15.01.2021 http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=1931 |
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CHRIS BROKAW |
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Rocksongs in seltsamen Formen |
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Neue Musik quer durch alle erdenklichen Genres veröffentlicht Chris Brokaw seit mehr als 30 Jahren in schöner Regelmäßigkeit - zuletzt erschien via Bandcamp ein hinreißendes Instrumental-Cover der Rolling-Stones-Nummer "Heaven", die in Brokaws Version hypnotische 31 Minuten dauerte! - und das Richtung Jazz deutende Album "End Of The Night". Ein echtes Rock-Album mit Gesang hat der inzwischen 56-jährige Amerikaner, der einst mit Codeine und Come unsterblich wurde, dagegen zuletzt 2012 veröffentlicht. Nun allerdings erscheint auf 12 X U "Puritan", eine LP, die widerspiegelt, was Brokaw in den letzten Jahren musikalisch beschäftigt hat, schließlich stammt "Periscope Kids", die älteste Nummer der neuen Platte, bereits aus dem Jahre 2014, während das Titelstück erst wenige Tage vor der Aufnahme im Studio entstand. Dass die letzten Jahre auch für Brokaw privat eine bewegte Zeit waren, kann man allerdings höchstens zwischen den Zeilen herauslesen, oder wie er selbst sagt: "Meine Lieder sind nicht wie Johnny-Cash-Songs - bei den meisten weiß vermutlich nur ich selbst, wovon sie wirklich handeln."
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Größtenteils eingespielt in klassischer Triobesetzung mit Dave Carlson am Bass und Pete Koeplin am Schlagzeug, stellen diese Songs einerseits eine Rückkehr zu Brokaws altem Kerngeschäft dar, gleichzeitig macht er aber auch einen Satz nach vorn. Denn auch wenn gleich das Titelstück zu Beginn an alte Tugenden anschließt, finden sich auf dem Album mit Songs wie dem wunderbar verletzlichen "Depending", dem im Velvets-Dunstkreis faszinierenden Duett "I'm The Only One For You" mit Claudia Groom und dem versöhnlich klingenden, gemeinsam mit Come-Mitstreiterin Thalia Zedek eingespielten Karl-Hendricks-Cover "The Night Has No Eyes" jede Menge Songs, die über den Rock-Tellerrand schauen und Brokaws breit gefächerte Interessen gekonnt vereinen.
Mit Gaesteliste.de sprach Brokaw über die ungewohnte Erfahrung, viel zu Hause zu sein, seine "Nebenbeschäftigung" als Musiklehrer, den kreativen Mehrwert von Kollaborationen und natürlich die Entstehung von "Puritan". |
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GL.de: Chris, lass uns das offensichtlichste Thema zuerst aus dem Weg räumen. Am Ende deiner letzten virtuellen Live-Show vor einigen Wochen hast du gesagt: "Ich spüre die Veränderung. Es ist schön, so viel zu Hause zu sein." Hat die unerwartete Tourneepause trotz all der negativen Nebeneffekte also auch etwas Positives für dich?
