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SQUIRREL FLOWER
 
Flirting with Disaster
Squirrel Flower
Mit ihrem hinreißenden letztjährigen Album "I Was Born Swimming" positionierte sich Ella Williams alias Squirrel Flower als Künstlerin, die auf den Schultern der großen Heldinnen des Indie-Universums der letzten 30 Jahre selbstbewusst und ohne genretechnische Scheuklappen ihren eigenen Weg geht und sich selbst von einer weltweiten Pandemie kaum ausbremsen ließ. Keine 18 Monate später erscheint deshalb nun bereits der ebenso beeindruckende Nachfolger "Planet (i)", mit dem die lange in Boston heimische, derzeit aber in Chicago ansässige 24-Jährige ihr Tun konsequent weiterentwickelt und mit viel Lo-Fi-DIY-Charme klanglich auf noch breitere Füße stellt. Auf der neuen LP klingen ihre Songs zwischen zartem Folk, verhangenem Dream-Pop und muskulösem Indierock noch betörender, noch zwingender, noch überraschender, wenn lieblich-solistische Momente auf düster anmutende Bandgewitter treffen, während sie sich textlich der Poesie der Zerstörung widmet und über eine Welt - unser aller und ihre eigene - sinniert, die in Trümmern liegt.
Wenn man sich die Künstler anschaut, die in den letzten Jahren die Indie-Welt im Sturm erobert haben, stellt man schnell fest, dass bei vielen, gerade auf ihren Frühwerken, das Verarbeiten von Emotionen im Mittelpunkt steht und die Musik eigentlich nur ein Mittel zum Zweck ist, diese Gefühle zu transportieren. Bei Ella Williams liegen die Dinge etwas anders. Aufgewachsen in einem künstlerischen Umfeld, wurde der Amerikanerin die Musik gewissermaßen in die Wiege gelegt. Der Übergang von frühkindlicher Musikerziehung zu selbstbestimmtem Ausdruck in Songform war dabei praktisch fließend. "Ich habe schon mit acht Songs auf dem kleinen Klavier geschrieben, das wir in dem Haus hatten, in dem ich aufgewachsen bin", verrät sie im Video-Interview mit Gaesteliste.de. "Ich erinnere mich, dass ich wegen irgendetwas traurig war und dieses Gefühl dann in eine kitschige Melodie verpackt habe. Ich habe schon immer Musik gemacht, weil es sich einfach gut anfühlt. Echte Ambitionen habe ich dann entwickelt, als ich bereits ein, zwei Jahre als Squirrel Flower aktiv war. Ich stellte fest, dass dem Publikum gefiel, was ich tat, und ich fragte mich, ob ich damit vielleicht meinen Lebensunterhalt verdienen könnte, wenn ich mich wirklich reinhänge." Sie lacht. "Genau das habe ich dann getan."

Auf erste DIY-EPs folgte im vergangenen Jahr ihre erste, allenthalben in den höchsten Tönen gelobte Full-Length-LP 'I Was Born Swimming', deren Titel auf Williams' ungewöhnliche Geburt in einer unversehrten Fruchtblase anspielt. Doch obwohl sie damit in Sachen Professionalisierung einen wichtigen Schritt machte, sind ihr ihre musikalischen Wurzeln nach wie vor wichtig. So unterstützte sie ihr Vater bereits beim letzten Album im Studio und ihr ältester Bruder begleitete sie als Gitarrist, Bassist und Cellist auf Tournee, und auch auf der neuen Platte tauchen die Familienmitglieder als Gäste auf. "Ich stehe meiner Familie sehr nahe und tatsächlich sind die meisten von uns Musiker. Zusammen zu musizieren, gehört für uns schon seit Generationen einfach dazu. Oft spielt sich das zu Hause bei Familienfeiern ab, aber weil ich nun Musik mache, die deutlich mehr in der Öffentlichkeit steht, war es mir wichtig, das irgendwie einzubringen, da es ein so wichtiger Teil meines musikalischen Selbstverständnisses und meines künstlerischen Wachstums darstellt."

