11.02.2022 http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=2006 |
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THE DELINES |
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Eine Million Meilen bis nach Hause |
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Als Willy Vlautin 2012 auf die Idee kam, mit dem Projekt Delines ein weiteres Outlet für seine überbordende kreative Energie zu etablieren, war die Sache noch eine Art Experiment. Denn weiland war Willy mit seinem ursprünglichen Bandprojekt Richmond Fontaine noch gut im Geschäft und auch seine Karriere als Romancier war gut in Fahrt gekommen. Ihn faszinierte aber damals schon der Gedanke, mit der Musikerin Amy Boone (die - wie ihre Schwester Kelly) zuvor schon bei Richmond Fontaine als Sängerin ausgeholfen hatte, eine Interpretin einer Reihe von Songs gefunden zu haben, bei denen er sich nicht als Vokalist einbringen musste. Auf dem Debüt-Album "Colfax" von 2014 war auch noch Sängerin Jennie Conlee von den Decemberists dabei - im Folgenden konzentrierte sich Willy aber darauf, die Delines-Songs speziell auf das spezielle Timbre Amy Boones zuzuschneiden. Die Sache lief auch recht gut, da die Delines in der Phase, in der Richmond Fontaine als Bandprojekt langsam ausklang, auf Tour durch Europa, die USA und Australien gingen und dort so erfolgreich agierten, dass gleich im Anschluss an diese Tour ein weiteres Album eingeplant war. Diese Planung wurde indes verhindert, da Amy Boone 2016 in einen schweren Autounfall verwickelt wurde, von dem sie sich nur langsam erholen konnte, so dass die neuen Delines-Songs, die Willy zwischenzeitlich geschrieben hatte, erst 2019 mit dem höchst erfolgreichen Album "The Imperial" mit Amys Beteiligung fertig gestellt werden konnten. Auf dem nun vorliegenden, dritten Album "The Sea Drift" war Amy indes nun wieder von Anfang an voll eingebunden. Als Thema suchte sich Willy Vlautin dieses Mal ein musikalisches Porträt der US-Golfküsten-Region aus und schrieb eine Reihe von cinematisch angelegten Short-Story-Songs über Charaktere, die von diversen Schicksalsschlägen gebeutelt wurden.
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Was reizte Willy denn daran, die Golfküste als Backdrop zu wählen - denn immerhin stammen die Delines ja aus Portland, Oregon - und das ist ganz schön weit weg vom Süden der USA. "Amy und ich sind beide große Fans von Tony Joe White", räumt Willy ein, "and Amy lebte für 20 oder 25 Jahre in Austin, Texas. Wir haben uns viel darüber unterhalten, dass wir beide die Golfküste sehr mögen. Wir haben dann beschlossen, Songs in dieser Welt anzusiedeln. Ich bin dort auch viel herumgereist - aber natürlich nicht während der Pandemie. Ich mag auch die Musik aus dieser Gegend." Mit Bezug auf Amy Boones Gesangsparts, die düstere Grundstimmung und die stilistische Ungebundenheit des Materials erinnert das "Sea Drift"-Album zuweilen an die Arbeiten von Bobbie Gentry aus den 60s. Wann beschlossen die Delines eigentlich, die Soul-Elemente in ihren Songs dominieren zu lassen, denn Richmond Fontaine und das erste Delines-Album "Colfax" waren ja noch deutlich Country-orientierter. "Also zunächst mal liebe ich Bobbie Gentry auch sehr", schwärmt Willy, "ich bin gerade dabei eine Zeitmaschine zu bauen, damit ich in der Zeit zurück zu Bobbie Gentry reisen kann. Weißt du, ich bin einem Ort namens Reno, Nevada, aufgewachsen und Bobbie war mit einem Typen verheiratet, dem das größte Casino in Reno gehörte. Sie ist dort auch aufgetreten. Ich würde also gerne in der Zeit zurückreisen und mit ihr ausgehen und ihr raten, ein paar weitere gute Scheiben zu schreiben. Sie hat nämlich zwei wirklich coole Scheiben gemacht - aber danach ist die Sache auseinander gefallen. Ich bin also stets von ihr beeinflusst gewesen. Ich mag insbesondere die literarischen Aspekte ihres Songwritings und sie arbeitete sehr visuell, was ich ja auch mag. Als ich dann selbst anfing, solcherlei Musik zu schreiben, fühlte ich mich stets von Größen wie Bobbie Gentry, Sammi Smith oder Candi Staton inspiriert. Als wir dann mit den Delines anfingen, klang die Sache nur deswegen country-lastiger, weil wir einen Pedal-Steel-Gitarristen dabei hatten. Aber ich wollte schon damals irgendwie, dass er eigentlich die Bläser-Sektion sein sollte. Und als wir dann auf Tour gingen, war Jenny Conley von den Decemberists noch dabei, die aber nicht mit auf Tour gehen konnte. Damals haben wir dann Cory Gray engagiert, der von Haus aus Trompete spielt. Dann habe ich auch angefangen, bewusst soul-inspirierte Balladen zu schreiben. Tatsächlich hat Corys Einfluss uns also in diese Richtung gebracht - was man auf 'The Imperial' auch gut hören kann."
