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06.09.2022
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JULIA JACKLIN

Die Kraft des Jetzt

Julia Jacklin
Mit ihrem letzten Album war Julia Jacklin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Statt ihre Gefühle unter Metaphern zu begraben, schüttete sie auf "Crushing" mit oft brutaler Ehrlichkeit ihr Herz aus und verarbeitete die aufwühlende Achterbahnfahrt ihres Lebens als Musikerin "on the road" und die bisweilen niederschmetternden Konsequenzen für ihr seelisches und körperliches Wohlbefinden in hochemotionalen Liedern, die unter die Haut gingen. Das Album katapultierte sie zu Phoebe Bridgers, Julien Baker oder Lucy Dacus in die erste Liga des Indie-Folk, und plötzlich klopfte sogar Lana Del Rey an, um ihr mit einem Duett des "Crushing"-Highlights "Don't Know How To Keep Loving You" eine ganz große Bühne zu bieten. Jetzt veröffentlicht die 32-jährige Australierin "Pre Pleasure", ihr drittes Album als Solistin, mit dem sie klanglich neue Wege geht und sich dafür von Silverchair oder Céline Dion inspirieren ließ, also von genau der Musik, die sie als Kind am meisten geliebt hatte.

Fragt man Julia Jacklin, was sie derzeit als Musikerin besonders glücklich macht, dann fällt ihr zunächst das Gegenteil ein. "Ganz bestimmt nicht all die Promo", sagt sie lachend. "Das ist schon okay, aber ich habe einfach vergessen, wie das ist, die ganze Zeit über sich selbst und die Platte zu sprechen. Ich denke, besonders glücklich macht mich derzeit, wieder Fan sein zu können. Letzte Nacht habe ich Body Type, eine befreundete Band, hier in Melbourne gesehen und es war einfach toll: mitten im Publikum sein, Freunde auf der Bühne sehen, die für Leute Musik machen, die mitsingen… Ihre Platte kam raus, als niemand Konzerte spielen konnte, und jetzt haben sie ihr Album einfach von vorn bis hinten gespielt. Der Auftritt fand in einem eher neuen Laden hier in Melbourne statt, in dem ich selbst schon gespielt habe, als Courtney Barnett ihre Milk-Records-Abende veranstaltet hat, kaum dass der Lockdown vorbei war. Jetzt war ich zum ersten Mal seitdem wieder dort. Die letzten zwei Wochen waren überhaupt wirklich prima. Ich habe Cate Le Bon und Perfume Genius gesehen und ich war im Ballett!"

Jacklin weiß, dass ihr in den nächsten Monaten nicht viel Zeit bleiben wird, das Leben zu genießen. Praktisch mit dem Veröffentlichungstag ihres Albums startet auch ihre eigene viermonatige Welttournee, die im November für Konzerte in Köln, Hamburg, Berlin und München auch in Deutschland Station macht. Doch auch unabhängig davon gehört Jacklin zu den Menschen, die erst mit der Arbeit fertig sein müssen, bevor sie das Leben in vollen Zügen genießen können. "Das ist ein Gefühl, das mich schon begleitet, seit ich geboren wurde", sagt sie. "Ich denke, jeder fühlt sich ein bisschen so, es sei denn, man ist unglaublich weit entwickelt. Ich versuche, jetzt ein bisschen mehr die Gegenwart zu genießen, weil die Kraft des Jetzt, das Präsent-Sein derzeit solch eine große Sache ist, wenngleich es wirklich schwer ist, tatsächlich daran zu glauben, es zu verstehen und es zu leben. Es klingt so kitschig, aber es ist wahr: Alles, was du hast, ist der Moment, in dem du lebst, und ich versuche, das zu verinnerlichen, aber man vergisst es so leicht."

