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06.09.2024
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SOPHIE CHASSÉE

Heartbreak is a motherf***er

Sophie Chassée
Got Attitude? Mit ihrem feinen neuen Album "Attachment Theory" schwimmt sich Sophie Chassée frei - persönlich wie künstlerisch. Schon vor dem vor dreieinhalb Jahren veröffentlichten Vorgänger "Lesson Learned" hatte sich die inzwischen 27-jährige Musikerin vom Niederrhein vorsichtig aus der Nische des Modern Fingerstyle herausgewagt, in der sie schon als Teenager mit drei Alben und vielen Konzerten das Publikum regelmäßig ungläubig staunend zurückgelassen hatte, und ihre Leidenschaft für stilvollen Acoustic-Pop bewiesen hatte. Auf dem detailverliebt ausstaffierten neuen Album sorgen satte Gitarren-Grooves, einnehmende Harmonien und ein Schuss Schwermut dafür, dass ihr Können als Gitarrenvirtuosin und emotionsgeleitete Singer/Songwriterin jetzt gleichermaßen hell erstrahlen. Auch textlich gibt sie sich selbstsicher wie nie, wenn sie verlorene Liebe, die großen Veränderungen im Laufe des Lebens und autobiografische Geschichten unverblümt und echt in herrlich emotionale Worte fasst.

Sophie Chassée will mehr, das ist bereits nach wenigen Takten ihres neuen Albums klar. Ohne zu vergessen, welchen Weg sie mit ihren ersten vier Alben vorgezeichnet hat, scheut sie sich dieses Mal nicht, in größeren Bahnen zu denken. Doch wie genau hat sich ihr Verhältnis zur Musik in den vergangenen Jahren verändert? "Oh, direkt eine Knallerfrage am Anfang", erwidert sie im Gespräch mit Gaesteliste.de lachend. "Ich glaube, dass ich inzwischen mehr zu mir stehe und mir nicht mehr so viel reinreden lasse. Ich habe in den letzten Jahren auch gelernt, ein bisschen von meinem Musikstudium wegzugehen und zu sagen: Es ist nicht alles richtig, was ich dort gelernt habe. Ich muss mich nicht in jede Nische pressen lassen, nur weil die Leute das von mir erwarten. Ich mache jetzt einfach das, worauf ich Bock habe, und ich glaube, das ist bei diesem neuen Album jetzt das erste Mal in voller Gänze passiert."

Auf dem Weg dorthin hat Sophie nicht nur bei Dutzenden von eigenen Shows viele neue Erfahrungen gesammelt, die in die Arbeit an "Attachment Theory" eingeflossen sind, als Bassistin von Allie Neumann stand sie im Vorprogramm von Coldplay auf der Bühne des Frankfurter Fußballstadions und in der Band von Blumengarten spielte sie als Supportact von Herbert Grönemeyer bei dessen Homecoming-Shows im Bochumer Ruhrstation, ganz zu schweigen davon, dass sie als Bassistin von AnnenMayKantereit inzwischen in praktisch jeder Riesenarena in Deutschland und zum Tourabschluss im vergangenen Jahr sogar im ausverkauften RheinEnergie-Stadion in Köln aufgetreten ist. Auch das hinterließ Spuren auf ihrem neuen Album, nicht zuletzt, weil Sophie jetzt viel mehr auf ihre eigenen Fähigkeiten vertraut und musikalisch mehr wagt. "Das hat auf jeden Fall etwas mit meinem Selbstbewusstsein und mit meinem Blick auf mich selbst gemacht", bestätigt sie. "Ich lasse mich jetzt nicht mehr hinstellen als 'Die mit der Gitarre', sondern versuche bewusst, ein bisschen mehr Ecken und Kanten zu zeigen und auch nach außen ein stärkeres Profil als Solistin zu haben. Das alles hat das auf jeden Fall bewirkt und mich auch inspiriert. Ich habe auch technisch superviel mitgenommen. Irgendwann kam der Punkt, wo ich so dachte: Du machst das alles für andere Leute und es ist immer so aufwendig und professionell - warum mache ich das eigentlich selber nicht mal so?"