Cory Gray war es auch, der zwei Instrumentals für "The Sea Drift" schrieb, die stimmungsmäßig sehr an Bruce Springsteens "Meeting Across The River" erinnern. "Ja. Cory hat die Instrumentals mitgebracht, als ich ihn bat, zwei cinematische Stücke für das Ende der beiden LP-Hälften zu schreiben und ich war hin und weg", erinnert sich Willy, "und den Springsteen-Song habe ich mir bereits im Alter von 16 Jahren mindestens 1.000 Mal angehört. Ich mag diese Springsteen-Sachen, weil sie mich eine Million Meilen von meinem Zuhause wegführten. So etwas wollte ich als Songwriter auch erreichen. Ich habe dann immer dahin tendiert, in einem cinematischen Stil zu schreiben, weil ich selbst so viel Trost von solchen Songs erfahren habe. Und Du hast recht, dass diese Instrumentals in dieser Welt eines Film-Noir-Songs sind." Stimmung ist dabei immens wichtig. Den absoluten stimmungsmäßigen Tiefpunkt auf der Scheibe nimmt der Song "Surfers In Twilight" ein - der aber zugleich auch der emotionalste und einnehmendste ist. "Das kommt darauf an, in welcher Stimmung man sich gerade befindet", meint Willy, "der Song ist ein bisschen wie 'Meeting Across The River' - er wirft dich sozusagen in eine Situation hinein. Das mache ich gerne als Songwriter. Es ist ein einfacher Song. Die Situation ist die einer Frau, die von der Arbeit kommt und die Cops ihren Boyfriend an die Wand stellen und verhaften. Um sie herum sind all diese Leute, die Urlaub machen und Surfer und glückliche Leute. Solche dramatischen Situationen mag ich sehr. Ich mag auch 'This Ain't No Getway' sehr. Der Song ist sehr ähnlich. Da geht es um eine Frau, die überlegt, wann die beste Zeit wäre, ihre Kisten aus dem Haus des Ex-Freundes zu bringen und die deswegen aufbleibt, um zu sehen, wann es ginge. Sie sagt sich, dass sie vermutlich um sechs Uhr morgens ihre Sachen bekommen könnte und will damit zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hat. Ihre Schwester rät ihr, es nicht zu tun aber sie sagt, dass sie nicht weglaufen wolle, dass das keine Flucht sei und sie stark sein will. Sie hat aber sehr viel Angst vor ihm, will ihm aber beweisen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen will. Sie geht in das Haus und der Typ ist noch wach und es kommt zur Konfrontation. Ich mag solche Situationen." |
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Kein Wunder, dass Amy Boone sich fragte, ob Willy gerade an einem neuen Drehbuch arbeite oder an neuen Songs, als er sie mit dem Material konfrontierte. "Na ja - ich mag halt traurige Balladen; wie zu, Beispiel 'Along For A Ride', die Geschichte eines Paares, das zusammen im Auto unterwegs ist, während man Zeuge wird, wie ihre Beziehung auseinanderbricht." Das bringt uns zu der Frage, worin Willy - als Autor, der auf beiden Gebieten tätig ist - den Unterschied zwischen einer Geschichte als Schriftsteller und einem Lied als Songwriter sieht? "Der Haupt-Unterschied zwischen einem Buch und der Musik ist, dass es einfach mehr Arbeit ist, ein Buch zu schreiben", führt Willy aus, "ein Buch zu schreiben, ist, wie einen Graben zu graben. Man ist sich nicht sicher, wohin der Graben führen wird, aber jeden Tag muss man graben, graben, graben. Wohingegen einen Song zu schreiben, ist wie einen 20 Euro-Schein zu finden. Du findest diesen 20-Euro-Schein - der ein Song ist - und da kommt jemand und sagt: 'Heh, das ist meiner' und du fragst dich, wieso gerade du den Song gefunden hast. Am nächsten Tag ist dann aber nichts da und am übernächsten Tag auch nicht. Ich weiß also gar nicht, woher Songs kommen. Man findet sie einfach. Ich mag aber die Arbeitsethik ein Buch zu schreiben mehr. Denn es macht mir nichts aus, jeden Tag in den Graben zu steigen um zu graben."
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Auch wenn Willy demnach die Songs ja eher zu finden scheint: Wonach sucht er denn als Songwriter? "Ich denke, das kommt auf den Song an", meint Willy, "bei dem Song 'Surfers In Twilight' möchte ich, dass sich der Hörer in den Song hineinversetzt und in dessen Welt versinkt. Bei 'Drowning In Plain Sight' sollte man für diese Frau in der Geschichte untröstlich sein. Ich möchte, dass jemand etwas fühlt. Wenn ich mal einen eingängigen Pop-Song schreibe - was ich ja selten genug tue - dann möchte ich, dass getanzt wird. Bei einem traurigen Song soll geweint werden und bei einem zornigen soll man wütend werden. Ich möchte, dass solche Emotionen rüberkommen. Wenn man sich als Hörer darauf einlässt, dann kann man auch wirklich etwas fühlen. Das ist, was ich als Songwriter möchte: Songs zu schreiben, bei denen die Zuhörer die Emotionen fühlen können, die ich vermitteln möchte. Kommen wir noch mal zu 'Meeting Across The River' zurück: Dieser Song strömt eine solche Art von romantischem Fatalismus aus, dass man als Zuhörer eingreifen möchte und ruft: 'Tu es nicht, tu es nicht'. Es ist trotzdem romantisch und tragisch. Man kann diesen Song hören und die Geschichte auf sein eigenes Leben beziehen. Das ist ein kleiner Song mit einer einfachen Geschichte - aber es hat so viele Ebene. So etwas versuche ich auch einzufangen und zu erreichen."
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Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Jason Quigley- |
Aktueller Tonträger: The Sea Drift (Decor/Indigo) |
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