Fenster schließen
 
07.04.2023
http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=2097
 
LUCY KRUGER & THE LOST BOYS

Von innen nach außen

Lucy Kruger & The Lost Boys
Die südafrikanische Wahlberlinerin Lucy Kruger ist sicherlich keine Frau, die mit einem Masterplan an ihre Aufgaben als Songwriterin und Musikerin herangeht. Intuition und Empathie sind in der Schattenwelt, durch die sie sich als Künstlerin bewegt, mindestens genauso wichtig wie musikalische Aspekte. Deswegen war es sicherlich für sogar für Lucy selbst eine Überraschung, dass sich das zweite Album ihres Lost Boys-Projektes "Sleeping Tapes For Some Girls", welches sie kurz nach ihrem Umzug vom heimatlichen Capetown in die Bundeshauptstadt 2017 noch als Solo-Projekt realisierte, im Nachhinein als erster Teil einer Trilogie herausstellte, mittels derer Lucy ihre eigene Entwicklung als Mensch und Musiker sozusagen begleitend kommentierte. War "Sleeping Tapes" dabei noch eine Art Begleiter für die Nacht, so beschäftigte sich Lucy auf dem nächsten Album "Transit Tapes (For Women Who Move Furniture Around)" mit den Auswirkungen ihres Umzugs auf ihr Seelenheil, während der dritte Teil "Teen Tapes (For Performing Your Own Stunts)" ein Manifest des Aufwachens war - denn hier lösten sich Lucy und ihre Musiker(innen) vom eingeschlagenen musikalischen Weg und implementierten auf diesem Album jene Noise- und Feedback-Elemente, die Lucy mit der Beendigung ihres anderen Projektes Medicine Boy eigentlich abgelegt hatten. "Ich hatte Lust, einmal eine zornige Scheibe zu machen", erklärte sie damals. Das geschieht in gewisser Weise auch auf dem neuen Album "Heaving", auf dem es zuweilen auch recht zornig zu geht. Diesem Anspruch wurde sie dann auch bei den Live-Shows gerecht, bei denen sie das neue Material dem Publikum offensichtlich mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch entgegen schleuderte.

"Ich habe eigentlich gar nichts geändert, was meinen Ansatz betrifft", versucht Lucy diese Wandlung zu erklären, "ich denke einfach, dass ich mich in diese Person verwandelt habe. Was ich zur Zeit von der Kunst und der Welt will, ist Intensität, eine emotionale Verbindung und Erfahrung. Dabei geht es gar nicht um Wut - sondern eher um Intensität. Das muss ja gar nichts Negatives sein." Geht es dabei vielleicht um ein körperliches Gefühl? "Ja", bestätigt Lucy diese Vermutung, "auf eine viszerale Art würde ich sagen." Das wiederum könnte ja auch die Bedeutung des Begriffes "Heaving" betreffen, den Lucy sich als Titel ihrer nun vorliegenden, neuen LP ausgesucht hat. Kann man das noch genauer ausführen? "Nun, es ist sehr vielschichtig", meint Lucy, "ich würde es als physisches Pulsieren beschreiben. Auch das hat eine viszerale Qualität, denn der Gedanke, sich zu übergeben, bedeutet ja, dass man das Innere nach Außen kehrt. Natürlich auf eine groteske Art und Weise - was mir gefällt. Ich denke, dass das ganze Album viel mit Körperlichkeiten zu tun hat. Es geht darum, körperlich in der Welt präsent zu sein und darum, irgendwie eine Verbindung zu etablieren. Und es geht darum, etwas vom Inneren ins Äußere zu befördern, damit es weniger erstickend wirkt. Das kann ein fast schon traumatischer Prozess sein - und ich denke diese Version des Begriffes 'Heaving' trifft es dann ganz schön gut." Das passt dann insofern auch ganz gut zu den Videos und dem Artwork - wo Lucy mit allerlei Körperflüssigkeiten zu experimentieren scheint. "Ja genau, das ist die Art von Groteske, die ich meine. Es geht darum, sich den verstörenden aber dennoch vielleicht schönen Qualitäten zu stellen, die wir inne haben können und darüber eine Verbindung zu anderen zu etablieren. Bis hin zum Ausstoßen von Flüssigkeiten einer Person."