Was sie damit meint, wird man dann auch auf der stolz von Gaesteliste.de präsentierten Tournee erleben können, die passend zum Veröffentlichungsdatum von "Attachment Theory" in der ersten Septemberwoche startet. Schon beim "Warmspielen" vor einigen Monaten im Wuppertaler BürgerBahnhof Vohwinkel ( Gaesteliste.de berichtete) konnte man einen ersten Eindruck davon gewinnen, was sie damit meint, als E-Gitarre, Loops und eine Harp-Guitar die Akustikgitarren ergänzten, die Sophie lange Jahre als einzige Begleiter auf der Bühne gedient hatten. Für die kommenden Konzerte wird es außerdem noch weitere Überraschungen geben. "Der Wunsch, mehr aus den Performances zu machen, ist schon ganz lange da", verrät sie. "Allerdings habe ich mich lange nicht getraut, denn wenn man was komplett Neues macht, dauert es ja immer Jahre, bis man wirklich hunderttausendprozentig safe ist mit dem, was man da tut. Außerdem glaube ich, dass das letzte Jahr auch ein bisschen was mit meiner Persönlichkeit gemacht hat, und dadurch habe ich irgendwie, um es ganz schroff zu sagen, mehr Eier gekriegt, um einfach mal Sachen zu machen und einfach mal etwas auszuprobieren."

Wenn Sophie das letzte Jahr hervorhebt, dann meint sie die Zeit seit einer üblen Trennung, die sie verletzt und verletzlich zurückließ, die sie auf "Attachment Theory" in fünf aufeinanderfolgenden Songs zu verarbeiten versucht und bei denen sie so persönlich und deutlich wird wie nie zuvor. Über Familie und Vertraute zu schreiben, ist nichts Neues für Sophie, das zeigten auf "Lesson Learned" Songs wie "Home" oder "The Green Door", trotzdem haben die neuen Lieder eine andere emotionale Wucht. Inwiefern war die Herangehensweise anders? "Ich möchte jetzt nicht sagen, dass ich noch nie direkt aus der Emotion heraus geschrieben habe, das wäre nicht korrekt, aber ich glaube, dass das Album wirklich eine Art Ventil für mich war, es war schon eine Art Selbsttherapie", antwortet Sophie. "Es ist schon eines der Alben mit den direktesten Texten, es ist schon sehr in your face. So etwas wie 'Don't Give A Fuck' zu singen - das hätte ich mich vor drei Jahren noch nicht getraut. Verändert hat sich auf jeden Fall, dass ich komplett aus der Emotion heraus schreibe und kein Blatt vor den Mund nehme."

Im Song "Dear Marie" spricht sie deshalb die Person, die sie in dieses Gefühlschaos gestürzt hat, offen und direkt an, während die weiteren Songs von "User Not Found" bis "What I'm Not" Sophie in verschiedenen Stadien der Verarbeitung der Trennung zeigen und eine Geschichte erzählen. "Bei 'Dear Marie' hört man noch: Oh Gott, ich bin so traurig, bitte komm wieder zurück, und bei 'What I'm Not' endet es dann in Akzeptanz: OK, du hast etwas von mir erwartet, was ich eigentlich gar nicht bin, und das alles hat schon seinen Sinn gehabt und ich bin jetzt fein damit." Klassische Herzschmerz-Alben gibt es gerade im Singer/Songwriter-Universum so einige, Sophie allerdings fand ihre Inspiration in der Welt des Pop, bei Pinks "Funhouse", deren ursprünglich angedachte Titel "Got Attitude" und "Heartbreak Is A Motherf***er" beides auch gute Untertitel für "Attachment Theory" wären. "Als es 2009 bei Pink und ihrem Ehemann mal kurz auseinanderging, hat sie dieses komplette Album über die Trennung gemacht und ihn auch wirklich direkt angesprochen, auch in den Musikvideos, und das fand ich irgendwie schon immer total badass", erinnert sie sich.

Persönlich wird Sophie auf "Attachment Theory" aber nicht nur mit den Songs über ihre Ex. In "What Fathers Do" geht sie, verpackt in eine der poppigsten Melodien der Platte, ebenso hart mit ihrem Vater ins Gericht geht, der sich aus dem Staub gemacht hat, bevor sie gegen Ende mit dem beeindruckenden leisen Instrumental "Last Journey Of The Wren" ihrer innig geliebten, vor drei Jahren verstorbenen Großmutter Tribut zollt, die selbst früher Musik gemacht hat und Sophie den Bass vererbte, der jetzt bei den Konzerten von AnnenMayKantereit zum Einsatz kommt. Mit "Fleeting", der vielleicht anspruchsvollsten Fingerstyle-Nummer, die Sophie je gemacht hat, endet das Album mit der Erkenntnis, dass alles vergänglich ist, auf einer versöhnlichen Note.