Ein Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit, bei dem sich für Jacklin Spaß und Job vermischen, sind ihre farbenfrohen, betont lebenslustigen und bisweilen auch etwas albernen Videoclips - zuletzt zu ihren Songs "Lydia Wears A Cross" und "I Was Neon" -, die sie schon immer mit einem ihrer ältesten Vertrauten und Wegbeleiter Nick McKinlay alias Nick Mckk, in Szene setzt. Manchmal könnte man dabei glauben, dass die Ideen für die Videos zeitgleich mit den Songs entstehen, doch das ist nur die halbe Wahrheit. "Es gibt beides", erklärt Jacklin. "Manchmal male ich mir das Musikvideo schon aus, während ich einen Song schreibe, aber die Clips umzusetzen, ist sehr schwierig - zumindest, sie genau so umzusetzen, wie du dir das vorstellst. Die meisten meiner Videos sind deshalb stark improvisiert. Deshalb ist es auch so wichtig für mich, sie mit einem meiner besten Freunde umzusetzen, denn wir arbeiten einfach gut zusammen und improvisieren gerne gemeinsam. Wir sind beide ziemlich spontane, flatterhafte Menschen, und deshalb passt das gut zu uns."

Jacklin sieht die Musikvideos als wertvolle interpretative Ergänzung in visueller Form zu ihren Songs, zu ihren Platten an, wenngleich die Umsetzung oft eher hemdsärmelig ist. "Meistens gehe ich zu Rose Chong Costumes, einem Kostümverleih hier in Melbourne, suche mir ein Outfit aus, wir finden einen Drehort finden und dann improvisieren wir einfach zum Song. Das ist in der Tat ein sehr freudiger Teil der Arbeit als Musikerin, denn ich kann einfach Verkleiden spielen und mit einem meiner Freunde aus der Highschool herumtanzen. Es fühlt sich wirklich wie etwas Besonderes an, das mit über 30 noch tun zu können."

In den vergangenen Jahren hat Jacklin unglaublich hart gearbeitet und viel erreicht: Schon auf ihrem Debüt "Don"t Let The Kids Win" faszinierte sie im Jahre 2016 mit ihrer gnadenlos schönen Stimme und ihren mit feiner Selbstironie gespickten Storytelling-Songs, bevor sie mit viel beachteten Nachfolger "Crushing" vor drei Jahren ein kathartisches Glanzlicht zwischen Trennungsschmerz und Selbstermächtigung setzte. Mit "Pre Pleasure" kehrt sie der Vergangenheit nun ein Stück weit den Rücken. Den warmen, gitarrengetriebenen Sound ihrer ersten beiden Platten tauscht sie gegen den dezenten Einsatz von Drumcomputer, Klavier und orchesterverzierten Glanz ein und setzt dabei ihre einzigartige Stimme eindrucksvoller in Szene als je zuvor. Doch so brillant Jacklin auf "Pre Pleasure" auch neue Wege geht -ein ausgeklügelter Masterplan steckt nicht dahinter. "Ehrlich gesagt -bislang resultierte jede meiner Platten aus glücklichen Fügungen", sagt sie bescheiden. "Ich wollte nie, dass das Album einen ganz neuen Sound bekommt, zumal ich Keyboards eigentlich nicht sonderlich mag, es sei denn, der Sound fühlt sich wirklich erdig an. Deshalb habe ich versucht, es erdig und grobkörnig klingen zu lassen, so als würde man ein altes, verranztes Klavier spielen. Ich denke, mir war vor allem wichtig, sicherzustellen, dass sich alles sehr analog anhört."

