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05.08.2022
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MISTY BOYCE

Schöpfung 2.0

Misty Boyce
Misty Boyce ist alles andere als eine Debütantin - auch wenn "Genesis" das erste Album der smarten Songwriterin aus Los Angeles ist, das hierzulande nun "ordentlich" in einer um zwei Tracks ergänzten Special-European-Edition erscheint. Tatsächlich ist "Genesis" sogar schon der vierte Longplayer, den Misty unter eigenem Namen herausbringt. Ihre musikalische Laufbahn begann sie aber nicht als Songwriterin, sondern als Session-Musikerin. So arbeitete die klassisch ausgebildete Pianistin für so unterschiedliche Acts wie Sting, Ingrid Michaelson, BØRNS, Joy Williams von Civil Wars und nicht zuletzt Sara Bareilles, zu deren Touring-Band sie seit 2013 gehört... um ihr Geld zu verdienen und sich somit Freiraum für ihre eigene Karriere als Songwriterin schaffen zu können. Mal ehrlich: Auf eine solche Idee hätten viele von Mistys Kollegen besser auch mal kommen sollen, denn die so gewonnenen Freiheiten zahlen sich in kreativer Hinsicht schließlich immens auf. Da Misty Kollaborationen gegenüber ja eh offen ist, war es ein logischer Schritt für sie, sich für die Aufnahmen des "Genesis"-Albums mit dem Produzenten Jon Joseph zusammenzutun, mit dem sie die Songs schrieb und einspielte - und sich als Duett-Partner dann auch noch Kollegin Doe Parao und Dawes-Fontmann Taylor Goldsmith zu angeln. Credibilty und Potential gibt es also bei Misty Boyce mehr als genug.

Hat Mistys Arbeit als Session-Musikerin aber ihre künstlerische Arbeit beeinflusst oder hat sie versucht, ihre künstlerische Arbeit in ihre Session-Arbeit mit einfließen zu lassen? "Ich denke doch, dass das in beide Richtungen funktioniert", meint Misty, "am Ende bringe ich meine Songwriter-Mentalität zu meinem Spiel - und ich denke dass das der Grund ist, warum mich die Leute mögen. Und mein Songwriting ist unglaublich von den Künstlern, für die ich arbeite, inspiriert. Nicht musikalisch oder von deren Stil, sondern von deren Arbeitsmoral. Ich sage mir dann immer, dass ich mich mehr anstrengen sollte." Wie hat sich Mistys Passion für das Lieder-Schreiben eigentlich entwickelt? "Also eigentlich habe ich immer schon eigene Songs geschrieben, seit ich acht Jahre alt war", führt Misty aus, "so hat alles angefangen. Ich wollte immer eine Songwriterin sein - wusste aber nicht so recht, wie ich das anfangen sollte. Als ich nach dem College nach New York gezogen bin, brauchte ich zunächst mal einen Job. Ich wollte aber nicht in einem Schuhgeschäft arbeiten oder so etwas. Ich suchte also einer Stelle als Session-Musikerin und nach dem ich das erste Mal als Musikerin auf Tour war, war es das dann. Da wusste ich, dass ich als Musikerin Geld verdienen könnte und musste mich nicht mehr nach einem anderen Job umsehen. Musik zu machen war also meine Arbeit und meine eigenen Sachen waren immer so eine Art Nebengeschäft. Ich habe das immer ausbalanciert - denn auf der einen Seite musste mein Geld mit der Musik verdienen und auf der anderen wollte ich mein Herz ausschütten. Ich wäre vielleicht eine bessere Session-Musikerin, wenn ich keine Künstlerin sein wollte und ich wäre eine bessere Künstlerin, wenn ich nicht als Session-Musikerin mein Geld verdienen müsste." Eine Standardfrage ist ja heutzutage traurigerweise die, inwieweit die Pandemie das jeweils aktuelle Album denn beeinflusst haben könnte. Gab es vielleicht mehr Zeit, an dem neuen Material zu arbeiten - denn es klingt sehr verschieden von dem, was Misty zuvor gemacht hatte? "Nein, wir haben nicht mehr Zeit mit dem Album verbracht", führt Misty aus, "wir haben es sogar recht schnell eingespielt. Ich war aber sehr emotional, als ich den Gesang eingespielt habe, als alles andere fertig war, denn es war ja schon eine sehr intensive Zeit. Wir haben es im angepeilten Zeitrahmen fertig gestellt - unabhängig von der Pandemie. Der Grund, warum es so anders klingt als meine bisherigen Alben, ist Jon Joseph."

