05.11.2024 http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=2171 |
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CASSANDRA JENKINS |
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Von wundersam zu wunderbar |
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Die besten Platten sind nicht selten echte Herzensangelegenheiten: Alben, die nicht mit kommerziellen Hintergedanken oder einem Zielpublikum vor Augen entstehen, sondern ungefilterter Ausdruck echter Emotionen sind, die verarbeitet werden wollen, nein, müssen. "An Overview On Phenomenal Nature" von Cassandra Jenkins ist eine solche Platte, ein atemberaubend intimes Meisterwerk, mit dem sie vor drei Jahren ihre Trauerarbeit in Töne goss, nachdem der plötzliche Freitod von Songwriter-Lichtgestalt David Berman, in dessen Purple-Mountains-Tourband sie im Sommer 2019 hätte spielen sollen, ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Kunstvoll gehüllt in naturbelassenen Indierock, subtilen Kammerfolk, verschwommenen New Age, feingeistigen Pop mit elektronischer Färbung und kosmische Jazz-Verweise lässt die New Yorker Ausnahmekünstlerin auf dem beeindruckenden "My Light, My Destroyer" ihr Faible für scharfsinniges Storytelling voller Empathie und humorvollen Untertönen nun so hell wie nie zuvor erstrahlen und findet so mit großer Selbstverständlichkeit neue Facetten für ihr Tun. Mitte November ist sie bei Konzerten in Hamburg und Berlin endlich auch wieder live in Deutschland zu erleben.
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Cassandra Jenkins war sich lange unsicher, ob sie die Songs, aus denen "An Overview On Phenomenal Nature" wurde, überhaupt veröffentlichen sollte. Zu persönlich, zu intim waren viele dieser Lieder, und deshalb kam der Erfolg, den ihr das Anfang 2021 beim winzigen New Yorker Connaisseur-Label Ba Da Bing erschienene Album letztlich bescherte, vollkommen überraschend für sie. Die Platte öffnete ihr unerwartet viele Türen, landete verdientermaßen auf praktisch allen relevanten Endjahres-Bestenlisten und machte sogar den Weg frei für eine Zusammenarbeit mit dem Indielabelgiganten Dead Oceans, wo sie zwischen Überfliegern wie Phoebe Bridgers und Khruangbin oder ihrem alten Weggefährten Kevin Morby in bester Gesellschaft ist. Das eröffnete ganz neue Freiheiten und plötzlich konnte sie sogar die Vorzüge eines finanziellen Vorschusses ihrer Plattenfirma genießen, um ihre Ideen in verführerischen Liedern festzuhalten, die sie so fantasievoll ausstaffieren konnte, wie ihr das vorschwebte. "Das ist eine Erfahrung, die ich noch nie gemacht hatte", gesteht sie, als wir sie im Berliner Büro ihres Labels zum Interview treffen. "Nie zuvor hatte ich ein Blatt Papier unterschrieben, das besagt, dass ich nun, aus vertraglicher Sicht gesehen, ein 'recording artist' bin. Ich bin 40 Jahre alt, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl: Oh, wow, vielleicht habe ich wirklich eine Art Fünf-Jahres-Plan!"