Im Gespräch mit Williams wird schnell klar, dass wir es hier mit einer Künstlerin zu tun haben, die allem Ehrgeiz und viel positivem Pressefeedback in der Vergangenheit zum Trotz sympathisch bodenständig geblieben ist und nach wie vor unglaublich glücklich und dankbar ist, die Chance zu haben, Musik zu machen und sie teilen zu können. Trotzdem ist es unüberhörbar, dass sie mit dem nun erscheinenden zweiten Squirrel-Flower-Album einen großen Satz nach vorn macht, und natürlich ist ihr ihre Entwicklung seit ihren ersten Veröffentlichungen im Jahre 2015 durchaus bewusst. "Der größte Unterschied ist sicherlich, dass ich damals ganz auf mich allein gestellt war und zudem mein Hauptaugenmerk meinem Studium galt", überlegt sie. "Von den Aufnahmen über die Veröffentlichung bis hin zum Touring - ich machte alles selbst. Darin liegt viel Schönes, weil es sich eher wie ein Lebensstil als ein Job anfühlte. Gleichzeitig ist spannend zu sehen, wie weit mich meine Beschäftigung mit der Musik im Laufe der sechs Jahre gebracht hat. Natürlich fühlte es sich in den Zeiten der Pandemie seltsam an, Musikerin zu sein, trotzdem muss ich sagen: Eigentlich war das zurückliegende Jahr richtig gut für mich! Ich hatte das Glück, staatliche Hilfen in Anspruch nehmen zu können, was es mir erlaubt hat, mich ganz aufs Schreiben und das Einspielen von Demos zu konzentrieren und mir die Zeit zu nehmen, die das neue Album verdient hatte."
Auf den erst Blick sieht es in der Tat so aus, als hätte Williams die Pandemie schichtweg ignoriert. Natürlich war auch sie in den zurückliegenden Monaten nicht unterwegs, um Konzerte zu spielen, aber während andere Musiker derzeit ihre in der Lockdown-Phase entstandenen Platten mit Warnhinweisen versehen, weil die Songs daheim oder auf Distanz entstanden sind und sie ganz allgemein nicht in der Umgebung und mit den Mitstreitern arbeiten konnten, die sie sich eigentlich gewünscht hätten, flog Williams kurzerhand einmal quer über den Atlantik, um "Planet (i)" mit Produzent Ali Chant, der zuvor bereits mit PJ Harvey und Perfume Genius arbeitete, in dessen Studio im englischen Bristol aufzunehmen und sich dabei von der lokalen Musikerprominenz - Portishead-Gitarrist Adrian Utley wirkte genauso mit wie Schlagzeuger Matt Bowen - unterstützen zu lassen. Trotzdem war das Ganze eine große Herausforderung. "Ursprünglich hatte ich vor, die Platte selbst zu produzieren", verrät Williams. "Dann sprach ich mit Ali am Telefon und spürte sofort, dass es eine starke kreative Verbindung zwischen uns gibt. Dennoch war mir natürlich bewusst, dass ich gerade eine monatelange strikte Quarantäne hinter mir hatte und internationale Reisen überhaupt nicht infrage kamen! Dann allerdings infizierte ich mich im Juli in Boston mit dem Coronavirus und produzierte Antikörper, und das erlaubte es mir, Ende August nach England zu fliegen. Natürlich war es schrecklich, sich anzustecken, aber zumindest sorgte das dafür, dass ich mich beim Umherreisen besser fühlte. Man kann wohl sagen, dass ich einfach unglaubliches Glück hatte."

Allerdings waren es nicht nur die Umstände der Pandemie, die dafür sorgten, dass "Planet (i)" unter völlig anderen Vorzeichen entstand als der Vorgänger. "'I Was Born Swimming' wurde erdacht und eingespielt, während ich noch als Vollzeit-Studentin eingeschrieben war und nebenher arbeitete", erklärt Williams. "Das bedeutete, dass ich gar keine Zeit hatte, mir zu viele Gedanken zu machen oder vernünftige Demos der Lieder aufzunehmen. Ich bin stolz auf das Album, was dabei entstand, aber dieses Mal war der Prozess ein völlig anderer. Ich hatte die Zeit, meine eigenen Demos zu machen, und am Ende hatte ich eine Sammlung von 30 Aufnahmen, bei denen ich ein wirklich gutes Gefühl hatte, weil ich spürte, dass sie mich als Künstlerin wirklich gut repräsentierten."

