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07.02.2025 http://www.gaesteliste.de/texte/show.html?_nr=2196 ![]() |
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HEARTWORMS |
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"Ich habe nur sehr selten einen Plan" |
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Oft rabenschwarz, immer vollgestopft mit Emotionen und stets vom ersten Ton an mitreißend: Auf ihrem just veröffentlichten LP-Erstling "Glutton For Punishment" macht Jojo Orme alias Heartworms beeindruckend souverän ihr eigenes Ding. In ihren Selbstfindungs-Songs lässt die in Südlondon heimische 26-jährige Musikerin herrlich ambitioniert Zeitgeist-Electronica, Industrial-Wucht und Darkwave-Finsternis zusammenfließen und rennt damit derzeit überall offene Türen ein. In der britischen Presse durfte sie sich bereits als "die furchtlose neue Stimme des britischen Post-Punk" oder als "Superstar in Wartestellung" feiern lassen, und trotzdem hat man das Gefühl, dass das erst der Anfang ist.
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Eine überall in den höchsten Tönen gelobte EP ("A Comforting Notion") auf dem sagenumwobenen Speedy Wunderground-Label, eine vielbeachtete erste US-Tour mit The Kills und sogar ein Auftritt als Special Guest von St. Vincent in der altehrwürdigen Londoner Royal Albert Hall - ein wenig scheint es so, als würde sich alles in Gold verwandeln, was Jojo Orme derzeit anfasst. Gar nicht mal so schlecht für eine junge Künstlerin, die sich selbst mit einem Augenzwinkern als "Gothic Military Fairy" bezeichnet und auf den ersten Blick eher ein liebenswerter, schon in jungen Jahren vom Leben gebeutelter Nerd mit einem herrlich schrägen Faible für die Royal Air Force ist als ein trendiges Glamour-Girl. Tatsächlich war für sie das Musikmachen anders als für viele andere junge Acts heute, nicht in erster Linie als Karrieresprungbrett gedacht. "Musik war ein Mittel zur Flucht für mich", erklärt sie beim Videocall mit Gaesteliste.de. "Ich bin nie gut darin gewesen, mich mitzuteilen, und das ist auch heute noch so. Die Musik, selbst das Hören von Liedern, die ich vor langer Zeit gemocht habe, hat mir geholfen, meine Gefühle zu verstehen, und das führte mich zu dem Wunsch, mich auch selbst durch Musik auszudrücken. Ich war aber nie gut im Singen oder Songwriting, ein Totalausfall, aber Durchhaltevermögen und dass ich mir immer wieder gesagt habe, dass ich gut bin, hat mich an den Punkt gebracht, an dem ich dachte: Vielleicht kann ich doch meine eigene Songs schreiben und alles selbst in die Hand nehmen. Die Musik war für mich aber schon immer ein reines Ventil, um mich auszudrücken. Ich habe mir nie gesagt: Musikerin zu sein, das wär's! Es ging immer nur darum, mich mitteilen und als Mensch funktionieren zu können."
In den Songs auf "Glutton For Punishment" singt Orme deshalb beeindruckend freimütig und ungefiltert über zerrüttete Familien, zerbrochene Beziehungen und menschliches Leid singt, denn die Düsterkeit ist Spiegel ihrer eigenen Erfahrungen. Aufgewachsen in Cheltenham, einem Kurort im Südwesten Englands, verließ sie aufgrund einer angespannten Beziehung zu ihrer Mutter schon als Teenager ihr Zuhause. In den folgenden Jahren kam sie bei Freunden oder im YMCA unter und war kurze Zeit in einer Pflegefamilie. Diese Erfahrungen hallen nun auch in ihrem künstlerischen Tun nach, und auch als Mensch hat Orme ihre Lehren aus dieser Zeit gezogen. "Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, sich gesunde Wege zu suchen auszubrechen, sich nie selbst die Schuld zu geben und sich selbst nichts anzutun. Es gibt immer einen besseren Weg, auch wenn es immer sehr schwierig sein wird. