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KEVIN MORBY
 
Modernität, die niemals altert
Kevin Morby
Mit Können und Charisma ist Kevin Morby in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten Referenzgrößen der Indiewelt aufgestiegen. Jetzt geht der rastlose Himmelsstürmer aus Kansas mit der ambitionierten Doppel-LP "Oh My God" mutig neue Wege und klingt am Ende doch mehr nach Kevin Morby als je zuvor. Mit Glanzlichtern wie "Hail Mary" jagt er zwar auch hier dem einst von Bob Dylan und The Band beschworenen Thin Wild Mercury Sound nach, im Mittelpunkt seines fünften Werks als Solist aber steht eine neue Pop-Art-Klangkunst, bei der Reduktion Trumpf ist. Gaesteliste.de traf den früher mit The Babies und Woods aktiven 31-jährigen Tausendsassa, der übrigens mit Waxahatchees Katie Crutchfield liiert ist, bei seinem Pressestopp im Berliner Michelberger Hotel.
Kevin Morby hat in den letzten Jahren nur wenig Zeit zum Durchatmen gehabt. "Oh My God" ist bereits sein fünftes Album in kaum mehr als fünf Jahren, dazu gesellen sich noch eine Handvoll Non-Album-Singles und gerade in den letzten Jahren weltweite Tourneen, für die das alte Fußballermotto "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel" zu gelten scheint. "Als ich mein erstes Album, 'Harlem River', aufgenommen habe, war ich ein junger, aufstrebender Künstler, und es ging mir erst einmal darum, gehört zu werden", erklärt er. "Jetzt beschäftigt mich die Musik nonstop. Das ist ein Ball, der ins Rollen gekommen ist und inzwischen unaufhaltsam ist." Für Morby bedeutete diese Erkenntnis eine gewisse Umstellung. Sein Körper sei inzwischen älter und sein Verstand müder, sagt er scherzhaft, aber seit aus seiner Berufung sein Beruf wurde, musste er sein Leben dem Künstlerdasein anpassen. "Die meisten Leute reizt an der Musik der Lebensstil, die Drogen und der Alkohol", glaubt er. "Wenn du einmal einen gewissen Erfolg erreicht hast und den aufrechterhalten willst, dann musst du wie ein Athlet denken. Vielleicht musst du körperlich nicht ganz so fit sein, aber du musst auf dich aufpassen, um das alles durchzustehen."

Veränderungen gibt es aber nicht nur in Morbys Lebenswandel. Denn obwohl die alten Helden, obwohl Bob Dylan, Leonard Cohen und The Velvet Underground auch auf "Oh My God" noch Schatten werfen: Oft reichen nun Gesang, ein gespenstisches Keyboard, Chorstimmen zwischen Soul und Gospel und ein Street-Jazz-Saxofon, um mit deutlich reduzierten Mitteln all die Emotionen auszulösen, für die Morby zuvor das ganze Indierock-Besteck benötigte. Die gemeinsam mit Morbys langjährigem Weggefährten und Produzenten Sam Cohen umgesetzte klangliche Neuorientierung war allerdings zunächst eher dem Zufall geschuldet. Morby kann sich noch genau an den Tag im Studio erinnern, der alles veränderte: "Wir machten ein oder zwei Sessions mit meiner wirklich sehr talentierten Live-Band, Meg Duffy (Leadgitarre), Cyrus Gengras (Bass) und Nick Kinsey (Schlagzeug), die Sam produzierte. Irgendwann gingen dann alle nach Hause und Sam und ich hörten uns die Aufnahmen an. Er sagte: 'Das klingt prima, aber es fühlt sich ein wenig so an, als wenn wir diese Platte schon einmal gemacht hatten!' Wir überlegten, was ich mit den Liedern rüberbringen wollte, bis er vorschlug, dass ich mal nur singe und er Orgel dazu spielt. Als wir diesen Sound hörten, wussten wir sofort: Genau das müssen wir machen! Es klang wie etwas, das du vielleicht in einer Kirche hören würdest, und im Hinblick auf die Thematik der Texte war das genau die Richtung, in die wir uns bewegen wollten."

