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03.03.2023
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JEN CLOHER

Ich schreibe Songs!

Jen Cloher
Früher war die Sache mal ganz einfach. In der Zeit, in der Jen Cloher zusammen mit ihrer damaligen Partnerin Courtney Barnett zwischen 2012 und 2018 die Indie-Underground-Rock-Szene Down Under nach belieben dominierten und auf ihrem Label Milk! - gemeinsam oder solo - ein verlässlicher Quell für alle möglichen abrasive Indie-Rock-Varianten waren, schien die Richtung vorgegeben. Freilich: Seitdem Jen und Courtney kein Paar mehr sind, hat sich die Sache grundlegend geändert. Courtneys letztes Album "Things Take Time, Take Time" zeigte sie von einer fast schon poppigen Seite und auf der letzten Tour präsentierte sie sich gar als geradlinige Rock-Queen. Jen Cloher hingegen widmete sich zunächst ihrer Vergangenheit und wandte sich zusammen mit Mia Dyson und Liz Stringer ihrem Side-Projekt Dyson Stringer Cloher zu, bevor sie daran gehen konnte, ein neues, eigenes Album ins Auge zu fassen. Erst in der Pandemie-Phase wandte sie sich dann ihrem zweiten Solo-Werk zu, das nun mit dem Titel "I Am The River, The River Is Me" vorliegt. Und dieses stellt eine große Überraschung dar, denn hier präsentiert sich Jen Cloher von einer ganz neuen Seite. Statt knarzigem Indie-Rock gibt es nun eine Art zeitgemäß aufgefassten Folk-Pop - aber nicht mit Bezug auf ihre Anfänge, sondern mit zahlreichen Referenzen auf Jens Neuseeländische Roots und die Maori-Kultur.

War Jen denn selbst in gewisser Weise von der musikalischen Richtung des neuen Albums überrascht? "Naja, einen Masterplan gab es jedenfalls nicht", meint Jen, "ich schreibe aber mit einer akustischen Gitarre und was immer sich während meiner Jams als möglicher Song entpuppt, bringe ich damit in Form. Ich wünschte ich wäre eine Künstlerin mit einem Masterplan. Ich wünschte, ich könnte mir vornehmen, mal eine Funk-Scheibe oder eine Jazz-Scheibe aufzunehmen - aber ich bin keine solche Person. Ich bin auch mehr eine Songwriterin als eine Musikerin; was nicht heißt, dass ich gar kein Instrument richtig spielen könnte. Ich wollte aber auf jeden Fall nicht wieder das selbe Album machen wie meine letzte Scheibe. Ich hatte nun auch eine neue Band und einen neuen Ansatz - während der verschiedenen Lockdowns mit verschiedenen Musikern in verschiedenen Städten und Studios zu arbeiten nämlich." Warum hat es eigentlich fünf Jahre gedauert, diese zweite Solo-Scheibe in Angriff zu nehmen? Hat das auch mit der Pandemie zu tun? "Ein wenig - aber nicht wirklich", zögert Jen, "ich habe zwischenzeitlich ja noch ein Album mit meinem Projekt Dyson, Stringer Cloher gemacht, das wir gemeinsam in Chicago aufgenommen hatten und gerade auf Tour damit waren, als wir gezwungen waren, nach Hause zurückzukehren. Erst im März 2022 habe ich dann mit den Arbeiten an dem neuen Album angefangen. Ich hatte es nicht eilig."

Auf der neuen Scheibe gibt es ja ein für die Fans neues Thema. Jen bezieht sich auf ihre Herkunft und ihr kulturelles Erbe und widmet sich der Maori-Kultur und -Sprache - denn sie ist mütterlicherseits mit der Kultur der Maori verbunden. Einer der neuen Tracks heißt "Going Home" - das legt nahe, dass das eine Art Thema für dieses neue Album sein könnte. Ist dem so - und wenn ja, was bedeutet das Thema Heimkehr für Jen? "Auf dieser Scheibe verwende ich zum ersten Mal die Maori-Sprache", berichtet Jen, "ich habe vor vier Jahren angefangen die Sprache zu lernen. Wie du als Person, die mehrsprachig ist, vielleicht nachvollziehen kannst, dann weißt du ja, dass man sich in die Welt der Sprache vertieft, die man neu lernt. Denn jeder Sprache ist codiert, wie die Menschen, die diese Sprache sprechen, die Welt sehen. In diesem Sinne war ich in der Lage, mehr aus der Perspektive der Maori zu sehen - was sie glauben, was ihre Werte sind - und in diesem Sinne gibt es gewiss ein Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Denn das ist eine Seite meiner kulturellen Identität, mit der ich aber nicht aufgewachsen bin - weil ich ja nicht in Neuseeland, sondern hier in Australien aufgewachsen bin. Ich habe also nicht unmittelbar mitbekommen, wie die Maori-Kultur unterdrückt wurde. Das ist das Kurzformat meiner Geschichte." Wird die Maori-Kultur denn immer noch unterdrückt? "Früher gab es ja Gesetze, die die Maori-Kultur und die Maori-Sprache im öffentlichen Raum - wie zum Beispiel in der Schule - verboten. In den letzten 40 Jahren hat sich das zum Glück geändert", erläutert Jen, "und das hat damit zu tun, dass in letzter Zeit Kindergärten etabliert wurden, in denen als erste Sprache Maori gesprochen wird. Wie wir ja wissen, wenn man eine Sprache den Kindern nahebringen kann, dann hat sie bessere Chancen zu überleben, als wenn sie irgendwann nur noch von alten Leuten gesprochen wird. Maori ist zwar immer noch vom Aussterben bedroht, aber inzwischen gibt es wieder tausende von Menschen, die Maori fließend sprechen können - und die Sprache dann auch an Leute wie mich weitervermitteln können."