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen du dir sagst: Ich halte das alles nicht mehr aus! Jeder Mensch erreicht irgendwann seine Grenzen. Suche dir trotzdem etwas, dass dir auf eine gesunde Art hilft, zu entkommen, und verfolge das weiter. Bleib so lange dran, bis du dich aus deinem Loch befreit hast. Das ist alles, was ich sagen kann. Ich möchte nicht allzu viele Ratschläge geben, denn natürlich gibt es viele Menschen, die noch viel schlimmere Dinge erlebt haben als ich." Dass sich Orme für die Musik entschieden hat, ist nicht zuletzt auch deshalb interessant, weil sie bereits in frühen Jahren stark von Poesie inspiriert war. "Ich bin vermutlich viel eher eine Dichterin als eine Songwriterin", gesteht sie lachend. "Das ist allerdings etwas, über das ich nicht viel spreche. Meine Gedichte, die noch nicht den Weg hinaus in die Welt gefunden haben, sind sehr gefühlstief, haben viel mehr Worte und erzählen eher Geschichten. Sie sind für mich ein Mittel, etwas ohne Umwege schnell aufzuschreiben, ohne mir Gedanken machen zu müssen, was die Gitarre dabei machen könnte. Deshalb träume ich davon, eines Tages vielleicht Kurzgeschichten zu schreiben, denn manchmal kann es ganz schön überwältigend sein, Songs zu schreiben. Bei der Musik geht es mir vor allem darum, die Bilder auszudrücken, die ich sehe. Wenn ich Musik mache, weiß ich immer sofort, wie sie als Film oder Musikvideo aussehen würde." Tatsächlich steht die Musik bei den Heartworms-Songs fast immer am Anfang. Denn auch wenn die Lieder durch eine wohlige Finsternis, die allen gemein ist, zusammengehalten werden - die Bedeutung der Lyrics erschließt sich selbst Orme nicht sofort. "Wenn ich Texte schreibe, dann geschieht das in der Regel schnell und spontan - es passiert einfach", verrät sie. "Es kommt nur sehr selten vor, dass ich einen fertigen Text habe, den ich dann vertone, wirklich sehr, sehr selten. Sobald der Song oder die Demoversion davon fertig sind, beginne ich, zu schlussfolgern und den Sinn zu verstehen, denn ich kann Dinge nicht begreifen, wenn sie nicht abgeschlossen sind. Ich muss erst einmal alles rauslassen, und nachdem ich es dann alles zusammengeworfen habe und es geformt habe, stelle ich fest: Ok, darum geht es hier also! Das ergibt Sinn! Das habe ich wohl tatsächlich gefühlt. Welcher Titel würde hier wohl passen? Manchmal gebe ich den Songs allerdings auch schon Namen, bevor ich überhaupt einen Text habe. Das ist alles ziemlich willkürlich." Sie hält kurz inne. "Ich habe bei dem, was ich tue, nur sehr selten einen Plan!" Ein bisschen scheint Ormes betont intuitive Herangehensweise an ihre Songs auch Spiegel ihrer eigenen Vergangenheit zu sein, mit der sie die fehlende Stabilität in ihrer Jugend nun spontan in Songs übersetzt und sich damals wie heute vor allem auf ihr Bauchgefühl verlässt. "Auf jedem Fall!", stimmt sie zu. "Meine Erziehung hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Wenn ich all das nicht durchgemacht hätte, wäre ich heute, ich weiß auch nicht, vielleicht Übersetzerin oder so!" Ihre Songs schreibt Orme für gewöhnlich in ihrem kleinen Arbeitszimmer / Heimstudio, die vielleicht entscheidende Eingebung für ihr Album kam ihr allerdings, als sie sich für eine Woche in die Altstadt von Hastings zurückzog, um in Ruhe an neuen Liedern arbeiten zu können. Dort entstand die Gitarrenmelodie von "Smugglers Adventure", benannt nach der nahegelegenen örtlichen Touristenattraktion. "Der Name meiner Sprachnachricht wurde automatisch in 'Smugglers Adventure' geändert, weil wir gerade in der Nähe waren", erinnert sie sich. "Das fand ich cool. Der Song gab dann das Gefühl für das ganze Album vor. Mir wurde bewusst, dass die Platte viel emotionaler werden würde. Stärker melodisch beim Gesang, aber auch viel schmerzhafter." Anders gesagt: Mit "Glutton For Punishment" lässt Orme den Sound der Heartworms-Debüt-EP ein Stück weit hinter sich. Die Kontraste sind dieses Mal größer, und klanglich gibt es auch Momente von zuvor ungekannter Leichtigkeit, ja Eingängigkeit. "Es hat mir wirklich Spaß gemacht, anders zu schreiben, andere Ansätze zu wählen", erklärt sie. "Ich mag es nicht, wenn die Dinge gleichbleiben. Das habe ich schon sehr früh über mich selbst gelernt. Als ich dieses Album schrieb, wusste ich, dass es nicht wie meine EP klingen sollte. Die Leute mögen meine EP aus einem bestimmten Grund, aber ich wollte sie nicht kopieren. An dieses Album mit einer solchen Freiheit heranzugehen und in der Lage zu sein, mehr zu zeigen, wer ich innerlich bin, war wirklich aufregend." Als wichtige Inspiration auf ihrem künstlerischen Weg nennt Orme "Wincing The Night Away" von