Doch auch wenn die Erfahrung, Künstlerin "mit Brief und Siegel" zu sein, für sie neu ist: Geboren und aufgewachsen im Herzen von Manhattan, wurde Jenkins die Musik genauso wie ihren ebenfalls künstlerisch aktiven Geschwistern Stephanie und Reid praktisch in die Wiege gelegt. Ihr Vater Richard war Zeit seines Lebens Musiker, und als er das Interesse seiner Tochter für die Musik bemerkte, sorgte er dafür, dass sie von Kindesbeinen an von geistreichen Klängen wie Miles Davis' "Kind Of Blue" oder Joni Mitchells "Blue" umgeben war. Das kann man auf "My Light, My Destroyer" auch hören, wenn Jenkins ganz im Geiste der altgedienten Freigeister enge Genregrenzen für nichtig erklärt und für ihre neuen Songs bei unbeschwerten Laurel-Canyon-Vibes, ohrwurmigem Indie-Pop, luftigem Dream-Pop, unwirklichem Ambient-Flair, bodenständigen Americana-Klängen und dezenten Schlenkern zum Jazz-Saxofon fündig wird und mit atmosphärischen Field Recordings und stimmungsvollen Spoken-Word-Passagen auch die eigene Note nicht vergisst. Ihre natürliche Neugier kann sie so in betont eklektische Songs übersetzen, die eigenwillig und anmutig zugleich sind. Ihr Vater prägte Jenkins aber nicht nur musikalisch. Auch die Tatsache, dass sie die Fallstricke der modernen Musikindustrie mit beeindruckender Gelassenheit umkurvt und ihr Hauptaugenmerk mit einer heutzutage selten gewordenen Selbstverständlichkeit auf die Musik und nicht auf unentwegte Selbstdarstellung und Promotion der eigenen Sache legt, lässt sich auf seinen Einfluss zurückführen. Jenkins erinnert sich: "Als wir klein waren, hat er uns zusammengerufen und gesagt: 'Also, die Sache mit der 'Musikindustrie' - er hat das immer in virtuelle Anführungszeichen gesetzt - ist die…' Deshalb bin ich mir schon von klein auf dieses mysteriösen Musikgeschäfts bewusst, von dem er ständig sprach. Ich habe das zunächst mit einem 'Ja, Dad, was auch immer!' abgetan, aber heute denke ich, dass er mich um jeden Preis vor einigen der Erfahrungen beschützen wollte, die er selbst gemacht hat. Seit ich klein war, wurde mir klipp und klar gesagt: Mach die Musik nicht zu deinem Lebensunterhalt, damit tötest du das, was du am meisten liebst. Ich denke, es ging ihm darum, die Musik selbst zu beschützen. Das zu begreifen, klingt furchtbar klug für ein junges Kind, aber vielleicht ist das der Grund, dass ich stets versucht habe, mich da rauszuhalten. Jetzt werde ich tiefer denn je hineingezogen, in dem Wissen, dass alles irgendwann einfach implodieren könnte. Aber selbst, wenn die Musikindustrie morgen aufhört zu existieren, wird sich das nicht auf meine Beziehung zur Musik auswirken." Vielleicht auch deshalb sah Jenkins keinen Grund, sich für "My Light, My Destroyer" klanglich zu beschränken, und so ist der Weg von hemdsärmeligem Americana-Charme zu der Uferlosigkeit moderner Klangwelten nie weit. Ganz offensichtlich hat sie dabei die Bedürfnisse der individuellen Songs über das Gesamtkonzept des Albums gestellt. "Ich gehe ein Album praktisch nie mit einem Konzept an, weil mich das sehr schnell langweilt", verrät sie. "Ich bewundere Leute, die auf diese Art und Weise arbeiten und von diesem Standpunkt aus ein Album erschaffen, aber ich kann das nicht. Ich baue es nach und nach auf, und die Songs zeigen mir, was der nächste Schritt ist. Jeder weitere Schritt enthüllt sich sozusagen auf dem Weg. Man kann also auf jeden Fall sagen, dass ich mich vor allem auf die Songs konzentriert habe. Ich denke, jeder Song ist seine eigene kleine Lektion und sein eigener Ausdruck einer Idee und ein Ausdruck der Dinge, die ich liebe. Am Ende ist so eine Sammlung von Ausreißern zusammengekommen." Die Referenzen, die sie bei den Aufnahmen abgesehen vom allgegenwärtigen David Berman im Kopf hatte, reichen von Tom Petty über Annie Lennox und Neil Young bis hin zu David Bowies finalem Album "Blackstar", gleichzeitig