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Interview-Archiv

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CHRIS BROKAW
 
Spät am Abend
Chris Brokaw
Die Idee für das Album "End Of The Night" kam Chris Brokaw und Steve Lowenthal in der Tat am Ende des Abends. Nach vielen Stunden mit guter Musik stellte sich dem mit Codeine und Come schon früh unsterblich gewordenen Indierock-Genrebrecher aus Boston und dem in Pasadena heimischen Vordenker des auf "21st century guitar music" spezialisierten Connaisseur-Labels Vin Du Select Qualitite (VDSQ) die Frage, welches Album das richtige sei, um den Abend zu beschließen. Doch anstatt die Antwort im eigenen Plattenregal zu suchen, hatte Lowenthal einen besseren Vorschlag. "Ich bat Chris ohne Umschweife, für mich das Album zu machen, das wir in diesem Moment hören mussten, eine Platte für das Ende des Abends", schreibt er im Info zu "End Of The Night".

Bis zur Fertigstellung des Projekts gingen einige Jahre ins Land, nicht zuletzt auch deshalb, weil Brokaw das Album anders als die meisten seiner sonstigen Werke unter eigenem Namen nicht komplett allein einspielte, sondern mit Lowenthal als wichtigem Impulsgeber mehr als ein halbes Dutzend renommierte Musiker aus seinem Dunstkreis bat, die Platte als echtes Ensemblewerk in für ihn unbekannte Gewässer zu navigieren. Mit dem Trompeter Greg Kelley, der Cellistin Lori Goldston, der Geigerin Samara Lubelski und Gästen wie David Michael Curry, Luther Gray, Jonah Sacks und Timo Shanko entstand so nicht nur feingeistig-melancholische Instrumentalmusik, die wie gemacht ist für die blaue Stunde, sondern auch ein hinreißendes Album, mit dem Brokaw seinen Fokus weiter denn je vom Indierock entfernt und in wechselnden kleinen Bandbesetzungen zu zweit, zu dritt oder zu viert in puncto Stimmung und Instrumentation die Fühler in Richtung Jazz ausstreckt.

Im Gegensatz zu Brokaws erster VDSQ-Platte, "Solo Acoustic Volume Three", die vor zehn Jahren als strikt limitierte Vinylauflage nur in den USA erschienen war, wird "End Of The Night" nun auch hierzulande veröffentlicht, markiert das Album doch den Auftakt einer Zusammenarbeit zwischen VDSQ und dem von Walkabouts-Mastermind Chris Eckman ins Leben gerufenen Label Glitterbeat, dessen Instrumental-Sparte Tak:til für die Europa-Veröffentlichung verantwortlich zeichnet.

Für unser Interview zu "End Of The Night" erwischen wir Brokaw bei seinem Job als Gitarrist der Lemonheads am anderen Ende der Nacht - frühmorgens. "Es ist halb neun und wir sind gerade in Detroit eingetroffen", verrät er. "Ich bin im Tourbus uns alle anderen schlafen noch. Draußen regnet es."
GL.de: Die Inspiration zu "End Of The Night" war eine spätabendliche Listening Session. Was war dein erster Gedanke, als Steve Lowenthal die Idee zu dieser Platte hatte, und wie weit ist das Resultat davon entfernt?

Chris Brokaw: Mein erster Gedanke war, dass diese Aufgabenstellung, die letzte Platte des Abends zu machen, die vielleicht tollste Aufgabe war, die mir je übertragen wurde, und dass ich unbedingt alles richtig machen wollte. Ich wollte das Ganze auf keinen Fall versauen! Deswegen war ich ein wenig eingeschüchtert und musste erst einmal lange darüber nachdenken. Meine ursprüngliche Vision war eine völlig andere. Ich dachte, die Platte könnte einen Rock-noir-Vibe haben, wie die Musik aus einem Film mit Spionen, aber letztlich ist etwas ganz anderes daraus geworden, worüber ich sehr glücklich bin."

GL.de: Wie würdest du die Platte nun beschreiben?

Chris Brokaw: Ich bin ich nicht ganz sicher, ob es nun letztlich eine Platte für oder über das Ende der Nacht ist. Ich glaube, es ist eher Letzteres, was für mich vollkommen in Ordnung ist. Das Album hat ein Eigenleben entwickelt und einen Sinn abseits des ursprünglich geplanten bekommen, und mir gefällt es, wenn das passiert."

GL.de: Hast du in der Aufgabenstellung eine Herausforderung gesehen? Trotz all der unterschiedlichen Sachen, die du in den letzten 30 Jahren gemacht hast, klingt "End Of The Night" noch einmal völlig anders!