The Shins, "To Bring You My Love" von PJ Harvey, "Turn On The Bright Lights" von Interpol, "Bad" von Michael Jackson und sogar "Every Kingdom" von Ben Howard, doch zuletzt war es vor allem Klassische Musik, die sie gehört hat. "Ich liebe die Musik von Chopin so sehr!", sagt sie. "Ich finde es derzeit ziemlich überwältigend, Musik mit Texten zu hören, weil ich so viele Dinge im Kopf habe, über die ich sprechen will, dass ich mich ziemlich abgelenkt fühle, wenn ich höre, wie andere Menschen singen. Klassische Musik ist da eine große Hilfe." Unterstützung bei der Umsetzung ihres ersten Album bekam Orme auch von Produzent und Speedy-Wunderground-Vordenker Dan Carey, dessen ungemein direkte Art und Weise, Musik ungeschönt in Szene zu setzen, ihr in die Karten spielte. "Als ich sah, wie er arbeitet, war ich sofort begeistert, denn ich mag es nicht, wenn Songs zu sehr produziert sind", verrät sie. "Mir gefällt, wie meine Stimme klingt, wenn man nicht das ganze Leben aus ihr rausgequetscht hat. Dan hat diese tolle Herangehensweise, bei der er sagt: 'Wir nehmen alles live auf und dann schauen wir weiter!' Also haben wir alles mit meinen Sessionleuten live eingespielt, und deshalb sind all die Emotionen greifbar. Anschließend haben wir dann angefangen, Kleinigkeiten zu entfernen oder hinzuzufügen, und das war wirklich großartig! Ich habe ja noch nie mit einem anderen Produzenten zusammengearbeitet, und ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst davor, denn ich würde zwar hoffen, dass sie alle so wie Dan arbeiten, aber natürlich weiß ich, dass das nicht der Fall ist. Sie haben alle ihre eigene Methode. Das finde ich faszinierend, aber für den Moment ist die Zusammenarbeit mit Dan einfach magisch!" |
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Ihren Kultstatus verdankt Orme nicht zuletzt auch ihren elektrisierenden Live-Shows, bei denen sie mit einem Hauch von Melodramatik, ohne Scheu vor großen Gesten und stets im Augenkontakt mit ihrem Publikum über die Bühne wirbelt. Doch das ist nicht alles, war ihre Shows außergewöhnlich macht. Während viele Acts heute bei ihren Konzerten darauf bedacht sind, die Studioversionen ihrer Songs möglichst 1:1 auf die Bühne zu bringen, geht Orme mit Heartworms einen anderen Weg. "Ich mag es, die Songs live anders zu spielen", erklärt sie. "Ich finde es wichtig, das zu tun. Ich singe die Songs live anders, damit ich mich mehr bewegen kann. Würde ich die Lieder genauso singen wie auf der Platte, müsste ich stillstehen!" Live will Orme ihrem Publikum die komplette Heartworms-Experience geben, die bis ins Detail durchdacht ist. Das gilt nicht nur für die Bühnenshow an sich, sondern auch für ihre Outfits: "Manchmal frage ich mich, ob ich jeden Tag etwas anderes tragen sollte, aber dann sage ich mir: Nein, es ist wichtig, eine Einheitlichkeit zu haben, denn nur das ist memorabel und kann ikonisch werden."
Ausgerechnet bei ihrem vielleicht prestigeträchtigsten Auftritt bisher konnte Orme dann aber auch am eigenen Leib erfahren, dass dennoch gerade ungeplante Momente das Potenzial haben, besonders magisch zu sein. Natürlich ist es nicht leicht, eine perfekte Show zu spielen, aber es ist leichter, einen makellosen Auftritt hinzulegen, als spontan die richtige Reaktion zu finden, wenn etwas schiefläuft. "Da hast du vollkommen recht! Als ich in der Royal Albert Hall St. Vincent supportet habe, hat gleich beim ersten Song meine Gitarre versagt und ich musste abbrechen", erinnert sie sich am Ende unseres Gesprächs lachend. "Weil es einen strikten Zeitplan gab, konnte ich nicht noch mal von vorn anfangen, und das hat dazu geführt, dass diese riesigen Gefühle der Wut aus mir herausgebrochen sind, und von dem Moment an war es die beste Show, die ich je gespielt habe - und das nur, weil etwas schiefgegangen war. Alle waren auf meiner Seite, das Publikum war begeistert. Es war einfach unglaublich!" |
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Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Gilbert Trejo- |
![]() Aktueller Tonträger: Glutton For Punishment (Speedy Wunderground/Pias/Rough Trade) |
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