Dem neu ausgerichteten Sound zum Trotz beweist Morby auf "Oh My God" allerdings ein gutes Gespür dafür, all das beizubehalten, was ihn in den letzten Jahren zu einer echten Referenzgröße werden ließ, und sucht sich von dort aus Wege und Möglichkeiten, sein Spektrum spürbar zu erweitern. "Auch wenn man nie nie sagen sollte - vielleicht mache ich in zehn Jahren elektronische Musik, um mich nicht zu langweilen -, achte ich schon darauf, dass der Kern intakt bleibt", sagt er und liefert den Grund dafür gleich mit: "Meine Musik hat sich für mich immer sehr analog angefühlt. Auch live bin ich derzeit nicht an einer großen Produktion wie etwa einer aufwendigen Lightshow interessiert. Es geht mir primär um die Songs und wie man sie anders gestalten kann, nicht darum, wie man das Drumherum verändert." Als leuchtendes Beispiel dienen Morby dabei die klassischen Auftritte der Soul-Bands der 60er, der frühen Rolling Stones oder auch Nina Simones - Performances, die ganz auf das Zusammenspiel der Musiker ausgerichtet sind, auf den Moment, wenn eine Band größer wird als die Summe ihrer einzelnen Teile, wie das auch bei Morby und seinen Mitstreitern in den letzten Jahren so eindrucksvoll gelungen war.

Kevin Morby
Textlicher Ausgangspunkt für das neue Album war Morbys Song für die Ewigkeit, das Anfang 2017 nur als Single veröffentlichte "Beautiful Strangers", in dem das "Oh My God" erstmals auftauchte, das nun dem neuen Album seinen Namen gibt. Auch wenn es zwei Jahre gedauert hat - dass er mit dem Song etwas Großem auf der Spur war, wurde Morby schon beim Schreiben bewusst. "Ich dachte damals: 'Wow, das ist vermutlich das beste Lied, dass du je schreiben wirst"', erinnert er sich. "Ich hatte dabei den Kummer der Welt im Sinn: Die Überfälle auf das Bataclan und den Pulse Nightclub und der Tod von Freddie Gray lagen noch nicht lange zurück. Gleichzeitig hatte ich nach einer sehr schmerzhaften Trennung mit meinem eigenen Trauma zu kämpfen, aber es hätte sich selbstsüchtig angefühlt, allein darüber zu schreiben. Ich konnte nicht meinen Herzschmerz in den Fokus rücken, während in der Welt viel Schlimmeres passierte."

Das "Oh My God"-Mantra war dabei seine Reaktion auf den nicht abreißenden Strom an schlimmen Nachrichten - und nicht allein auf "Beautiful Strangers" beschränkt. Als er bemerkte, dass er die Formulierung unterbewusst auch in einer Reihe weiterer neuer Lieder verwendete, schälte sich ein echtes Konzept für seine nächste LP heraus. Das Arbeiten mit einem konzeptionellen Rahmen ist derweil kein Neuland für Morby. Seit Beginn seiner Solokarriere hat er sich der Idee eines echten Konzeptalbums praktisch Schritt für Schritt genähert. "Das stimmt!", bestätigt er. "'Harlem River' hatte kein wirkliches Konzept, abgesehen davon, dass ich mich mit diesen Songs von New York verabschiedet habe. Das einzige 'Konzept' war, dass ich die Lieder in New York geschrieben hatte. Für 'Still Life' gab es dann gar kein Konzept, die Songs reflektierten lediglich das schnelllebige Tourneeleben, das ich damals führte. Bei 'Singing Saw' wurde mir dann zum ersten Mal bewusst, dass die Songs textlich zwar nicht alle zusammenhängen, aber klanglich eine echte Einheit bilden. 'City Music' hatte dann definitiv ein Konzept, auch wenn ich das - etwa mit dem auf dem Album veröffentlichten Germs-Cover - nicht ganz stringent verfolgt habe. Dieses Mal fühlte sich das Ganze vollkommen an."

