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07.02.2005
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BIFFY CLYRO

Die sadistische Ader

Biffy Clyro
Drei Alben in etwas mehr als drei Jahren - eine gute und hohe Schlagzahl für die Band aus Glasgow, Schottland. "Infinity Land" heißt das neue Werk, und es scheint wirklich in der Welt von Biffy Clyro keinerlei Begrenzungspfähle zu geben. Wieder einmal bieten sie herausfordernde Rock-Songs, die man einfach nicht so leicht gebändigt bekommt, weil sie so vielschichtig sind - mal wird einfach straight drauflos gerockt, dann im selben Moment angehalten und eine andere Richtung eingeschlagen, es wird auch mal der Shouter freigelassen, dann aber auch mal die energische Stimmung zurückgenommen und etwas Melancholie verarbeitet. Viele Einzelteile, die wieder einmal - wie so oft in der Musik-Geschichte - eine Einheit bilden. Eine äußerst wohlklingende Einheit.

"Leidet" die Band eigentlich an einer Art von Kreativitäts-Überschuss, könnte man sich angesichts der zügigen Veröffentlichungen fragen. Da muss es auf jeden Fall eine gute Qualitäts-Kontrolle geben. "Ach, das ist ganz einfach", flachst James Johnston (Bass / Gesang) beim Gaesteliste.de-Interview auf der Reeperbahn in Hamburg, "wir verwenden die schlechten Stücke einfach als B-Seiten!" - "Naja, ganz so einfach ist es auch nicht", wirft Simon Neil (Gesang / Gitarre) ein. "Bei unseren Songs ist es meistens so, dass sie eine recht lange Phase durchmachen, in der wir vieles ändern oder weiter ausarbeiten. Das kann natürlich schonmal an die zwei Monate dauern, bei anderen Songs sind wir auch innerhalb einer Woche mit dem Thema durch." - "Wir merken meistens gleichzeitig, wann ein Song fertig ist. Es gibt oft so einen bestimmten Moment, wenn wir an neuen Songs im Proberaum arbeiten, an dem es einfach rund klingt und wir alle der Meinung sind, dass es jetzt stimmt", fügt Ben Johnston (Drums / Gesang) hinzu. Viele dieser neuen Songs werden schon vor der Studio-Phase vor allem beim Soundcheck gespielt und auch vor Publikum ausgetestet - und obwohl die Band scheinbar pausenlos auf Tour ist, werden die Songs zuhause in der gewohnten Umgebung geschrieben. Dort, wo man in Ruhe seine Gedanken und Ideen sammeln kann und nicht vom Tour-Stress abgelenkt wird. Die Songs werden in der Regel weitestgehend vor der Aufnahme-Phase geschrieben und intensiv einstudiert, im Studio an sich geht es in erster Linie nur darum, den bestmöglichen Sound zu finden. "Wenn wir im Studio sind, dann betrachten wir das Ganze als unseren Job, den wir schnellst- und bestmöglich erledigen wollen. Wir drei und unser Produzent versuchen dann, uns in diesen zwei Wochen - oder wie lange auch immer unser Studio-Aufenthalt dauert - von der Außenwelt abzuschotten und uns einfach nur auf die Aufnahmen zu konzentrieren. Hm, wenn wir aber noch einen Swimming-Pool hätten, würden wir die Band wohl sausen lassen und Profi-Schwimmer werden..." Davon abgehalten hat neben neben der fehlenden Pool-Einrichtung wohl auch Produzent - und inzwischen auch Freund der Band - Chris Sheldon, der bereits bei den vorherigen beiden Alben von Biffy Clyro an den Reglern gesessen hat (und auch bei Werken von z.B. Foo Fighters, Therapy?, Idlewild). Sheldon ist laut Aussage der Band genau der richtige Mann für die Aufgabe, aus dem Trio einen ungeheuer druckvollen Sound herauszuholen. Bleibt zu hoffen, dass nicht eine gewisse Routine eintritt. "Sicher gibt es diese Gefahr, aber wir vertrauen uns selbst genug, dass wir so etwas erst gar nicht entstehen lassen," meint Simon. "Wir ruhen uns eigentlich nie auf dem aus, was wir bis zu einem Zeitpunkt erreicht haben - wir setzen uns immer selbst weiter unter Druck, Chris arbeitet genauso, wir wollen immer etwas Neues ausprobieren." - "Da wir drei so einen engen Zusammenhalt haben, wenn es um unsere Musik geht, brauchen wir natürlich auch jemanden von außen, der eine Meinung dazu hat - aber demjenigen müssen wir absolut vertrauen können, und das ist mit Chris der Fall. Da unsere Musik für uns selbst etwas sehr persönliches ist, wollen wir da natürlich auch keinen heranlassen, der uns nicht versteht. Man hört ja immer wieder grauenvolle Stories von anderen Bands, die sich furchtbar mit ihrem Produzenten in die Haare kriegen, bloß weil er sein Ego durchsetzen und der Platte seinen eigenen Stempel aufdrücken will", erzählt Ben.

