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28.06.2022
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JOAN SHELLEY

Moderner Traditionalismus

Joan Shelley
Tod und Erneuerung, Romantik und Rückzug, Selbstzweifel und die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung - auf ihrem siebten Album, "The Spur", widmet sich Singer/Songwriterin Joan Shelley mit bemerkenswerter Gelassenheit den drängenden Fragen unserer Zeit, ohne das Publikum belehren zu wollen. Eher wirkt das neue Werk der 36-jährigen Amerikanerin wie ein eleganter Trostspender in schwierigen Zeiten, auf dem sie mit Unterstützung langjähriger Mitstreiter wie James Elkington und Nathan Salsburg und Gastauftritten von Bill Callahan, Meg Baird oder Spencer Tweedy trotz anmutiger Schönheit ohne viel Sentimentalität auskommt, getreu der Zeile des wie sie in Kentucky heimischen Dichters und Aktivisten Wendell Berry: "Make a poem that does not disturb the silence from which it came."

Fast könnte man das Gefühl bekommen, dass Joan Shelley die Pandemie hat kommen sehen. Während andere Künstlerinnen und Künstler durch COVID jäh aus ihrem Trott gerissen wurden und ihre Pläne von heute auf morgen zu Staub zerfallen sahen, hatte die unweit von Louisville in Skylight, Kentucky, heimische Musikerin eh geplant, nach der Veröffentlichung ihres Albums "Like The River Loves The Sea" im Jahre 2019 kürzer zu treten. Nachdem sie zuvor den Großteil ihres Lebens unterwegs verbracht hatte, stand ihr der Sinn nach mehr häuslicher Beschaulichkeit und familiärer Nähe. Sie heiratete Nathan Salsburg, der seit Langem auf der Bühne wie im Leben ihr Partner ist, wurde Mutter einer Tochter und kümmerte sich eine Weile lieber um Ziegen und Hühner ihrer Farm als um ihre musikalische Karriere. Tatsächlich endete unser letztes Gespräch mit Shelley vor drei Jahren damit, dass sie von den Freuden ihres neu erworbenen Gartentraktors erzählte. "Es ist verblüffend, wie das Interview damals der Schlüssel zu meiner Zukunft war", sagt sie lachend, als wir vor wenigen Wochen per Videochat erneut mit ihr sprechen. "Es ist schon witzig, wie viele Leute das Ganze haben kommen sehen. Viele meiner Freunde haben gerade rechtzeitig ein neues Zuhause gefunden oder haben zum richtigen Zeitpunkt den Absprung in eine kleinere Stadt nah der Heimat geschafft. Ich kann nicht sagen, dass der Traktor es mir viel leichter gemacht hat, durch die Pandemie zu kommen, aber ich bin trotzdem froh, ihn zu haben!"

Auf "The Spur" zeichnet sie nun ihr Leben in den letzten Jahren nach und verbindet dabei bisweilen Charakterstudien mit Naturmetaphern, sie selbst spricht von "intensiver Freude trotz der Dunkelheit", wenn sie an das Album denkt. Entstanden ist dabei eine Platte, deren Welt mit Americana beginnt, aber nicht endet, denn tatsächlich lässt sich Shelley heute nicht mehr gern allein auf das Bild der Folk-Sängerin reduzieren. "Ich habe die Schnittstelle von Folk und anderen Genres schon immer geschätzt", sagt sie. "Ich habe unglaublich viel Respekt für traditionelle Musik, und mir ist bewusst, dass es eine Art von Revival ist, wenn ich in die Folkmusik eintauche. Das wird dann in gewisser Weise zu einem Kunstprojekt, ich mag allerdings am liebsten Musik, die keine Kunst ist, denn das erscheint mir zu exklusiv. Ich mag es, wenn alle die Melodien mitsummen können, denn ich denke, das gibt den Songs ein längeres Leben. Das ist der Grund, warum ich mich an der Schnittstelle immer sehr wohl gefühlt habe."