Das war für den Kontrollfreak, wie sich Williams selbst beschreibt, nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie verhindern wollte, dass ihre Vorstellungen des Albums bei den eigentlichen Sessions durch den Einfluss starker Kollaborateure über Gebühr verwässert würde. "Wenn man mit einem Produzenten arbeitet, will der in der Regel den Aufnahmen seinen Stempel aufdrücken - was ja auch einer der Gründe dafür ist, überhaupt mit Produzenten zu arbeiten! -, aber ich vermisste das Gefühl, dass die Songs allein meine Stimme, meine Vision sind. Demos aufzunehmen hat es mir erlaubt, die komplette Kontrolle über die Musik zu haben, die ich machen wollte, und mich wirklich gut vorbereitet und mental gestärkt in die Sessions zu stürzen. Als ich in England ankam, wusste ich haargenau, was ich tun wollte, wenngleich Ali auch ein toller Kollaborateur war und dem Ganzen noch viel hinzugefügt hat." Selbst vor Ort in Bristol spielte der Faktor eine Rolle. In der Vergangenheit hatte Williams nie mehr als eine Woche Zeit, um ihre Songs einzuspielen, dieses Mal standen ihr drei Wochen im Studio zur Verfügung, und auch das führt zu einer anderen Herangehensweise. Anstatt die Songs möglichst schnell live mit einer kompletten Band aufzunehmen, arbeiteten Williams und Chant größtenteils zu zweit, experimentierten viel und schichteten die Songs behutsam auf. Eine Erfahrung, die Williams nicht nur viel Freude bereitete, sondern rückblickend betrachtet auch sehr lehrreich war.

Trotz organisch wachsender Arrangements und gesteigertem Input von außen ist es Williams immer noch ein Anliegen, dass ihre Lieder auch solo funktionieren. "Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich Konzerte solo spiele. Da steckt so viel Kraft drin!", sagt sie. "Das gilt ganz besonders, wenn ich das Vorprogramm für jemand anders bestreite und ich in einer riesigen Halle vor Menschen spiele, das gekommen sind, um eine Rockband zu sehen. Ich liebe es, da nur mit einer Stromgitarre und meinem Loop-Pedal rauszugehen! Manchmal geht es den Leuten am Arsch vorbei, aber oft wird ein plapperndes, ausgelassenes Publikum plötzlich ganz still und konzentriert. Viele wollen es laut und wild, aber ich finde, es liegt viel Schönes in einem Flüstern. Natürlich bin auch ich manchmal gern laut und einige der neuen Songs wie 'Roadkill' sind waschechte Rocknummern. Doch es gibt eben auch Songs wie 'Big Beast' und 'Night', bei denen ich allein beginne, bevor sie sich in diese wuchtigen Ungetüme verwandeln. Ich mag Musik, die dynamisch ist, und ich möchte auch eine dynamische Performerin sein, und mehr Instrumente hinzuzufügen, kann dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen."

Dennoch fällt beim Hören von "Planet (i)" sofort auf, dass die Akustikgitarre dieses Mal einen viel höheren Stellenwert hat als zuvor. Ist der Wechsel von einem rauen Indierock-Sound zu deutlich sanfteren Folk-Klangfarben allein das Resultat des veränderten Entstehungsprozesses oder stand Williams nach der aufwühlenden Pandemiezeit der Sinn einfach nach etwas mehr Ruhe? "Als ich im Sommer 2019 begonnen habe, die Songs für die neue Platte zu schreiben, hörte ich ausschließlich Folkmusik", verrät sie. "Ich hörte das erste Lucinda-Williams-Album, Townes Van Zandt, Emmylou Harris und Gillian Welch - alles Künstler, die zu meinen absoluten Favoriten gehören, aber weil ich sie nonstop hörte, ist ihr Einfluss in meine Musik durchgesickert. Bevor ich angefangen habe, als Squirrel Flower Musik zu machen, habe ich Akustikgitarre gespielt und Folkmusik gemacht und ich dachte, es könnte interessant sein, mich ein wenig darauf zu beziehen. Ich habe das Gefühl, dass viele Leute die Akustikgitarre als ein sehr schlichtes Singer/Songwriter-Instrument sehen, ich dagegen betrachte sie als ein sehr schlagkräftiges Werkzeug, mit dem man viel experimentieren kann. Ich habe dabei eher ihren Ursprung als ein mittelalterliches Saiteninstrument im Kopf und weniger akustische Oasis-Cover!"