Dazu muss man noch wissen, dass sich Mistys bisherige Alben dem Bereich "alternative Folkpop" zurechnen ließen (wie Misty das Genre selbst nennt), während auf "Genesis" mit allerlei Soundformaten und Stilen - etwa Jazz und R'n'B - in Richtung eines Artpop-Formates gearbeitet wurde. "Meine Entwicklung als Musikerin zwischen 'Get Lost' - meinem letzten Album - und 'Genesis' rührt daher, dass ich mit Jon zusammen die Songs geschrieben habe und was er musikalisch mit an den Tisch brachte." Das Thema des Albums "Genesis" ist Mistys Neuinterpretation der Schöpfungsgeschichte aus einer feministischen, weiblichen Perspektive, die sie mit ihren eigenen Gedanken und Erfahrungen und Beobachtungen verquickt. "Ja, Ich denke, da geht es um eine Kombination meiner Beobachtungen der Welt um mich herum - aber basierend auf meinen Erfahrungen; denn das ist ja eigentlich alles, was wir haben", führt Misty aus, "ich versuche immer, Muster in dem zu erkennen, was ich sehe oder was andere Menschen erleben. Und ich versuche, das alles zu entpacken." Geht es dabei auch um politische oder soziale Kommentare? Es gibt nämlich einen ironischen Song namens "Bros" auf dem neuen Album, in dem sich Misty über die patriarchalische Struktur Hollywoods lustig macht oder "The Clearing" in dem es um Empowerment-Fragen zu gehen scheint. "Sagen wir mal so", schmunzelt Misty, "'The Clearing' hat tatsächlich mit der MeToo-Bewegung zu tun und dem neuen Bewusstsein, das die Frauen in dem Zusammenhang entwickeln. Wir haben ja unter einer unheimlichen Struktur gelebt, von der mir gar nicht bewusst war, dass sie existierte. Das hat natürlich politische Wellen geschlagen. Nicht in einer 'Republikaner gegen Demokraten-Art' sondern auf eine 'Wir gegen sie'-Weise. Mir wurde klar, wie wir uns spalten - und wie herzzerreißend das ist, weil es einfach nicht sein müsste. Ich bin da aber nicht spezifisch politisch. In 'Bros' werde ich aber sehr spezifisch in Sachen Hollywood." Hat die Wahl des religiösen Themas auch mit Mistys Herkunft zu tun? "Ja", bestätigt sie, "ich komme aus einer sehr religiösen Familie. Ich war früher auch sehr religiös. Beispielsweise war ich für die musikalische Regie einer Megachurch zuständig. Das hat mir deutlich gemacht, wie manipulativ diese ganze Szene ist und damit begann meine Dekonstruktion - wie wir das nennen." Bzw. Mistys Emanzipation von der institutionalisierten Religion. Eine Megachurch ist nämlich eine bei uns unbekannte Form einer Kirchengemeinde, bei der in den USA mindestens 2.000 Mitglieder einer evangelikanischen Gemeinschaft zu einer Messfeier in riesigen Kathedralen-Arenen zusammen kommen.

Misty Boyce
Wo steht Misty Boyce denn heutzutage in Bezug auf die spirituelle Erleuchtung? Hat sie z.B. eine Meinung zum Thema Religion? "Ich habe keine Meinung", zögert sie, "ich habe den Pfad der Meditation als für mich unglaublich hilfreich entdeckt. Auf diese Art bewege ich mich durch die Welt und würde das jetzt als meine Religion bezeichnen. Das entspringt der buddhistischen Tradition - obwohl ich mich nicht ein Buddhistin nennen würde. Ich versuche einfach mich durch das Leben zu bewegen, ohne den Dingen immer einen Namen geben zu müssen."

Das gilt übrigens auch für Mistys Musik, die sie keinem bestimmten Label zugewiesen werden möchte - und das ist für eine Künstlerin ja sowieso eine gute Methode, sich bestimmte Optionen offen zu halten. Im Herbst ist eine "Familientour" durch Deutschland geplant, zu der Misty ihren Ehemann, den Drummer Steve Goold und das gemeinsame Baby mitbringen möchte.

Weitere Infos:
www.mistyboyce.com
www.facebook.com/mistyboycemusic
www.instagram.com/mistyboyce
twitter.com/mistyboyce
www.youtube.com/watch?v=iz8XHWAWTTc
www.youtube.com/watch?v=g6fwoYj2Gm4
www.youtube.com/watch?v=Pl38QJGsx_w
www.youtube.com/watch?v=jbYBWY2k_Yg
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Davy Greenberg-
Misty Boyce
Aktueller Tonträger:
Genesis
(Make My Day/Indigo)
 

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