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SHARON VAN ETTEN
 
Düstere Hoffnungsschimmer
Sharon Van Etten
"Ich habe das Unterwegssein aufgegeben, um mich selbst zu finden", sagt Sharon Van Etten bestimmt. Mit "Remind Me Tomorrow", ihrem ersten Album seit fünf Jahren, gewährt sie nun erstmals Einblick in ihr neues Leben - und überrascht dabei mit einem treibenden, düster schimmernden Sound, bei dem Retro-Keyboards, Analog-Synthesizer, prägnante Grooves und oft ein kühler New-Wave-Einschlag kompromisslos die Gitarre und das Indie-Folk-Songwritertum ihrer ersten vier Platten ersetzen. Textlich legt die 37-jährige Amerikanerin derweil auch dieses Mal ohne Scheu ihr Seelenleben offen, in den Fokus rückt sie dabei aber anstelle eines gebrochenen Herzens wie beim Vorgänger "Are We There" nun einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft. Konsenstauglicher ist das neue Werk deshalb, ohne die Intimität und Dringlichkeit einzubüßen, die Van Etten seit ihrem Debütalbum "Because I Was In Love" vor genau zehn Jahren auszeichnet, ja, einzigartig macht. Der soundtechnische Wandel ist dabei spürbar Ergebnis eines persönlichen wie künstlerischen Reifungsprozesses und nicht in erster Linie der Versuch, kommerziell die nächste Stufe zu erreichen.
Auch wenn sie beim Pressetag in Berlin etwas verschnupft ist: Die Auszeit vom Tourneealltag hat Van Etten merklich gutgetan. Das sieht sie auch selbst so: Als "glücklich, geborgen und selbstbewusst" beschreibt sie sich selbst beim Treffen mit Gaesteliste.de in ihrer Lieblingsabsteige in der deutschen Hauptstadt, dem Michelberger Hotel. Die Entscheidung, am Ende der 15-monatigen Welttournee zu ihrem letzten Album den Nomaden-Lifestyle gegen neue Herausforderungen daheim in New York einzutauschen, war nicht von langer Hand geplant. Doch nicht nur Fans und Freunde merkten gegen Ende der Gastspielreise, dass Van Etten genug hatte vom unsteten Leben als Musikerin "on the road". Dass sie nicht mehr jeden Abend die Leistung abliefern konnte, die sie selbst von sich erwartete, sah sie als Warnsignal. Schließlich war sie zuvor stets gerne auf Tour gewesen und hatte auch zu ihren Mitstreitern eine äußerst enge Beziehung aufgebaut. "Es gab bei uns nie Drama, und sobald ich die ersten Anzeichen dafür sah, wusste ich, dass ich handeln musste, bevor alles den Bach runtergeht", erinnert sie sich. "Um mich selbst und meine Band zu schützen und um auf mich selbst aufzupassen, habe ich die Pause eingelegt - und alle, mit denen ich zusammenarbeitete, haben das verstanden."

"Pause" ist allerdings eigentlich nicht das richtige Wort, denn kaum war die Tournee zu Ende, stürzte sich Van Etten in eine ganze Reihe neuer Abenteuer. "Man kann wirklich nicht sagen, dass ich faul auf meinem Arsch gesessen habe", sagt sie lachend. "Ich habe in New York gelebt und Wege gesucht, kreativ zu sein, ohne auf Tournee sein zu müssen. Ich habe mich an der Uni beworben, wurde aufgenommen und bin auch tatsächlich hingegangen, habe das Angebot für meine erste Schauspielrolle angenommen, bin Mutter eines Sohnes geworden, habe meinen ersten Film-Score geschrieben und meine Fühler in Richtung Comedy ausgestreckt… Nur jemandem, der mich ausschließlich als Musikerin wahrnimmt, dürfte die Wartezeit auf mein neues Album sehr lang vorgekommen sein."
Sharon Van Etten
Viele der Chancen abseits der Musik, die sich Van Etten in den letzten Jahren geboten haben, waren eher dem Zufall geschuldet. Als Herausforderung, sich damit auseinandersetzen zu müssen, anstatt selbst Pläne zu schmieden, sah sie das aber nicht. "Wenn ich diese Angebote bekommen hätte, während ich noch ständig unterwegs war, hätte ich nicht Ja sagen können", sinniert sie. "Inzwischen weiß ich allerdings: Sobald ich in meinem Leben loslasse und mir selbst Raum gebe, präsentiert mir das Universum neue Herausforderungen. Wann immer es möglich ist, sage ich deshalb Ja, gerade, wenn es um kreative Projekte geht, bei denen ich das Potenzial sehe, als Mensch und Künstlerin zu wachsen."