Nur um noch mal darauf hinzuweisen: Wir reden hier immer noch über Lucy Krugers neue Songs. Die teilweise abstrakten und komplexen philosophischen Konzepte, die Lucy in ihren Lyrics implementiert, stehen dabei in gewisser Weise im Kontrast zur überraschenden musikalischen Zugänglichkeit des neuen Materials - denn Lucy arbeitet hier erstmals mit erkennbaren Melodien, Hooklines und Refrains. Ist das in irgendeiner Weise ein bewusster Prozess? "Das ist witzig, denn das ist nicht die Art, in der ich das notwendigerweise sehe", überlegt Lucy, "das hat natürlich damit zu tun, wie andere meine Musik wahrnehmen. Ich finde zum Beispiel, dass 'Teen Tapes' zugänglicher ist - fast wie eine Pop-Scheibe. Für mich fühlt sich das neue Album in der Komposition eher abstrakt und künstlerisch an. Vielleicht liegt es daran, dass es ein wenig mutiger und nachdrücklicher ist, dass es dir zugänglicher erscheint." Auf der neuen Scheibe kommen vergleichsweise viele elektronische Elemente zum Tragen. Wie haben diese denn Eingang in Lucys Wirken gefunden? "Ich habe in früheren Projekten schon mal mit Rhythmusmaschinen gearbeitet", berichtet Lucy, "jetzt habe ich aber angefangen, diese elektronischen Elemente auf eine recht kindliche Art zu erforschen. Das hat mir eine Möglichkeit eröffnet, die Melodie und die Stimme mit einer Art Puls zu unterlegen. Ich wollte auf der Scheibe eine rhythmische Intensität und Trance-artige Qualität, in die ich leicht eintauchen konnte, damit der Geist sich dann mit anderen Dingen beschäftigen könnte. Sowas in der Art." Nun ein Puls ist ja auch etwas sehr Physisches. "Ja, genau", bestätigt Lucy, "deswegen habe ich ja auch viel mit Synth-Bässen und Loops gearbeitet. Das hat mir dann auch Raum zum Improvisieren gegeben. Weißt du: Wenn du eine Gitarre hälst und kontrollieren muss, ist es schwer, sich in einer bestimmten Art zu bewegen, wenn man mit der Stimme improvisieren möchte. Dieser Ansatz hat auch meine Art zu Schreiben beeinflusst." Und die Live-Performances - denn zuletzt legte Lucy auch bei ihren Konzerten die Gitarre öfter mal zur Seite, um - mit dem Mikro in der Hand - das Publikum direkt abzugehen. "Ja - das ist einfach ein ganz anderes Gefühl", bestätigt Lucy, "man kann sich dann ganz anders bewegen. Manche Leute können das auch, wenn sie ihr Instrument halten, aber für mich gibt das eine ganz andere Direktheit, wenn ich die Gitarre zur Seite lege."