Chris Brokaw: Die größte Herausforderung war, den Anfang zu finden. Dabei haben mich einige Dinge unter Zugzwang gebracht: Steve Lowenthal wollte unbedingt, dass Greg Kelley auf dem Album mitspielt. Wir sind alle Freunde - Greg und ich kannten uns ein wenig in Boston und lernten uns dann besser kennen, als wir beide in Seattle heimisch waren. Greg ist ein toller Kerl und echt so etwas wie ein Genie. Steve wollte ihn auf jeden Fall dabeihaben, und als ich mich entschied, zurück nach Boston zu gehen, dachte ich: "Oh, Scheiße, ich muss noch mit Greg aufnehmen, bevor ich umziehe." Er, Lori Goldstein und ich hatten ab und zu zusammen gespielt, und in meinem letzten Jahr in Seattle bin ich mit Lori oft als Duo aufgetreten. Die beiden haben mir durch ein wirklich schweres Jahr (2016) geholfen, und mir war klar, dass wir etwas zusammen aufnehmen mussten, bevor ich wegziehe. Zwei Tage bevor ich aufbrach, entstanden so "Swimming, Tuesday" und "The Bragging Rights" in einem Studio in Seattle. Die zwei dabeizuhaben, war eine echte Offenbarung für mich. Ich war vollkommen begeistert von dem, was sie beitrugen, und daraus ergab sich, was aus der Platte werden könnte.

GL.de: Eigentlich haben wir dich ob all deiner verschiedenen Spielwiesen immer als musikalischen Freigeist betrachtet. Wie passt ein Projekt mit solch klar abgesteckten Rahmenbedingungen dazu?

Chris Brokaw: Nun, ich mag Aufgabenstellungen. Ich mag es zudem, mit Einschränkungen zu arbeiten. Allerdings hatte ich bei dieser Platte nicht das Gefühl, dass es Grenzen gab. Alles fühlte sich sehr offen an und der Prozess war ziemlich entspannt. Steve war eine wichtige Leitfigur bei beiden VDSQ-Platten, die ich gemacht habe. Unsere Beziehung ist genauso ungewöhnlich wie angenehm. Er spielt eine wichtige Rolle im kompletten Prozess.

GL.de: Das Album ist die am stärksten kollaborative Platte, die du je unter deinem eigenen Namen veröffentlicht hast. Während sonst deine Mitstreiter lediglich deine Ideen akzentuieren, bist du hier Teil eines echten Ensembles. Darf man das so sagen?

Chris Brokaw: Ja, absolut, und es war toll, mich so weit zu öffnen. Ich habe allen Mitstreitern komplett vertraut und ihren Input willkommen geheißen. Für gewöhnlich bin ich eher ein Kontrollfreak und schreibe genau die Musik, die ich selbst hören will. Dass ich mich so weit geöffnet habe, lag vielleicht auch daran, dass ich mit Instrumenten wie Trompete und Cello arbeitete, die ich selbst nicht beherrsche.

GL.de: Gemeinsam mit Steve hast du dieses Mal in puncto Kollaborateure und Instrumentierung ein wenig über den Tellerrand geschaut. War das etwas, das dir von Anfang an vorschwebte, oder hat sich das erst im Prozess entwickelt?

Chris Brokaw: Der erste Impuls - Greg einzubinden - kam von Steve, und danach war alles weit offen. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, auch noch ein Saxofon hinzuzufügen, aber der Saxofonist, den ich haben wollte, konnte am fraglichen Abend nicht ins Studio kommen. Rückblickend bin ich sogar fast froh darüber.

GL.de: Auch wenn dich viele vermutlich immer noch im Indierock verorten - im Info zum Album hat Steve deine Herangehensweise mit den Methoden des Jazz verglichen. Verrätst du uns, wie du zum Jazz gekommen bist und was dabei besonders prägend war?

Chris Brokaw: Steve und ich sind beide große Jazz-Fans, aber niemand würde einen von uns als echte Jazzer bezeichnen. Ich bin auf die Jazzmusik in den 90ern gekommen, und letztlich habe ich das ganze Jahrzehnt damit verbracht, sie zu entdecken und mich in die Musik einzugraben. Charles Mingus war der erste Jazzer, den ich wirklich "verstanden" habe, und seine Musik ist immer noch eine große Sache für mich, die Messlatte für alles andere. Von dem Punkt kam ich auf Eric Dolphy, Andrew Hill, Archie Shepp, Chet Baker, Anthony Braxton, Steve Lacy, Herbie Nichols, Lee Morgan, Peter Brötzmann, Misha Mengelberg, Cecil Taylor - die Liste geht ewig so weiter. Das war eine große Sache für mich, aber zunächst stets abseits der Musik, die ich selbst machen wollte. Spannend fand ich dabei nicht zuletzt, dass ich keine Ahnung hatte, wie Jazz funktioniert. Ich habe mich immer ein wenig wie ein Tourist gefühlt, der nur von außen draufschaut, als käme ich aus einer völlig anderen Community, nennen wir sie Indierock. Das Gefühl habe ich auch heute noch, aber meine Musik hat sich inzwischen auf eine Art und Weise geöffnet, die womöglich vom Jazz beeinflusst wurde. Wie ich mein Leben und meine Karriere führe - mit vielen Kollaborationen und vielen, vielen Platten - und auch die Arbeitsweise, die ich nutze, habe ich mir bei Jazzmusikern abgeschaut.