Wie so oft, kam auch dieses Mal alles auf einmal. Kaum hatte sich Van Etten nach dem Ende ihrer letzten Welttournee am Brooklyn College für Psychologie eingeschrieben, mit dem Ziel, eines Tages als Gesundheitsberaterin arbeiten zu können, da klopften aus heiterem Himmel die Macher die Netflix-Serie "The OA" mit einem Rollenangebot bei ihr an. "Nicht in einer Million Jahre hätte ich gedacht, dass ich mal eine Schauspielrolle annehme", sagt sie lachend. "Zunächst hätte ich fast abgesagt, weil ich Angst hatte, dass ich wie ein Scharlatan dastehe, denn als mir die Filmrolle angeboten wurde, war ich gerade erst zwei Wochen zurück am College. Zum Glück hatte mein äußerst fürsorglicher Partner die Idee, dass ich fragen könnte, ob ich auch ein Semester später starten könne, denn er fand, die Schauspielerei sei ein zu großes Abenteuer, um das Angebot abzulehnen - und natürlich hatte er damit vollkommen recht."

Der Mann an Van Ettens Seite und Vater ihres inzwischen knapp zweijährigen Sohnes ist für ihre Fans kein Unbekannter. Auf der Tour zum 2012er-Album "Tramp" war Zeke Hutchins ihr Schlagzeuger, heute ist er auch ihr Manager - wenngleich die beiden versuchen, Privatleben und Business so gut wie möglich zu trennen. Für ihre Band hat Van Etten deshalb inzwischen einen anderen Drummer gefunden, während sich Hutchins auf seine Rolle im Künstlermanagement (zu seinen Schützlingen gehören neben Van Etten auch Deer Tick und Leon Bridges) konzentriert und dabei das Wissen ausspielt, das er selbst in vielen Jahren auf Tournee gesammelt hat - auch wenn er den alten Zeiten vielleicht doch ein ganz kleines bisschen nachtrauert. "Er hat mir gesagt, dass er auf keiner Tournee so viel Spaß hatte wie auf unserer", verrät Van Etten kichernd. "Die Band mit ihm, Heather [Woods Broderick] und Doug [Keith] war aber auch wirklich etwas ganz Besonderes. Das hatte sicherlich auch ein wenig damit zu tun, dass das meine erste richtige Band war und ich damals das Gefühl hatte, dass alles passt, dass alles für mich Sinn ergibt. Rückblickend betrachtet waren das wirklich unschuldige Zeiten: Das war, bevor Doug Vater wurde und ich noch die ganze Zeit mit Heather abhängen konnte, weil sie damals auch in New York lebte. Zwischen uns bestand - und besteht auch immer noch - eine sehr tiefe Verbundenheit."

Ohne feste Band begann Van Etten die Arbeit an ihrer neuen Platte allein, auch wenn ihr anfangs noch gar nicht klar gewesen sein dürfte, dass sie im Begriff war, den Grundstein für ihr fünftes, musikalisch ganz anders ausgerichtetes Album zu legen. Ihren Abschied von der Gitarre begann Van Etten interessanterweise ausgerechnet während einer Auftragsarbeit - als Gitarristin. "Ich schrieb meinen ersten Film-Score für Katherine Dieckmanns 'Strange Weather', und als Anhaltspunkt nannte sie mir Ry Cooders Soundtrack 'Paris, Texas'", erzählt sie. "Das war ein bisschen viel verlangt für jemanden, der so minimalistisch Gitarre spielt wie ich, aber es war ein guter Ansatzpunkt, eine Herausforderung. Während der Arbeit gab es allerdings Tage, an denen ich völlig blockiert und verloren war und mit dem Rücken zur Wand stand."

Zur Ablenkung widmete sie sich den anderen Instrumenten, die ihr in dem Proberaum zur Verfügung standen, den sie sich mit dem Schauspieler Michael Cera teilte. "Ich brachte meine Gitarren und ein kleines Drumkit mit, er hatte einen Synthesizer, eine Hammondorgel und einen Drumcomputer", erinnert sie sich. "Um den Kopf freizukriegen, stellte ich eines Tages die Gitarre zur Seite und setzte mich an den Jupiter 4 [einen analogen Synthesizer]. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie er klingen würde, aber es war unglaublich aufregend, daran herumzubasteln. Ich schloss ihn an mein Pedalboard und meinen Verstärker an und ließ ihn düster und geheimnisvoll klingen, bis ich eine Klangfarbe und eine Akkordfolge gefunden hatte, die ich mochte. Ich nahm das auf und spielte dann ein paar synkopische Beats dazu, weil da ja noch das Schlagzeug von meinem Partner herumstand. Als ich mir das anschließend anhörte, dachte ich: 'Oh, das ist irgendwie interessant! Was könnte ich wohl noch damit anstellen?' Also sang ich noch drüber und war selbst überrascht, dass das Ergebnis irgendwie gleichermaßen poppig und düster war. Ich drückte Stopp und musste kichern, obwohl ich ganz allein im Raum war. Ich speicherte die Aufnahme ab und widmete mich mit frischem Geist wieder der Gitarre und dem Soundtrack. In der Zeit, in der ich daran arbeitete, wiederholte sich das Spielchen immer wieder. Die meisten der neuen Songs entstanden auf diese Weise. Einige schrieb ich auch auf der Gitarre, aber zumeist verfremdete ich den Klang so sehr, dass man kaum merkte, dass es sich um eine Gitarre handelte. Mit den neuen Songs habe ich bewusst ein Stück Abstand genommen von meiner Rolle als Singer/Songwriterin."