Das ist ein gutes Stichwort: Der ersten Songtitel des Albums "Mana Takatapui" übersetzt Google mit "Datenschutz-Bestimmungen". Das kann es ja wohl nicht sein. Wovon handelt der Song denn wirklich? "Die Google-Übersetzung ist ganz schön peinlich", schmunzelt Jen, "'Takatapui' bedeutete auf Maori vor der Kolonisierung in etwa 'enger Freund des gleichen Geschlechts'. Du kannst daraus machen, was du willst. Heutzutage steht das in der modernen Maori-Kultur für LGBTQ+. Wenn man aus dieser Szene kommt, bist du ein Takatapui. 'Mana' bedeutet in etwa 'vererbte Stärke'. Gemeint ist damit die Präsenz von Menschen, auf die sich alle Augen richten, wenn sie einen Raum betreten, weil sie diesen X-Faktor haben. Wenn man das nun zusammenfügt, geht es um die Wiederherstellung des Platzes des Takatapui in der Maori-Kultur. Denn wie bei vielen Völkern, die kolonialisiert wurden, wurde auch im Falle der Maori eine neue Religion von außen implementiert und traurigerweise war das bei den Maori die christliche Religion englischer Prägung - und wie du weißt, hält diese ja nicht so viel von der Idee der Homosexualität. Bei 'Mana Takatapui' geht es also um die Rückgewinnung dieses Status und die Erinnerung daran, dass wir vor der Kolonialisierung in der Maori-Kultur hatten." Durch diese Erklärung bekommt auch das Video zu dem Song - in dem einfach eine Gruppe von Maori zusammen mit einer offensichtlich sehr gelöst wirkenden Jen Cloher ihr "Mana Takatapui" feiern. Etwas weniger universell, dafür aber entsprechend persönlicher geht Jen mit dem Song "My Witch" ebenfalls auf das LGBTQ-Thema ein. Und dann gibt es da noch den Track "He Toka-Tu-Moana", ein Folk-Song mit Südsee-Flair, den Jen dann vollständig auf Maori vorträgt. "Ja - aber dabei hat mir meine Freundin Te-Kahu geholfen, die eine recht bekannte Maori-Songwriterin ist", gesteht Jen, "sie ist in der Maori-Kultur aufgewachsen und spricht das fließend. Ich habe den Song zunächst auf Englisch geschrieben und sie hat ihn dann in Maori umgeschrieben. Es ist ja manchmal unmöglich, eine Sprache in die andere zu übersetzen - und so hat sie dann um die Ideen, die ich in dem Song vermitteln wollte, aus der Maori-Weltsicht neu interpretiert. Es gab da zum Beispiel dieses Bild von einem Fels im Ozean - und sie hat das aus der Maori-Sicht dann so interpretiert, dass das ein Zeichen für Bodenständigkeit ist und dafür, dass man bleibt, wo man ist in der Welt. Das war nicht so, wie ich den Song geschrieben habe - aber sie hat genau verstanden, was ich sagen wollte."