Chris: Ja, der positive Effekt der Pandemie auf rein persönlicher Ebene war, dass ich zu Hause geblieben bin. Ich fasse nicht oft Neujahrsvorsätze, aber letztes Jahr hatte ich ein paar gefasst, und Nummer eins war: Zu-Hause-Bleiben. Ich habe also bekommen, was ich wollte! Ehrlich gesagt denke ich, dass es einer Pandemie bedurfte, bis mir dies überhaupt möglich erschien. Ich war dazu gezwungen, aber es war genau der richtige Zeitpunkt dafür. Ich glaube, ich war ausgebrannt durch die vielen Reisen - die Touren im Jahr 2019 waren auf verschiedene Art kräfteraubend - und gleichzeitig war ich glücklich, zu Hause zu sein. "Zu Hause" ist dieser Tage etwas Schönes für mich, meine Lockdown-Kumpel (meine Freundin und ihr Sohn) sind großartig, es ist ein guter Ort für mich. GL.de: Während des erwähnten Konzerts hast du auch verraten, dass es keinen Ort gibt, an dem du derzeit lieber, wärst als Cambridge, Massachusetts. Besonders wenn man bedenkt, dass du so viel um die Welt gereist bist: Was macht Cambridge und New England zu etwas Besonderem für dich? Chris: Das hat sich langsam gesteigert. Ich musste erst ein paarmal umziehen und andere Ort ausprobieren (Chicago, Brooklyn, Seattle und viel Zeit in Deutschland, als ich dort eine Beziehung hatte), bis mir klar wurde, dass ich mich in Cambridge am wohlsten fühle. Es ist klein, schön, zurückhaltend, die Leute sind schlau, die Politik ist gut, das Essen ist prima und es ist viel los. Massachusetts ist einer der fortschrittlicheren und großzügigeren Staaten der Union. Ich denke, es ist ein guter Ort, um derzeit in den USA zu sein. GL.de: Seit dem Beginn der Pandemie hast du dich vermehrt darauf konzentriert, Gitarren- und Schlagzeugunterricht via Skype zu geben. Ist dir das leichtgefallen, und was sind die besonderen Herausforderungen? Chris: Es ist mir nicht leichtgefallen, denn ich musste mich ganz allein einarbeiten. Ich hatte weder eine Richtschnur noch Ratschläge. Es war ein riesiger Lernprozess. Für mich geht es darum, herauszufinden, was jeder Schüler braucht, was ihn sowohl beschäftigt als auch herausfordert. Das erfordert viel Geduld, denn die Leute brauchen vor allem Ermutigung. Ich denke, die herausforderndsten Schüler sind lakonische - normalerweise Kinder. Meistens unterrichte ich Erwachsene, aber manchmal sind es auch wirklich unzugängliche Kinder, und das ist für mich das Schwierigste. Gleichzeitig habe ich aber auch eine achtjährige Schlagzeugschülerin, die wahrscheinlich mein Favorit ist. Es ist also nicht so, dass es mit allen Kindern schwieriger ist. GL.de: Die Pandemie hat viele Musiker ins Grübeln gebracht, was sie außer Musikmachen noch tun könnten. Wenn Geld und Qualifikation kein Hinderungsgrund wären: Welche Karriere abseits der Musik würdest du einschlagen? Chris: Allein mir das vorzustellen, fällt mir von Tag zu Tag schwerer. Ich habe das Gefühl, das alle Dinge, die ich gern professionell betreiben würde (Film, Fernsehen, Theater, Tanz) sich darum drehen, dass ich Musik mache. GL.de: Besonders wenn man bedenkt, dass wir derzeit in Zeiten leben, in denen Zu-Hause-Bleiben angesagt ist: Unter welchen Umständen bist du am kreativsten? Was hilft, was lenkt ab? Chris: Mir ist klar geworden, dass ich raus in die Welt muss und unter Menschen sein muss. Ich war im abgelaufenen Jahr nicht sonderlich kreativ. Dazu muss ich mich mehr ins Getümmel stürzen. Allerdings bin ich auch schon in Situationen gewesen, in denen ich mit anderen zusammengearbeitet habe und sich eine Art Inkubator gebildet hat, der mir geholfen hat, kreativer zu sein oder zumindest auf andere Weise kreativ zu sein. Eines der besten Beispiele dafür ist die Zusammenarbeit in den letzten zwei Jahren im norwegischen Stavanger mit FindlaySandsmark, einer Künstlergruppe, die an einem Multimedia-Projekt arbeitet. Es ist nicht immer leicht, aber sie sind sehr rigoros und leidenschaftlich und ich mag, was wir zusammen erreicht haben. Ich habe auch das Projekt sehr genossen, das ich im