Dem Titel zum Trotz ist "Oh My God" eher ein spirituelles denn religiöses Werk geworden. "Wo ich aufgewachsen bin, ist die organisierte Religion voller Vorschriften", erinnert er sich an seine Jugend am Rande des Bible Belt der USA. "Deshalb habe ich mich nie zugehörig gefühlt." Als er als Teenager Künstler wie Patti Smith für sich entdeckte, ersetzte die Idee von Spiritualität den engen Rahmen, den die organisierte Religion vorgab. "Ich war in einem Alter, in dem ich alles hinterfragte", erinnert er sich. "Du blickst nach oben und fragst dich: "Was ist der Himmel?" Das hört sich an wie ein Kifferspruch, aber du beschäftigst dich einfach mit all den großen Fragen. Spiritualität bedeutet für mich, für diese großen Fragen offen zu sein und sich die Zeit zu nehmen, im Alltag darüber nachzudenken. Außerdem bedeutet sie für mich, ein guter Mensch zu sein, sie ist eine Richtschnur, wenn es darum geht, Gutes für andere Menschen zu tun. Außerdem ist einer meiner besten Freunde gestorben, als ich 20 war, und das war für mich ein Auslöser, das Leben mit ganz anderen Augen zu sehen."

Kaum ist "Oh My God" veröffentlicht, geht es für Morby auch schon wieder raus auf Tour. Die meisten Konzerte in diesem Jahr wird er mit kleinem Besteck bestreiten, zunächst einmal aber steht im Sommer in Europa eine Gastspielreise mit einem achtköpfigen Ensemble an - Backingsängerinnen und Saxofonist inklusive. "Ich denke, es ist jetzt einfach Zeit dafür", sagt Morby. "Wenn ich alles Geld der Welt schon zu 'Singing Saw'-Zeiten gehabt hätte, wäre das sicherlich auch schon damals eine Option gewesen, schließlich war das Album voll von Chören und all den Instrumenten, die ich nun haben werde, aber dass daraus nichts wurde, hat auch zu großartigen Dingen geführt. Meg schloss sich meiner Band an und wir spielten zu viert diese Rock'n'Roll-Versionen der Songs. Wir waren gezwungen, uns was zu überlegen, aber daraus entstand etwas ziemlich Einzigartiges. Nichtsdestotrotz: Jetzt habe ich das Budget für eine größere Band, und ich bin mir sicher, dass auch dieses nächste Kapitel ein Riesenspaß wird!"

Auf die Auftritte freut sich Morby auch deshalb, weil er zuletzt ein wenig das Gefühl hatte, mit seinem Quartett die Grenzen des Machbaren erreicht zu haben, wenngleich ihn kurz vor seinem Interviewtrip durch Europa ein Festivalauftritt in den USA daran erinnerte, dass seine Lieder nicht an eine bestimmte Besetzung gebunden sind. "Wir hatten diesen Auftritt in Arizona, aber Meg konnte nicht kommen, weil sie mit Hand Habits beschäftigt war, also gingen wir als Trio auf die Bühne. Wir hatten zu dritt gar nicht geprobt und dachten: 'Das wird bestimmt fürchterlich ganz ohne Meg!', aber letztlich war es großartig! Das hat mir einmal mehr bewiesen, dass Songs alle möglichen Formen annehmen können. Solange die Lieder gut sind, kann man sie auf jede erdenkliche Art und Weise spielen: zu viert, zu acht oder eben zu dritt, so wie ich das ja früher lange mit Meg am Bass und meinem Freund Justin [Sullivan] am Schlagzeug getan habe.

Kevin Morby
Wer nicht die Möglichkeit hat, einen der im Juni anstehenden Auftritte in Berlin, Mannheim oder Hamburg zu besuchen, hat noch eine weitere Gelegenheit, Morby dieses Jahr zu sehen, denn "Oh My God" wird visuell von einem herrlich verrückten Kurzfilm begleitet. Wollte Morby damit den Konzeptgedanken der LP auf die Spitze treiben, oder war das schlichtweg eine weitere Chance, die sich durch mehr finanzielle Freiheiten ergab? "Wenn ich ehrlich bin, war es ein wenig von beidem", gesteht Morby. "Ich entschloss mich, drei Musikvideos mit dem Regisseur Chris Good zu drehen, und sobald er an Bord war, fragte ich mich: 'Warum machen wir daraus nicht gleich einen kompletten Film zum Album?' Genau das haben wir dann getan!"