Vor diesem Hintergrund verschiebt sich auch die Gewichtung von Text und Musik auf dieser Platte. War es in der Vergangenheit nie ganz treffend, Sophie als Singer/Songwriterin zu bezeichnen, weil dadurch ihr brillantes Gitarrenspiel nicht richtig gewürdigt wurde, darf man beim Hören von "Attachment Theory" nun das Gefühl haben, dass Inhalt und Form sich nun erstmals die Waage halten. "Bei Songs wie 'Dear Marie' oder 'User Not Found' war für mich ganz klar: Der Text ist der Fokus, die Musik soll nur die Emotion der Worte unterstützen", erklärt Sophie diese Veränderung. "Da geht es nicht um krasse Gitarrenakrobatik." So wichtig die inhaltliche Seite aber dieses Mal auch war: Mit den neuen Songs traut sich Sophie auch, ihrem Faible für stilvollen Pop mehr Raum als je zuvor einzuräumen, ohne dass deshalb die filigranen Fingerstyle-Elemente vollends verschwinden. Auch hier ist es bisweilen lediglich die Gewichtung, die sich verschoben hat, wenn etwa bei "Bury You Alive" die Pop-Ambitionen die Fingerstyle-Wurzeln überlagern, ohne sie komplett zu verdrängen. Anders ausgedrückt: Sophie hat nicht vergessen, wer Andy McKee ist, als Inspirationsquelle leuchtet dieses Mal aber John Mayer deutlich heller.

Für Schlagzeug, Synths und Streicher lud Sophie befreundete Musikerinnen und Musiker zu den von Produzent Peter "Jem" Seifert betreuten Sessions ein, den Großteil der Instrumente aber spielte sie - passend zur persönlichen Färbung der Lieder - selbst ein. Dass die Gitarren und der Bass von ihr gespielt wurden, versteht sich praktisch von selbst, tatsächlich hört man Sophie auf "Attachment Theory" aber auch am Klavier, das noch vor der Gitarre das erste Instrument war, das sie als Kind erlernte. Die Erklärung dafür ist verblüffend simpel: "Ich mache eigentlich immer alles lieber selber", gesteht sie lachend. "Auch so generell im Leben: Ich lasse mir ungern helfen. Das Klavier ist aber in der Tat mein Erstinstrument und musikalisch mein Zuhause, da wo ich herkomme. Es gab auch viele Tage, an denen der Produzent Jem und ich viel ausprobiert haben, wo ich mich einfach an den Flügel gesetzt und gespielt habe. Ich habe mir dann irgendwann gesagt: Bevor ich das jetzt irgendwem erkläre - ich kann das ja auch selbst! Am Ende war es einfach die Entscheidung, dass ich das selbst machen will." Als Beispiel nennt sie das Stück, das so etwas wie der heimliche Favorit des Albums ist: das wunderbar sentimentale, Streicher-verzierte "Memories Of You", mit dem Sophie die Erinnerung an ihre Oma nach dem Instrumentalstück "Last Journey Of The Wren" noch einmal in Worten festhält und bei dem die Gitarre ausnahmsweise klanglich mal nicht die Hauptrolle spielt. "Da ist das Klavier so wichtig, dass es für mich gar keine Frage war, dass ich das natürlich selbst einspiele", sagt sie. "Ich weiß ja ganz genau, mit welchem Anschlag die Tasten gespielt werden sollen, ob nun weich oder hart oder mit Dynamik - das weiß man ja am besten aus der Emotion heraus."

Tatsächlich gelingt es Sophie auf "Attachment Theory" mit Leichtigkeit, soundtechnisch facettenreich den Bogen von technischem Anspruch zu poppiger Eingängigkeit zu schlagen und dabei ganz neue Wege aufzuzeigen, wie ihre Songs auch klingen können. Das bringt uns zum Schluss natürlich zu der Frage, wo dieses neue Album sie hinführen darf. "Na, hoffentlich endlich mal zu John Mayer!", erwidert sie lachend. "Nee, aber es gibt da gerade ein paar Lichtblicke, auch wenn ich das noch nicht laut aussprechen möchte, weil das ja auch Unglück bringt. Ich würde mir aber einfach wünschen - das ist eigentlich gerade mein Hauptwunsch -, dass ich mehr als Soloartist akzeptiert und angenommen werde und nicht immer nur als 'die Bassistin von ..., die eh nur im Hintergrund steht und da was macht.' Es wäre schön, wenn erkannt wird, dass ich mein eigenes Ding mache und dass ich dafür auch ein bisschen Anerkennung kriege. Vielleicht auch mal ein bisschen mehr als bisher und vielleicht auch ein wenig über die deutschen Grenzen hinaus, wo die Leute dann nicht immer fragen: 'Warum singst du eigentlich nicht auf Deutsch?'"





Weitere Infos:
sophiechassee.com
www.instagram.com/sophie_chassee
facebook.com/sophiechassee
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Timo Vogt-
Sophie Chassée
Aktueller Tonträger:
Attachment Theory
(Roof/Rough Trade)
 

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