GL.de: Mit "End Of The Night" gelingt es dir einmal mehr, die Grenzen deines bisherigen Soundkosmos zu überschreiten, gleichzeitig steckt in den Liedern aber immer noch so viel von deiner Persönlichkeit als Instrumentalist und Songwriter, dass jeder, der deine bisherigen Werke schätzt, auch diese LP mögen kann. Geschah das mit Vorsatz, immerhin handelt es sich ja um ein Chris-Brokaw-Soloalbum und nicht um ein Bandprojekt?

Chris Brokaw: Ich habe zu keiner Zeit versucht, das Album mehr oder weniger nach mir klingen zu lassen. Mir war klar, dass 'Step Outside' sich sehr wie Codeine anfühlte, und das war eine Verbindung, die ich gerne hergestellt habe, aber das passierte eher zufällig bzw. intuitiv, so in etwa wie: Das ist nun einmal ein Teil von mir, das ist schon okay!

GL.de: Ist es dir leichtgefallen, für diese Platte eine andere musikalische Palette zu verwenden? Dachtest du eher: "Oh ja, mit Trompete kann ich arbeiten!", oder musstest du dich erst einmal hinsetzen und überlegen, wie die neuen musikalischen Farbtöne zu deinem betont eigenständigen Stil passen?

Chris Brokaw: Die zwei Songs, die ich mit Greg aufgenommen habe, sind vermutlich meine Favoriten auf dem Album und ich habe seinem Trompetenspiel erlaubt vorzugeben, in welche Richtung ich mit beiden Songs gehe. Das Ganze war so aufregend, weil Greg für gewöhnlich einen viel experimentelleren Stil hat - das ist das, wofür er bekannt ist - und deshalb war es solch eine Freude, dass er hier eher etwas im Stil Chet Bakers gespielt hat, von dem ich ein großer Fan bin. Die beiden Songs eröffnen und schließen das Album und prägen es in vieler Hinsicht. "Our Fathers" war auch eine prägende Nummer, weil ich es dort zugelassen habe... das ist schwer zu beschreiben... ich habe es zugelassen, dass bestimmte Impulse in meinem Spiel vollkommen die Komposition bestimmen, und diese Art von Freiheit habe ich zuvor nicht immer gespürt. Ich schränke mich gerne ein, aber das war richtig befreiend.

GL.de: Gab es während der Aufnahmen Stücke, die Formen angenommen haben, die selbst dich überrascht haben?

Chris Brokaw: "Her Breathing", bei dem Samara Lubelski und ich zu hören sind, ist die Kombination zweier Improvisationen. Eigentlich waren wir ins Studio gegangen, um einen Song aufzunehmen, der letztlich überhaupt nicht auf dem Album erschienen ist. Aber als wir noch zehn Minuten Studiozeit übrighatten, schlug ich eine Improvisation vor. Die erste dauerte drei Minuten, und danach sagte ich: "Lass uns gleich noch genau so eine machen," "Her Breathing" ist ein Zusammenschnitt der beiden Takes - nicht alles von beiden, aber Teile von jedem. Die Entstehung dieser Nummer war also unerwartet und überraschend. Ganz allgemein habe ich für ein Album noch nie mit so vielen Leuten zusammengearbeitet, denen ich so viel Bewunderung und Vertrauen entgegengebracht habe. Gleichzeitig war ich auch so selbstbewusst, nicht bei allen Songs die Gitarre in den Mittelpunkt stellen zu müssen. Ich komme immer wieder darauf zurück: Es fühlte sich sehr befreiend an.

GL.de: Wenn du die Idee hinter "End Of The Night" nicht umgesetzt hättest – welche Alben anderer Künstler wären denn als letzte Platte des Abends geeignet?

Chris Brokaw: Wow, lass uns mal schauen… Aus dem Stegreif: Charles Mingus - "Mingus Plays Piano", Ernst Reijseger - "Colla Parte", Bohren und der Club of Gore - "Sunset Mission", Neil Young - "On The Beach" und Grouper - "Ruins".

Video: "Swimming, Tuesday"


Weitere Infos:
www.chrisbrokaw.com
brokaw-gb.bandcamp.com
www.facebook.com/chris.brokaw.5
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Chris Brokaw
Aktueller Tonträger:
End Of The Night
(Glitterbeat/Indigo)
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