Sharon Van Etten
Der Ansporn, diesen Weg auch tatsächlich für das Album weiterzuverfolgen, kam von Produzent John Congleton, der zuvor bereits den Sound von Künstlern wie St. Vincent, Amanda Palmer oder The Decemberists in interessante neue Bahnen gelenkt hatte und nun dafür sorgte, dass "Remind Me Tomorrow" mit stilistischer Vielfalt zwischen Retro-Charme und Moderne glänzt. "Als er sich die Demos anhörte, waren seine Favoriten die Tracks, die um Drones herum aufgebaut waren, düster und basslastig, bei denen ich auch stimmlich mehr gewagt habe. Anfangs habe ich so viel Hall auf die Stimme gelegt, dass ich kaum noch verstehen konnte, was ich sang. Es ging mir mehr darum, den Gesang als zusätzliches Instrument einzusetzen, anstatt tatsächlich Texte zu schreiben. Im Vordergrund stand für mich, Melodien zu den simplen Akkordfolgen zu finden. Das wurde zur zentralen Klangpalette, mit der John arbeiten musste." Um sich die Arbeit etwas zu erleichtern, fragte Congleton seine Klientin nach Referenzbands und die hatte einige überraschende Antworten parat. "Ich sagte: 'Suicide, Portishead und Nick Caves 'Skeleton Tree'', und er machte ganz große Augen und sagte: 'Ich muss diese Platte unbedingt machen!' Er war ganz aufgekratzt! So fing alles an!"

Überzeugt, genau den richtigen Partner für ihren Neuanfang gefunden zu haben, schenkte sie Congleton ihr volles Vertrauen. Auch als Reaktion auf den von ihr selbst produzierten Vorgänger, bei der ihr die Verantwortung nicht nur für ihr eigenes Schaffen, sondern auch für die von ihr eingeladenen Mitstreiter emotional viel abverlangt hatte, überließ sie Congleton für "Remind Me Tomorrow" auch die Auswahl der beteiligten Musiker. Einzig und allein ihre kongeniale Gesangspartnerin Heather Woods Broderick wiederholte ihre Rolle von "Are We There".

Die Texte für das Album entstanden erst lange nach den ersten musikalischen Ideen. Auch sie vermitteln authentisch Van Ettens Aufbruchstimmung, sind nachdenklich und dunkel, aber doch hoffungsvoll. "Ich wollte Songs schreiben, die den Menschen zeigen, wo ich stehe, damit auch sie hoffnungsvoll sein können, aber gleichzeitig wollte ich Dinge, die draußen in der Welt passieren, nicht völlig ausblenden. Die Produktion der Platte, die dunklen Klänge, die Intensität, die Aggression der Instrumentierung, die Auswahl der Keyboards und Synthesizer, die zum Einsatz kamen - all diese Anspannung repräsentiert für mich den Zustand der Welt derzeit." Gleichzeitig schrieb sie viele der Texte, mit ihren Demos auf dem Kopfhörer, während sie auf ihren Sohn blickte: "Da wusste ich, dass es meine Aufgabe ist, die Hoffnung nicht aufzugeben!"

Auch wenn sich Van Etten auf ihr Bühnen-Comeback freut ("Ich werde ohne Instrument auf der Bühne stehen, mich direkt ans Publikum wenden und versuchen, auf eine ganz andere Art zu fesseln. In gewisser Weise wird sich das anfühlen, als wenn ich in eine neue Rolle schlüpfe - auch wenn es tatsächlich nur eine andere Seite von mir ist", sagt sie) - für die Antwort auf die Frage, was sie derzeit am glücklichsten macht, muss sie nicht nachdenken: "Mein Sohn!", sagt sie leise - und strahlt.

Weitere Infos:
www.sharonvanetten.com
www.facebook.com/SharonVanEttenMusic
www.instagram.com/sharonvanhalen
www.twitter.com/sharonvanetten
en.wikipedia.org/wiki/Sharon_Van_Etten
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Ryan Pfluger-
Sharon Van Etten
Aktueller Tonträger:
Remind Me Tomorrow
(Jagjaguwar/Cargo)
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