hinterließen aber auch die Heroen ihrer Highschool-Zeit (Radiohead, The Breeders, PJ Harvey und Pavement) und Schriftstellerinnen wie Anne Carson, Maggie Nelson und Rebecca Solnit Spuren in den neuen Liedern. Statt eines uniformen Sounds sind es deshalb eher unterschwellige Muster und Jenkins' unverwechselbar sonore und doch betont ruhige Stimme, die dem Album einen Rahmen geben. und auf ihrem neuen Album keine Mühe hat, ihre natürliche Neugier in betont eklektische Songs zu übersetzen, die eigenwillig und anmutig zugleich sind. Anders als beim mit einer ganz kleinen Gruppe von Mitstreitern eingespielten Vorgänger tauchen auf dem neuen Album viele alte und neue Bekannte aus Jenkins' Umfeld als Kollaborateure auf. Unterstützung fand sie bei Co-Produzent Andrew Lappin (L'Rain, Slauson Malone 1) ebenso wie bei Hand Habits' Meg Duffy, Katie Von Schleicher, Zoë Brecher (Hushpuppy), Daniel McDowell von Amen Dunes, Josh Kaufman (der "An Overview On Phenomenal Nature" produziert hatte) und die für ihre Zusammenarbeit mit Hayley Williams und Bartees Strange bekannte Stephanie Marziano. Auch Jenkins' langjähriger Live-Schlagzeuger Noah Hecht ist dabei, und mit Adam Brisbin und Ian Davis kehrten bei den Aufnahmen auch zwei Musiker zurück, die 2017 bereits auf dem Jenkins-Debütalbum "Play Till You Win" gespielt hatten. Sogar einige Familienmitglieder fanden ihren Weg auf "My Light, My Destroyer". Jenkins' Mutter Sandra ist die verbale Sparringspartnerin für ein herrlich beiläufig anmutendes Gespräch in "Betelgeuse", ihr Bruder Reid half bei den Streicherarrangements und spielte Geige beim leisen Instrumental-Ausklang "Hayley" sowie beim heimlichen Highlight "Aurora, IL", mit dem die quälende Einsamkeit eingefangen wird, die man spürt, wenn man während einer laufenden Tournee nach einer COVID-Infektion in einem Hotelzimmer in der titelgebenden Stadt im Mittelwesten in die Selbstisolation gezwungen wird. Derweil hat Jenkins die Texte der neuen Lieder bereits als "destillierte Versionen verschiedener Geschichten und Erfahrungen" beschrieben. Inhaltlich, das lassen bereits die Gegensätze von "Licht" und "Zerstörung" im Albumtitel vermuten, widmet sie sich nicht zuletzt dem Konzept zyklischer Dualität, das mehrfach anklingt. Dass die Platte im Morgengrauen beginnt und endet - Sinnbild für die Hoffnung auf einen Neubeginn und gleichzeitig die Erinnerung an die harsche Realität, die im Licht zum Vorschein kommt - mag man da kaum für Zufall halten. "An der Idee der Dualität gefällt mir, dass es sich nie um vollkommene Gegensätze handelt", sagt sie. "Es ist immer auch eine Verknüpfung vorhanden, sodass man ihre innewohnende Verbindung ebenso anerkennt wie ihre Unterschiede. Das klingt zugegebenermaßen ziemlich abstrakt, aber für mich bedeutet das, zu versuchen, in die Rolle der neugierigen Beobachterin zu schlüpfen." |
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Trotz vieler Zweifel hat sich Jenkins stets für die Musik entschieden, vielleicht auch, weil ihr bewusst ist, dass ganz im Sinne der dualistischen Betrachtungsweise der Unterschied zwischen gut und schlecht oft gar nicht so gravierend ist, wie es im ersten Moment scheint, oder wie sie es selbst abschließend ausdrückt: "Manchmal bist du in einem Hotelzimmer, das jeden an seinen Lebensentscheidungen zweifeln lassen würde, aber manchmal musst du dann einfach nur die Tür öffnen und nach draußen gehen, und schon geht es dir wieder gut!" Dieses Credo ist in den Songs von "My Light, My Destroyer" allgegenwärtig und sorgt dafür, dass Jenkins mit spielerischer Leichtigkeit ihren eigenen Weg findet - von wundersam zu wunderbar.
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Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pooneh Ghana- |
Aktueller Tonträger: My Light, My Destroyer (Dead Oceans/Cargo) |
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