Biffy Clyro
Der Songschreibe-Prozess an sich ist immer noch relativ gleich geblieben - dennoch hat sich ein gewisser Wandel bei der Entscheidung, wer welchen Gesang übernimmt, eingestellt. Wir erinnern uns: Bei Biffy Clyro wechselt der Gesang von Song zu Song, teilweise sogar im Song selbst. "Ben hat einen anderen Stimm-Bereich als wir beiden", meint Simon. "Daher kann nur er bestimmte Passagen singen. So war es ja schon immer bei uns, und der Song an sich bestimmt schon relativ früh, wer welchen Part übernimmt. Aber wir haben uns in letzter Zeit sehr viel mehr für Harmonien beim Gesang interessiert, daher auch das A-Cappella-Stück 'There's No Such Man As Crasp' auf dem neuen Album. Solch ein Song ist für eine Rock-Band eher ungewöhnlich, aber so sind wir nunmal - wir machen eigentlich immer das Gegenteil von dem, was andere Leute von uns erwarten! So etwas finden wir extrem spannend, und ich würde liebend gerne mal ein Rock-Album kaufen, das mit einem Dance-Beat beginnt und anschließend folgt ein A-Cappella-Stück. Ich weiß zwar jetzt nicht, was ich in diesem Moment davon halten würde, und was andere Leute davon halten würden, aber sowas eher Ungewöhnliches interessiert mich sehr. Und in Bezug auf unsere Band lässt sich da sagen, dass wir alles nur erdenkliche aus uns dreien herausholen und ausprobieren wollen." Das neue Album startet dementsprechend überraschend mit einem recht hohen Elektronik-Anteil, bevor es dann in gewohnte Rock-Gefilde weiterführt. Simon: "Ja, wir haben da so eine gewisse sadistische Ader, dass wir die Leute gerne mal an der Nase herumführen und Dinge machen, die man jetzt nicht von uns erwartet hätte." - "Es hat einige Leute gegeben, die bei den ersten Minuten recht verwundert gefragt haben, wer das denn sein soll - gute Sachen kommen eben zu denjenigen, die warten können", fügt Ben grinsend hinzu. Wiederholung ist ein Wort, das im Biffy-Wortschatz nahezu unbekannt ist - war das erste Album, "Blackened Sky", noch eine recht straighte Rock-Angelegenheit - zumindest für Biffy Clyro-Verhältnisse -, folgte mit dem zweiten Werk, "The Vertigo Of Bliss", schon der Ausbau in Richtung noch vielschichtigere Rock-Konstrukte. Auf "Infinity Land" hingegen findet man zwar auch wiederum vertrackte Stücke, neben den bereits erwähnten Gesangs-Harmonien aber auch kürzere Stücke, die im allgemeinen schneller zum Punkt kommen. Eine Tatsache, die man wohl als natürliche Weiterentwicklung in Verbindung mit Erfahrung und Experimentierfreudigkeit bezeichnen könnte. Für das Jahr 2005 haben sich die Herren vor allem vorgenommen, ausgiebiger in Europa auf Tour zu gehen. Zuhause in Schottland und England absolvieren sie reihenweise Konzerte, auch schonmal bei einem Fan im Wohnzimmer. "Ja, das war eine Verlosung, die wir über unsere Website gestartet hatten - der Gewinner bekam dann also einen Gig in seiner Wohnung. Allerdings konnten wir nicht sehr lange spielen, denn nach ein paar Stücken stand bereits die Polizei vor der Tür, die die Herren dann kurzerhand mit Gewalteinwirkung aus den Angeln hoben und danach den Strom abstellten! Aber es war trotzdem ein klasse Abend", freut sich Simon. Sind denn Biffy Clyro bisher über irgendwelche alten Klischees in Deutschland gestolpert? "Die Deutschen sind extrem effizient, besonders Andrea [Promotion Managerin der Beggars Group] ist einfach unglaublich!", lobt Simon. Ben fügt noch hinzu: "Da unsere Heimat von England dominiert wird, und die Engländer ja in der Geschichte nicht so besonders gut auf Deutschland zu sprechen waren, wurden natürlich viele Klischees und Vorurteile verbreitet - vor allem der angeblich fehlende Humor in Deutschland. Aber das stimmt alles gar nicht - wir haben ja die Möglichkeit, viele andere Länder zu entdecken, und wenn wir hier z.B. in Deutschland unterwegs sind, stellt man immer wieder fest, dass, obwohl man vielleicht unterschiedlich spricht und unterschiedlich aussieht, wir alle aber eben Menschen sind - so banal sich das auch anhören mag..." - "Aber wir Schotten drücken den Engländern natürlich trotzdem gerne mal ein paar Sprüche rein", meint Simon lachend, woraufhin ein eher geflüstertes "Fuck English! Fuck English!" von James folgt. "Aber unsere Fans natürlich ausgenommen!", stellt Simon noch abschließend richtig.

Weitere Infos:
www.biffyclyro.com
www.beggars.com/artists/biffy_clyro/
biffyclyro.de.vu
www.indigo.de/unser_programm/3590/
Interview: -David Bluhm-
Fotos: -Paul Harries-
Biffy Clyro
Aktueller Tonträger:
Infinity Land
(Beggars Banquet/Beggars Group/Indigo)
 

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