Die Songs des Albums entstanden auf unterschiedliche Weise. Einige sind bereits drei Jahre alt, andere entstanden spontan während der Aufnahmen in Montreal im vergangenen September. Songs wie "Love, Try Not To Let Go" oder "Ignore Tenderness" entstanden spontan während der Aufnahmen in Montreal, während Jacklin an einer Nummer wie "Neon" praktisch Jahre feilte, bis sie eine Version gefunden hatte, mit der sie glücklich war. Auf "Pre Pleasure" singt Jacklin ohne Scheu vor Ehrlichkeit und Intimität über Vergangenheit und Zukunft, Familie und Freundschaften, Liebe und Verlust und fängt dabei all die Freude und Verwirrung ein, die oft mit der Selbstfindung einhergehen, dabei besitzen selbst die gedämpftesten Momente eine gewisse Leichtigkeit und glänzen mit dem Blick für das Besondere. "Wenn ich schreibe, suche ich immer nach einem etwas anderen Blickwinkel", erklärt Jacklin. "Die großen universellen Themen - Liebe und Verlust, Schmerz und Freude -das sind Dinge, über die bis in alle Ewigkeit geschrieben werden wird, weil es ja auch wirklich nicht viel anderes gibt, über das man Lieder machen könnte. Ich finde es immer sehr interessant, Leute zu hören, die über ihre Erfahrungen schreiben, dies aber aus einer ungewöhnlichen Perspektive tun. Genau das ist es, was ich auch stets versuche."

Doch nicht nur beim Songwriting-Prozess weiß Jacklin inzwischen sehr genau, wonach sie sucht. Auch die Aufnahme-Sessions im Studio hat sie inzwischen für sich optimiert. "Viele meiner frühesten Erfahrungen beim Aufnehmen von Musik waren wirklich schlecht", gesteht sie. "Ich hatte mit Leuten zu tun, die es darauf angelegt haben, dass ich mich mies fühle. Ich war jung und du versuchst du verstehen, wie alles funktioniert, aber gleichzeitig hast du das Gefühl, dass du schon alles wissen musst, weil du sonst im Studio lächerlich gemacht wirst. Deshalb hat mir die Studioarbeit früher richtig Angst eingeflößt. Als ich jünger war, hatte ich immer das Gefühl, dass die Leute um mich herum ganz wild darauf waren, zu beweisen, dass sie alles bereits wissen. Inzwischen bin ich alt genug und von Menschen umgeben, die einfach sagen: 'Wir sind alle hier, um etwas zu lernen.' Genau danach suche ich. Ich will mit Leuten kollaborieren, die ankommen und sagen: 'Ich weiß nichts, lasst uns gemeinsam herausfinden, wie es geht.' Ich schätze mich sehr glücklich, jetzt mit Leuten zusammenzuarbeiten, die einfach ein bisschen entspannter sind."

"Pre Pleasure" in Montreal aufzunehmen, lag für Jacklin auf der Hand, denn die Band, die sie bei ihren internationalen Tourneen und nun auch auf dem Album unterstützt, ist in Kanada zu Hause. Mit den auch bei The Weather Station aktiven Ben Whiteley und Will Kidmann an Bass und Gitarre, Laurie Torres am Schlagzeug und Marcus Paquin auf dem Produzentenstuhl entstand das Album innerhalb kurzer Zeit in einem Rutsch - und von ihrem Leben und den Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld in Australien, die oft ihre Lieder bevölkern, abgeschottet zu sein, half Jacklin dabei, sich beim Texten nicht selbst zu zensieren. "Ich bestehe darauf, meine Platten in einem Stück in einer abgeschlossenen, abgeschotteten Umgebung zu machen, denn ich denke, wenn ich nach Hause gehe und meine Freunde um mich habe, fange ich an zu grübeln: Soll ich diese Zeile drinlassen oder doch besser rausnehmen? Wenn ich in der Bubble bin, kann ich so tun, als könnte ich vergessen, dass die Leute tatsächlich hören werden, was ich da mache. Das ist wirklich wichtig für mich."

Weitere Infos:
www.juliajacklin.com
www.facebook.com/juliajacklin
twitter.com/JuliaJacklin
www.facebook.com/juliajacklin
juliajacklin.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Nick Mckk-
Julia Jacklin
Aktueller Tonträger:
Pre Pleasure
(Transgressive/Pias/Rough Trade)
 

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