Wenn man etwas nicht genau übersetzen kann, dann bietet sich ja die Poesie an. Betrachtet Jen vielleicht ihre eigenen Texte als Poesie? "Nun ja", meint Jen, "eine Unterhaltung über Poesie zu führen, wäre schon eine große Unterhaltung. Es gibt natürlich Menschen, die großartige Gedichte schreiben können, weil das alles ist, was sie machen und Genies darin sind. Ich denke, ich versuche meine Texte so gut wie möglich zu schreiben - und wenn sie sich für jemanden wie Gedichte anfühlen, dann ist das okay. Ich wäre aber vorsichtig zu behaupten, dass ich Gedichte schreibe. Ich schreibe Songs! Ich denke, dass Songs ziemlich darin beschnitten sind, in dem was man damit tun kann. Man muss die Texte innerhalb des Metrums des Songs anpassen. Man kann nicht epische, großartige, dylaneske Texte in einen Song wie zum Beispiel 'Mana Takatapui' verwenden - das würde sich lächerlich anhören. Die Melodie und die Art wie der Song arrangiert ist, wird diktieren, was du schreiben musst. Der Job eines Songwriters ist nicht die lyrischsten, blumigsten Formulierungen zu finden - es geht tatsächlich um Ökonomie. Die besten Songs sind die mit wenigen Worten, die dann aber eng im Rhythmus, der Melodie und dem Format sitzen. Man formt seine Worte, um sie dem Song anzupassen - anstatt zu versuchen den Song den Worten anzupassen." Dennoch gibt es einige schöne Schlüsselsätze, die Jen da eingefallen Sind. Beispielsweise eine Zeile namens "Truth is just a point of view" in dem Song "Protest Song" - der eigentlich gar kein Protest Song sein will. Geht es dabei um Perspektiven? "Ja - ich meine, wir leben ja alle irgendwo in unserer eigenen Welt, die auf unseren Erfahrungen, der Weise, wie wir erzogen wurden oder den Bedingungen, unter denen wir leben bestimmt wird. Auch der kulturelle Background, unser Geschlecht und alle möglichen Dinge bestimmen, wie wir die Welt sehen. Offensichtlich geht es auf dieser Scheibe nun um meine Wahrnehmung. Die Zeile 'Truth ist just a point of view' ist nun mal richtig - auch wenn sich das komisch anhört. Was aber auch mehr und mehr richtig ist, ist die Tatsache, dass das, was für den einen wahr sein mag, für den anderen absolut nicht wahr ist. Deswegen leben wir in Zeiten immenser Spaltung - die auf der ganzen Welt anzutreffen ist. Es geht immer um 'äußerst rechts' oder 'äußerst links' - alles driftet immer gleich in die extremen Randbereiche ab. Ich denke, dass es mir darum geht. Am Ende des Tages wissen wir dann selbst nicht mehr, was richtig ist." Der Song erzählt die Geschichte einer Frau, die Jen nach einem Benefiz-Konzert während der großen Feuersbrünste in Australien - kurz vor der Pandemie - aufgesucht hatte und ihr Leid geklagt hatte. "Ja, es gab damals viel Stress, weil so viel Busch abgebrannt und so viele Tiere umgekommen waren", erzählt Jen, "und in dieser Situation habe ich dann hinterfragt, was ich als Künstlerin da eigentlich machen kann. Ich kann ja nicht die Welt mit einem Song retten. Da habe ich mich gefragt, was wir Musiker denn tatsächlich bewirken könnten. Sollte ich versuchen, Wasser oder Land zu retten? Soll ich mich 'Extinction Rebellion' anschließen? Wir haben ja sicher alle mal solche Gedanken. Dann dachte ich mir: Was würde denn ein Protest-Song bewirken? Ich könnte ja einen schreiben - aber ändern würde der ja nichts. Das brachte mich dann zu der Erkenntnis, dass der Grund, warum ich überhaupt Musik schreibe, der ist, dass ich eine sehr intime Beziehung zum Hörer habe - Musik wird ja heutzutage eher alleine gehört und oft über Kopfhörer - und ich sehr die Zeit wertschätze, in der ich so zum Zuhörer sprechen kann. Das ist ein Privileg. Wie nutze ich also dann diese Zeit? Nun ich stelle Fragen, appelliere an deinen Intellekt um Gedanken anzustoßen - aber vermittle dir auch das Gefühl, weniger alleine zu sein. Einen Protest-Song brauche ich dazu aber nicht - das wäre dann ja, als wolle ich dir meine Meinung sagen obwohl du gar nicht danach gefragt hast."

Kommen wir aber auch noch mal zum Titeltrack. Worum geht es denn dabei? "'I Am The River, The River Is Me' ist ein Maori-Sprichwort", erklärt Jen, "das bedeutet - fast wörtlich - 'wir sind die Erde, das Wasser und der Himmel'. Das bedeutet, dass wir eine wichtige Rolle hier einnehmen - und das immer getan haben. Die indigenen Kulturen wissen, dass wir hier sind, um uns um die Welt zu kümmern. Wir sind Wächter und Verwalter - aber wir haben unsere Rolle vergessen. Daran will ich uns und mich erinnern. Du bist somit auch ein wichtiger Teil des Systems."

Weitere Infos:
www.jencloher.com
www.youtube.com/@jencloherofficial/videos
www.facebook.com/JenCloherOfficial
www.instagram.com/jencloher
Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Marcelle Bradbeer-
Jen Cloher
Aktueller Tonträger:
I Am The River, The River Is Me
(Marathon Artists/Bertus)
 

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