kann es sein, dass du die Lieder der neuen Platte eher für sich betrachtet hast und ihnen die Ausrichtung gegeben hast, die sie verlangten?

Johannes: Das neue Album hat viel mehr Konzept als "Golden", finde ich. Der Sound von "Your Best Friend Is The Night" war mir immer im Hinterkopf beim Schreiben: dunkle, ausklingende Akkorde, tieferer Gesang, langsameres Tempo. Ich nehme deinen Kommentar aber mal als Kompliment…

GL.de: Wie hat sich der Stellenwert deiner Mitstreiter ob der klanglichen Neuausrichtung verändert? Hat sich das Gefüge bei der Zusammenarbeit dadurch verschoben?

Johannes: Das hier ist eigentlich eine reine Soloplatte, verschönert durch fantastische Soli der Jazzmusikerin Julia Strzalek am Alt-Sax und der Klarinette, gefühlvoll gespielten Drums von Lars Plogschties und dem Bass von Patric Thorman. Patric hat ein unglaublich gutes Gehör und versteht den Song, bevor er dazu spielt. Der Stellenwert meiner Mitmusiker und Gäste ist wie auf allen Platten sehr hoch.

GL.de: Während sich heute immer mehr Musiker auf die budgetsparende Kombination "Laptop und eigenes Wohnzimmer" verlassen, hast du das neue Album wieder in Bremen in einem Studio aufgenommen, das auf analoge Produktionen spezialisiert ist. Was macht für dich den Reiz dieser Arbeitsweise aus?

Johannes: Ich nehme alle meine Demos zu Hause auf. Aber die richtige Studioaufnahme muss jemand anders machen, jemand, der das mit anderen Ohren hört als ich. Zumal ich Tontechnik zwar faszinierend finde, ich sie aber als ein potenzielles Hindernis sehe, das zwischen mir und dem Song stehen kann. Bin ich im Studio, bin ich vollkommen in meiner Welt, und die besteht aus meiner Stimme, dem Instrument und dem Song. Jemand anderes kann dann besser beurteilen, ob der Take gut war oder nicht, und jemand anderes kann etwas in einem Song hören, das sich mir erst mal nicht erschließt. Es mag noch viele andere tolle Tonstudios geben, aber für mich ist Studio Nord perfekt, weil ich mich dort konzentrieren kann, und ich es liebe, mit Gregor Hennig aufzunehmen,. Der Mann ist Gold wert.

GL.de: Was macht dich derzeit als Musiker besonders glücklich?

Johannes: Dass ich ziemlich genau weiß, was ich wie spielen muss, damit ich den Sound und das Gefühl kriege, das ich erzielen möchte. Das ist vermutlich einfach Erfahrung, aber diese Sicherheit macht mich sehr zufrieden im Schaffensprozess. Ich habe auch Songs länger im Ohr, bevor ich sie aufnehme, bis dahin können Wochen vergehen, und wenn es dann so weit ist, dann sitzt die Melodie einfach. Nimm zum Beispiel die E-Gitarre auf "Ten Minutes", da stecken viele Gedanken dahinter, wie sich das Instrument reinschmiegen kann, ohne etwas vom Gesang zu nehmen und gleichzeitig nicht unterzugehen vor Zurückhaltung.

GL.de: Du hast mit der Veröffentlichung eine Weile gewartet und bringst das Album nun letztlich selbst raus, mit Bandcamp als Vertriebsstruktur. Eine Zeitlang war der Online-Selbstvertrieb bei vielen ja eine Art notweniges Übel, inzwischen scheint sich aber die Ansicht durchzusetzen, dass ein aktiver Dialog mit dem Publikum durchaus fruchtbar für alle Beteiligten sein kann. Wie siehst du das?

Johannes: Ich habe mir das eine Zeit lang überlegt, aber in der Größenordnung, in der ich Musik mache, und nach so vielen Alben sowie einem physischen Handel, der sich, wenn überhaupt, nur noch für die etabliertesten Künstler lohnt, sah ich einfach zu wenig Nachteile, es nicht selber zu machen. Es ist tatsächlich cool, zu sehen, wer meine Platten kauft.

Weitere Infos:
www.thelatecall.com
www.facebook.com/thelatecall
thelatecall.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Anna Ledin Wiren-
The Late Call
Aktueller Tonträger:
Your Best Friend Is The Night
(Eigenvertrieb)
 

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