Die Texte der Platte sind derweil bereits treffend als ein Liebesbrief an Desaster in jeder erdenklichen Form beschrieben worden. Doch was genau sorgt für die Anziehungskraft, warum wollte Williams ausgerechnet Katastrophen in den Mittelunkt ihres Interesses rücken? "Die Anziehungskraft resultiert aus immenser Furcht", erwidert sie. "Ich hatte schon immer große Angst vor großen Wassermassen, Tornados und ganz allgemein der ungemeinen Wucht der Elemente. Fürs College bin ich ins Landesinnere nach Iowa gezogen, wo Wirbelstürme besonders häufig auftreten. Als ich dort meinen ersten Tornado erlebte, bin ich nach draußen gegangen, weil ich spüren wollte, wie sich das anfühlt. Zurückblickend betrachtet war das vermutlich ziemlich fahrlässig von mir, trotzdem denke ich, dass diese Erfahrung den Kern des neuen Albums bildet. Es geht darum, dass ich mich - wortwörtlich und metaphorisch - meinen Ängsten stelle, meiner Furcht vor den Elementen genauso wie meiner Angst vor Veränderung oder vor dem Tod."

Tatsächlich spannt sich so ein thematischer Bogen über das neue Album, wenngleich Williams das lange nicht klar war. "Ich habe das erst bemerkt, als ich alle Songs bereits geschrieben hatte", gesteht sie lachend. "Der erste Song, den ich für das Album geschrieben habe, war 'Desert Wildflowers'. Das Lied entstand im Sommer 2019, nachdem ich von einer großen Tour zurück nach Boston gekommen bin. Auf der Tournee habe ich zum ersten Mal die Wüste in Kalifornien gesehen, ich bin durch Iowa und Missouri gefahren, wo damals alles überflutet war, und wir mussten praktisch kleine Seen durchfahren, und als ich nach Boston zurückflog, sah ich auch dort überall nur Wasser. Das hat mich wirklich berührt und ich wollte das Gefühl unbedingt in einem Song festhalten. Als ich 'Desert Wildflowers' dann geschrieben hatte, wurde mir klar, dass ich zumindest für eine Weile nicht über Romanzen und Liebe schreiben will und mich etwas anderem zuwenden will."
"Planet (i)" erscheint wie schon der Vorgänger mit Unterstützung des englischen Liebhaberlabels Full Time Hobby, und auch wenn sich Williams durchaus bewusst ist, dass sie deshalb die üblichen Spielchen der Musikindustrie ein Stück weit mitspielen muss, ist es ihr trotzdem wichtig, dass ihre Musik auch weiterhin betont ungezwungen klingt. "Wenn man sich in die Hände eines Labels begibt, herrscht oft die Auffassung, dass eine Platte über Jahre zu entstehen hat und am Ende glattpoliert und zusammenhängend klingen muss, aber so sehe ich meine Musik überhaupt nicht", sagt sie bestimmt. "Ich habe unglaublich viele Songs, die 'offiziellen Albumstandards' nicht genügen, die ich aber trotzdem unglaublich gerne veröffentlichen würde. Ich selbst möchte mich jedenfalls nicht bremsen, wenn es um meine Veröffentlichungen geht. Natürlich fragt man sich immer, was das richtige Format ist. Eine EP? Eine Single? Ein Projekt unter anderem Namen? Das Schöne aber ist, dass es genug Freiheiten gibt, um alles zu machen!" Sie hält kurz inne, bevor sie abschließend hinzufügt: "Ich versuche, meine Musik so stressfrei wie möglich anzugehen."
Weitere Infos:
www.squirrelflower.net
www.facebook.com/sqrrlflwr
twitter.com/sqrrlflwr
instagram.com/sqrrlflwr
squirrelflower.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Tonje Thilesen-
Squirrel Flower
Aktueller Tonträger:
Planet (i)
(Full Time Hobby/Rough Trade)
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