Auf "The Spur" klingt Shelley deshalb bisweilen wie eine Musikerin, die auf den Schultern von Carole King und Emmylou Harris steht, dabei aber unbeirrt ihren eigenen Weg geht. Kevin Morby erzählte kürzlich in einem Interview, dass er sich von einem gewissen Retro-Sound angezogen fühlt, weil die Vergangenheit für ihn einen sicheren Ort darstellt, einen Schutz vor den Katastrophen und dem Chaos der Gegenwart. Ist das für Shelley ähnlich? "Es gibt tatsächlich einige klangliche Referenzen, die in die Vergangenheit deuten", erwidert sie. "Jim Elkington hat einige Elemente verwendet, die sich auf eine Frank-Sinatra-Nummer des Albums 'Watertown' beziehen. Ich liebe den Sound aus der Zeit, in der Künstlerinnen und Künstler noch klassische Soundstages zur Verfügung hatten, denn das gibt den Aufnahmen eine gewisse cineastische Qualität, sie transportieren dich an einen anderen Ort, sie haben dieses Unwirkliche, ohne zu großspurig zu sein. Viele 70er-Jahre-Aufnahmen vermitteln das besonders gut. Für mich ist das gewissermaßen ein Comfort-Food-Element, das die bittere Medizin versüßt. Wenn die Songs eine angenehme Grundlage haben, gibt mir das die Chance, textlich so komplex zu werden, wie ich möchte. Wenn das Drumherum gut schmeckt, fällt die bittere Medizin, die da drinsteckt, nicht so sehr auf." Sie lacht. "Zumindest hoffe ich das!"

Rückbezüge auf die gute alte Zeit gibt es aber nicht nur klanglich. Auch das Cover besticht mit dezentem 70s-Flair. "Wenn ich an all die glänzenden neuen Sachen des Hier und Jetzt denke, vermisste ich die Zeit, in der Dinge Patina hatten", gesteht sie. "Mir gefällt es, wie Dinge gewissermaßen maskiert werden, wenn sie etwas verwittert und verschlissen sind. Das ist eine bewusste ästhetische Entscheidung gewesen. Ich denke, in den 80ern haben viele Menschen gedacht, dass man in 2020 in fliegenden Unterassen wie bei den ´Jetsons´ unterwegs ist. In der Realität findet man immer mehr hippe Coffeeshops, die mit viel Holz ausgestattet sind, weil die Menschen heute wieder mit Materialen arbeiten möchte, die man verstehen kann, die altern können, die organisch sind, und das drückt sich auch in diesem Stil aus."

Dennoch klammert sich Shelley keinesfalls nur an die Vergangenheit. Vielmehr ist sie eine moderne Traditionalistin, denn auch auf "The Spur" finden sich Synthesizer und andere dezente elektronische Elemente, der klangliche Leim, der alles zusammenhält. "Wir sind nicht puristisch, was das angeht, aber ich möchte nicht, dass es zum dominierenden Effekt wird, weil mir das zu aufgesetzt wirkt", erklärt sie. "Es gibt derzeit so viele Leute, die sich klanglich voll auf das 80er-Jahre-Revival stürzen, und ganz besonders, wenn du ein wenig älter bist und eine andere Perspektive hast, denkst du dir: 'Oh mein Gott, das kommt wirklich zurück?' Du kannst es nicht glauben. Auch wenn es abgedroschen klingt: Ich folge einfach meinem Herzen und verwende die Sounds, die sich in dem Moment gut für mich anhören. Es wird immer eine Mischung sein. Es wird nie vollkommen akustisch sein, es wird auch immer einige elektronische Elemente geben. In gewisser Weise geht es mir darum, die Technologie des Hier und Jetzt mit der Wärme alter Technik zu verbinden."

Als Künstlerin war Shelley noch nie daran interessiert, die gleiche Platte zweimal zu machen, und deshalb blickt sie auch auf "The Spur" unbeirrt nach vorn. Das Klavier ersetzt nun immer öfter die Gitarre als wichtiger klanglicher Fokus, doch auch wenn alles auf dem Album sehr bedacht klingt, gibt Shelley doch zu, dass der Weg dorthin dieses Mal kein leichter war: "Es ist mir dieses Mal in der Tat schwergefallen, das zu finden, wonach ich gesucht habe, weil wir der Chance beraubt waren, an andere Orte zu reisen und ohne Probleme die Musiker um uns zu scharen, mit denen wir zusammenarbeiten wollten. Via Internet war das natürlich möglich, aber wir konnten nicht mit der ganzen Welt experimentieren oder für die Aufnahmen nach Island fliegen, wie wir das bei der letzten Platte gemacht haben. Die Einschränkungen waren dieses Mal deutlich größer. Ein wenig hat es sich deshalb angefühlt wie eine Rückkehr zu 'Over And Even' [ihrem Breakthrough-Album von 2015], weil wir zu Hause saßen mit den Leuten aus der näheren Umgebung, die wir kannten. Deshalb gab es dieses Mal weniger Experimente, es gab weniger neue Pinselstriche. Stattdessen haben wir uns auf das verlassen, was wir schon kannten, aber all unsere Werkzeuge waren geschärft und die Beziehungen zu Mitstreitern wie Jim Elkington… wir kannten uns einfach inzwischen sehr gut! Das war richtig toll, ein wenig wie ein Nach-Hause-Kommen."