vergangenen Januar in Dallas mit meiner Freundin Jimena Bermejo gemacht habe, ein Stück für Tanz, Musik und Bewegung. Sehr viel Freude hat mir auch bereitet, mit dem irischen Musiker und Lehrer Matthew Nolan zusammenzuarbeiten und Live-Partituren zu den Stummfilmen von Peter Hutton zu machen. All dies waren Kooperationen, die in der Kreativität förderlichen Umgebungen stattfanden - in großen Räumen, mit guter Finanzierung und freundlichen Menschen, die wirklich begeistert zu sein schienen, dass wir dort waren. Ich würde gerne mehr so arbeiten. GL.de: Auch als wir vor zwei Jahren über "End Of The Night" gesprochen haben, hast du erwähnt, wie sehr du den kollaborativen Prozess bei der Entstehung der Platte genossen hast. Hat sich das in irgendeiner Form auch auf "Puritan" niedergeschlagen? Immerhin tauchen hier mehr Gäste als in der Vergangenheit auf, und teilweise übernehmen sie sogar den Gesang. Chris: Ich persönlich fühle mich dieses Mal freier, offener, allerdings bin ich nicht sicher, dass der Arbeitsprozess unbedingt kollaborativer war, obwohl Dave und Pete den Stücken viel hinzugefügt haben und Andy Hong maßgeblich am Mix beteiligt war. Die Gastsängerinnen baten mich alle um konkrete Instruktionen, und trotzdem haben sie alle ihr wunderbares und großartiges eigenes Ding eingebracht. Ich denke mal, ich hatte einfach viel Zeit beim Singen und Rumhängen mit allen drei Sängerinnen - Thalia Zedek, Tricia Adelmann, Claudia Groom - verbracht, sodass ich sie einfach dabeihaben wollte. Lediglich bei "The Bragging Rights" hörte ich schon beim Schreiben, wie Thalia es sang, deshalb musste ich sie einfach fragen. GL.de: Worin besteht für dich der Unterschied zwischen dem Live-Spielen und der Arbeit im Studio, und wie siehst du das Verhältnis von Improvisation und Komposition? Chris: Für ein Album wie meine neue Platte "Puritan" dient das Live-Spielen dazu, die Stücke so gut wie möglich vorzubereiten, im Studio dagegen geht es mir vor allem darum, dass die Ausführung so gut wie möglich ist, auch wenn die Akkuratesse dafür zurückstehen muss. Inzwischen freue ich mich mehr über Spontaneität und Überraschungen. GL.de: Vielleicht liegt es daran, dass wir dich als Indierocker in den 90ern kennengelernt haben, aber trotz der breiten stilistischen Palette, die du mit all deinen Projekten abdeckst, scheinen die Rockband-Platten wie nun "Puritan" mehr Gewicht zu haben. Siehst du das ähnlich? Chris: Ja, die Rock-Platten sind auch für mich eine große Sache. Sie verlangen mir eine Menge ab, und bei ihnen fühle ich mich am verletzlichsten. Diese Platten fühlen sich für mich alle irgendwie ungeordnet an und ich wünschte mir, sie kämen mehr auf den Punkt, aber ich erlaube ihnen, die seltsamen Formen anzunehmen, die sich ergeben. Sie nehmen fraglos ein Eigenleben an. Sie sind ganz schön seltsam: "Incredible Love" ist ein schräges Akustik-Rock-Pop-Album, "Gambler's Ecstasy" ist eine komische Rock-Platte, und ich bin mir noch nicht einmal sicher, was "Puritan" ist. Irgendwie Emo? Wer erwartet derzeit schon Emo? GL.de: COVID-19 zum Trotz - hast du Pläne und Wünsche für die nähere Zukunft? Chris: Im Moment halte ich mich mit Vorhersagen zurück. Ich hoffe, dass die Welt bald wieder im Lot ist! Im Moment bin ich ziemlich zwiegespalten, wenn es darum geht, jemals wieder in diesem bekloppten Land auf Tour zu gehen, aber wir werden sehen! GL.de: Zum Schluss: Was macht dich derzeit trotz allem besonders glücklich? Chris: Glücklich macht mich, meine neue Gitarre, eine 1965er Gibson Firebird, zu spielen, alten Soul, R+B, Country und Bossa Nova zu studieren und zu erlernen, allein für mich Schlagzeug zu spielen und meinen Schülern im Rahmen meiner Möglichkeiten Musik zu erklären - ihnen zu zeigen, wie cool und gewaltig sie sein kann. |
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Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe- |
Aktueller Tonträger: Puritan (12XU) |
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