Lucy Kruger & The Lost Boys
Schon anlässlich Lucys erstem "Tapes"-Album haben wir sie gefragt, was für sie einen guten Song auszeichnet. Hat sich das angesichts der Körperlichkeit des neuen Albums eigentlich geändert? "Ich denke, es ist gleich geblieben", überlegt sie, "ich denke, dass 'Wach' zu sein eine gute Beschreibung war. Es ist witzig, denn im Prinzip wollte ich auf 'Sleeping Tapes' das Gleiche mit anderen Mitteln erreichen. Das Album sollte ja den Leuten beim Einschlafen helfen - aber es ging ja auch darum, etwas auf ganz sanfte Art mit Leben zu erfüllen. Auf der neuen Scheibe geht es eher darum, etwas auf aggressive Weise mit Leben zu erfüllen. Es ist ein bisschen so, als wenn man jemanden an den Schultern packt und schütteln, um ihn aufzuwecken. Oder vielleicht nicht an den Schultern sondern der Hüfte - weil es ja doch auch um eine gewisse Sinnlichkeit geht. Kurzum: es geht mir um Integrität und eine klare Umsetzung eines Gefühls." Spielen eigentlich Träume eine bestimmte Rolle in Lucys kreativem Prozess? Immerhin haben ja manche ihrer Songs eine traumgleiche Qualität. "Nicht direkt", zögert sie, "aber vielleicht in dem Sinne, dass sich Träume ja aus dem Unterbewusstsein speisen. Ich denke, dass es mir in meinen besten Texten gelingt, klare Bilder zu vermeiden. Ich glaube, dass ich da einen Mogelmechanismus habe - und das ist die Melodie. Wenn ich Texte schreibe, ist es schwer in einen Flow zu kommen, aber wenn ich singe, dann entstehen Bilder in meinem Kopf, die ich nicht habe, bevor ich einen Song schreibe. Ich würde das aber nicht Träumen zuschreiben." Das heißt also, dass es dabei um das Unterbewusstsein geht, oder? "Ich denke schon", überlegt Lucy, "mir ist schon klar, dass es Leute gibt, die sagen können: 'Oh das ist eine gute Idee für einen Song' - das ist bei mir aber nicht so. Ich habe vorher keine klare Vorstellung, sondern setze mich hin und schaue, was heraus kommt. Immerhin hatte ich dieses Mal die Absicht, über die Stimme zu schreiben. Das ist ja immer noch sehr vage, aber ich hatte zumindest mal etwas, womit ich anfangen konnte. Es ist aber sehr abstrakt." Weiß Lucy eigentlich selber immer genau, wovon sie singt? "Manchmal finde ich das erst heraus, wenn ich zurückblicke", erklärt sie, "das sage ich aber nicht, weil ich keine Verantwortung für meine Texte übernehmen will - das tue ich nämlich. Ich habe mich aber mit einer gewissen Konfusion arrangiert. Nimm zum Beispiel 'Feedback Hounds'. Hier ist mir klar geworden, dass ich das, was ich in dem Song zum Ausdruck bringe, niemals in normalen, therapeutischen Worten ausdrücken könnte. Deswegen ist der Song auch relevant für mich, denn hier fange ich etwas ein, das nicht einfach in Worte zu fassen ist. Oder vielleicht könnte das jemand anderes - aber ich fühle mich damit nicht wohl dabei, es zu versuchen." Hat das denn auch eine therapeutische Qualität? "Als Nebeneffekt schon", räumt Lucy ein, "ich möchte aber Musik nicht vornehmlich therapeutisch sehen. Das kann zwar der Fall sein, aber es ist ja ein Unterschied, ob man Musik aus therapeutischen für sich selbst macht oder ob man diese dann so formt, dass man sie mit anderen Teilen kann. Das ist eine Grenze, die ich nicht überschreiten möchte. Aber natürlich ist das ganze für mich ein bedeutsamer Prozess. Jede Art von Reflexion auf kreativer Basis ist hilfreich, aber das ist nicht der Grund, warum ich Musik mache."

Weitere Infos:
lucykruger.bandcamp.com
www.lucykrugerandthelostboys.com
www.instagram.com/lucy_kruger
www.facebook.com/LucyKrugerOfficial
www.youtube.com/@LucyKruger/videos
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Lena Nerinckx-
Lucy Kruger & The Lost Boys
Aktueller Tonträger:
Heaving
(Unique/Membran)
 

Copyright © 2023 Gaesteliste.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Gaesteliste.de