Tatsächlich fällt auf, dass Shelley anders als früher dieses Mal mehr Verantwortung abgegeben hat und sogar einige Songs mit anderen gemeinsam geschrieben hat. Was war der Auslöser dafür? "Wenn der Impuls, Songs zu schreiben, mit dem Wunsch nach Zusammenarbeit einhergeht - und dieses Gefühl war in den letzten Jahren besonders stark -, dann wird es viel einfacher, die Kontrolle aufzugeben und andere zu beteiligen", antwortet sie. "Das gemeinsame Schreiben wurde zu einer Möglichkeit, auf befriedigende Weise mit anderen Menschen zu kommunizieren, eine Art und Weise, die das Gegenteil der Art von 'road rage' war, die soziale Medien und Kommunikation über große Distanz boten. So ist es für mich mit der Zeit einfacher geworden, die Kontrolle aufgeben, speziell aber in der jetzigen Situation."

Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - fällt es Shelley nicht leicht zu beschreiben, wonach sie heute beim Songschreiben sucht. "Ich weiß es, wenn ich es höre, und noch mehr weiß ich es, wenn ich es nicht höre", sagt sie. "Texte zu finden, fühlt sich an, als würde man einen sehr schmalen Pfad gehen, und vielleicht wird dieser Pfad sogar noch schmaler, weil ich mich im Laufe der Jahre entwickle und verändere. Es geht darum, die Klischees und Dinge zu vermeiden, die einfach nur gesagt werden, ohne wirklich gefühlte Emotionen oder Bedeutung zu vermitteln, es geht darum, Worte zu finden, die Aufmerksamkeit erregen und Anerkennung bekommen können. Es muss also ein Gleichgewicht geben, und je weiter ich auf meinem Wege komme, desto eher habe ich das Gefühl, dass ich die Balance hinbekommen kann."

Die US-Kollegen von NPR haben "The Spur" als "Soundtrack für den Wiedereintritt in die kalte, harte Welt" bezeichnet, und das gilt nicht nur für das Publikum, sondern ein Stück weit auch für Shelley selbst. "Ich gehe davon aus, dass dies auf einer sehr wörtlichen Ebene zutrifft", bestätigt sie. "Da es mir eh schwerfällt, gesellig zu sein, stellt die Musik, insbesondere das Musikmachen, eine großartige Möglichkeit dar, wieder in die Gesellschaft mit all ihren Problemen und schreienden Kämpfen einzutauchen, ohne sich auf dieser Ebene engagieren zu müssen. Man kann einfach an einem Ort auftauchen und auf irgendeine Weise eine nonverbale Verbindung mit anderen um sich herum herstellen. Ich liebe Events, bei denen man auftauchen kann, sein Gesicht zeigen kann, aber nichts erklären muss. Ich brauche mehr Möglichkeiten, mich einzubringen, um das Gefühl zu bekommen, ein Teil des Ganzen zu sein. Ich denke, das zu wollen liegt in der Natur des Menschen."

Freude findet Shelley derzeit allerdings auch im allerengsten Umfeld, wie sie uns abschließend verrät: "So klischeehaft das auch ist: Meine kleine Tochter bringt mir als Musikerin gerade viel Freude", sagt sie. "Sie imitiert und erforscht Geräusche und erkennt zum ersten Mal, dass Dinge Namen haben. Sowohl als Texterin als auch als Naturliebhaberin sind das ziemlich wichtige Informationen für mich, ich kann gar nicht sagen, wie großartig das ist! Sie entscheidet unvoreingenommen, welche Geräusche ihr Spaß machen oder interessant zu hören sind, welche Musik sie dazu bringt, sich zu bewegen, welche Vögel oder Käfer oder Flugzeuge Beachtung wert sind. Als Musikerin habe ich das Gefühl, dass diese kleine Einjährige die beste Lehrerin ist, die ich je hatte."

Weitere Infos:
www.joanshelley.net
www.facebook.com/joanshelleymusic
twitter.com/JoanShelley
instagram.com/joanshelley
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Mickie Winters-
Joan Shelley
Aktueller Tonträger:
The Spur
(No Quarter/Cargo)
 

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