Ein Trailer geistert bereits durchs Netz und lässt erste Rückschlüsse auf die Inspirationen zu. Ein wenig scheint bisweilen die Handschrift von David Lynch durchzuscheinen, vielleicht auch ein bisschen Wim Wenders? "Der Grundstein für den Film ist die Art und Weise, wie Chris Regie führt", erklärt Morby. "Er hat die Musikvideos geschrieben und ich den Rest, dadurch kommen eine Reihe Einflüsse zusammen. Chris ist sehr von Wes Anderson oder Michel Gondry beeinflusst und vermutlich von einer ganzen Reihe anderer Regisseure, nach denen du ihn selbst fragen müsstest. Ich dagegen bin ein völliger Novize, wenn es um den Filmkram geht. Die Parts, die ich geschrieben habe, sind allerdings stark von Jim Jarmusch beeinflusst. Ich bin ein großer Fan von ihm! Wenn du den Film siehst, wirst du feststellen, dass Chris' Videos ein sehr hohes Tempo haben und sehr surreal sind. Meine Parts sind auch surreal, aber die Einstellungen sind länger und es geht mehr um den Dialog. Ich hoffe, das Publikum mit den Dialogen bei der Stange zu halten, während Chris es mit schnellen Schnitten und einem visuell ansprechenden Ganzen erreicht."

Ähnlich wie die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten im Tonstudio sah Morby auch den Film als Gelegenheit, nach neuen Herausforderungen abseits des Bekannten zu suchen. "Das war auf jeden Fall so", bekräftigt er. "Dass ich so ein Stück weit aus der Normalität ausbrechen konnte, hat mich in der Tat zusätzlich an dem Film gereizt. Ich mag diese Art der Herausforderung, denn sie sorgt dafür, dass es interessant bleibt. Ich möchte nicht Gefahr laufen, mich irgendwann zu langweilen. Ich möchte immer etwas Neues ausprobieren. Manchmal tust du etwas und stellst fest, dass es Schrott ist, aber den Versuch war es trotzdem wert! Es gab Momente bei der Entstehung des Films, in denen ich dachte: 'Was mache ich hier bloß? Ich verschwende hier nur Zeit!', aber am Ende bin ich nun doch sehr glücklich mit dem Ergebnis. Doch selbst wenn nicht: Dann hätte ich zumindest an Erfahrung gewonnen!"

Der Film ist allerdings nicht der einzige interessante Aspekt an "Oh My God". Sämtliche Fotos für das Album sowie sämtliche Promobilder wurden von Barrett Emke geschossen, einem alten Bekannten Morbys aus Kansas City, der moderne Technik mit klassischer Bildkomposition vereint. "Barrett hat mit den Fotos in der Tat tolle Arbeit abgeliefert", freut sich Morby. "Man sieht sofort, dass sie mit einer Digitalkamera gemacht wurden und dass sie irgendetwas Neues haben, aber man merkt auch sofort, dass sie die Zeiten überdauern werden - etwa so wie die Bilder, die Robert Frank in den 50ern gemacht hat. Sie waren damals neuartig, aber es war bereits sichtbar, dass sie gut altern würden. Barrett ist sehr talentiert, und es war großartig, mit ihm zu arbeiten." Die Zusammenarbeit mit Emke ergab aber nicht nur aus visueller Perspektive viel Sinn. Kunst zu erschaffen, die sich modern anfühlt, aber niemals altern wird - genau das macht Morby schließlich auch mit seiner Musik.


Weitere Infos:
www.kevinmorby.com
www.facebook.com/kevinrobertmorby
www.twitter.com/kevinmorby
wwww.instagram/kevinmorby
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Fotos: -Barrett Emke-
Kevin Morby
Aktueller Tonträger:
Oh My God
(Dead Oceans/Cargo)
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