Auch Johanna Amelie hat die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu spüren bekommen. Ihr letztes Album, "Beginnings", erschien im September 2020, und auch wenn sie vorab einige Sommer-Auftritte - u.a. im Vorprogramm von Die Höchste Eisenbahn - absolvieren konnte und auch eine Kurztournee gemeinsam mit Daniel Benyamin möglich war, musste der Großteil der geplanten Auftritte, darunter die komplette Gastspielreise mit Niels Frevert, aus den bekannten Gründen abgesagt werden. Trotzdem war nicht alles schlecht für Johanna in den vergangenen zwei Jahren, denn anstatt daheim die Wände anzustarren, suchte sie sich lieber neue Aufgaben und Betätigungsfelder. "Ich habe während der Corona-Pandemie angefangen, Theatermusik zu machen", verrät sie im Interview mit Gaesteliste.de, als wir sie Mitte April in ihrem Berliner Studio erwischen. "Ich habe die musikalische Leitung für ein Theaterstück in Berlin-Schöneberg übernommen, und das hat mir eine ganz neue Perspektive aufs Musikmachen gegeben, weil sich da dann zwei Kunstformen, also Theater und Musik, treffen. Die Regisseurin hat mich gebeten, Musik für ihr Stück zu schreiben, das heißt, sie hat mir ihre Referenzen geschickt, und die hatten eigentlich gar nichts mit der Musik zu tun, die ich mache. Sie hat mich zum Beispiel gefragt, ob ich etwas wie SXTN machen kann, und das war eine richtige Challenge für mich, da als Produzentin etwas zu machen, was für das Stück und für die Regisseurin passt, aber auch für mich, weil ich die Musik ja auch live performe. Da konnte ich mir wie eine Schauspielerin eine ganz neue Identität als Musikerin basteln. Die Schauspieler haben auch Parts bekommen, wo sie singen oder rappen oder Schlagzeug spielen. Ich habe ihnen beigebracht, ein bisschen auf Snare und Toms herumzutrommeln, während ich fiese Trompeten spiele. Da konnte ich mich mal so richtig austoben, aber das alles in einem Rahmen, wo man dann auch einen Vertrag hat und die Aufführungen auch tatsächlich stattfinden, und selbst wenn sie nicht stattfinden, dann kriegt man die Gage trotzdem. Das ist natürlich eine komplett andere Sache, als Managerin des eigenen Musikprojekts zu sein, das ist dann halt eine kollektive Arbeit. Aber das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich das neben meinen eigenen Sachen auf jeden Fall weitermachen will."
Doch Johanna ist nicht allein Musikerin, sie setzt sich auch schon länger für die Sichtbarkeit von Frauen und nicht-binären Personen in der Musikbranche ein. Sie hat das Visibility*Breakfast gegründet und ist inzwischen auch Mitglied von Music Women* Germany und hat zu den strukturellen Hindernissen der Musikbranche gerade hierzulande eine klare Meinung. "Man kann das Ganze aus verschiedenen Perspektiven beleuchten", ist sie überzeugt. "Es geht um Sichtbarkeit, Reichweite, wirtschaftliche Faktoren, Anteilhabe und um Diskriminierung generell. Der Marktanteil von weiblichen Produzentinnen ist 2%, der Anteil der Künstlerinnen an Festival-Line-ups liegt irgendwo zwischen 5 und 15% in Deutschland, wenn man das auf die ganze Festivallandschaft bezieht. In puncto Wirtschaftlichkeit, Chancengleichheit und Sichtbarkeit haben wir da wirklich ein Riesenproblem. Ich glaube nicht, dass Frauen weniger Karriere machen wollen, sondern tatsächlich weniger Karriere machen können, weil es ein strukturelles Problem gibt. Dazu gibt es ganz viele Statistiken und Forschungen, und ich beschäftige mich viel damit, weil ich ja auch selbst davon betroffen bin. Es gibt viel Gegenwind und viele, wir nennen sie immer Gatekeeper, also Menschen, die in den Strukturen kein Problem sehen, weil sie für sie funktionieren. Mittlerweile hat ja aber auch die Regierung in Deutschland reagiert. Um öffentliche Förderung zu erhalten, gibt es nun bestimmte Bedingungen - zum Beispiel Frauen in der Band bzw. eine bestimmte prozentuale Verteilung. Ich denke, da ändert sich gerade langsam etwas, und ich finde, das ist einfach ein wichtiges Thema."
Als Aktivistin wie als Musikerin: Johanna geht stets mit offenen Augen durch die Welt, neugierig, neue Dinge zu entdecken, neue Erfahrungen zu sammeln. Wo es anderen, ähnlich inspirierten Künstlerinnen bisweilen zu reichen scheint, das eigene Tagebuch möglichst ungefiltert zu vertonen, verliert sie beim Schreiben ihrer Songs nie die ungewöhnlichen Perspektiven, den Blick fürs Besondere aus den Augen. Schon bei unserer letzten Begegnung vor zwei Jahren hat sie gesagt, dass sie in Zukunft stärker darauf abzielen will, konkrete Themen in ihrem Songwriting zu verarbeiten. Auf "Fiction Forever" setzt sie diesen Ansatz nun gleich mit mehreren Songs um, ganz egal, ob es um brennende Gegenwartsthemen wie Umweltzerstörung geht, die sie in "Earth Wanted Plastic, She Didn't Know How To Make It" thematisiert, oder Anliegen mit persönlicher Note etwa bei "Swim Suit", wo es darum geht, wie man sich mit Menschen, die man liebt, solidarisieren kann, wenn es ihnen schlecht geht, ohne sie deshalb verändern zu wollen. Doch wie kam es eigentlich dazu? "Ich glaube, das ist auf meinen persönlichen Musikgeschmack zurückzuführen", erwidert sie. "Ich höre gerne Musik mit konzeptuellem Songwriting, und ich hab mich auch mehr damit beschäftigt, wie meine Lieblingsmusik eigentlich entstanden ist. Joni Mitchell zum Beispiel hat immer so schöne Konzepte und so schöne Metaphern und macht so aus ihren persönlichen Beobachtungen etwas Poetisches, Allgemeingültiges. Das finde ich spannend, und das wollte ich auch gerne machen. Außerdem habe ich einen Teil des neuen Albums zusammen mit anderen Künstlerinnen geschrieben, teilweise auch auf Zoom usw., und da ist es natürlich schön, wenn man ein Gegenüber hat und sagen kann: Über welches Thema schreiben wir eigentlich gerade? Können wir noch tiefer reingehen? Können wir das noch präziser machen, damit es poetisch wird, aber auch verständlich ist, was wir da rüberbringen wollen? Ich finde es schön, wenn das passiert."
Dennoch ist es bisweilen leichter gesagt als getan, neue Wege einzuschlagen. Das hat auch Johanna während der Arbeit an "Fiction Forever" festgestellt. "Ich würde sagen, es hat viel Disziplin gebraucht", sagt sie. "Ich arbeite am Songwriting, an den Texten, oft länger. Ich gehe immer wieder hin und schaue, wie ich das noch genauer oder noch schöner sagen kann. Das verlangt, dass man diszipliniert und ausdauernd ist und nicht die Leidenschaft verliert, wenn man sich hinsetzt und die Arbeit macht. Außerdem habe ich die Texte von Musikerinnen, die ich sehr schätze, editieren oder gegenchecken lassen. Zum Beispiel von Lihme aus Aarhus in Dänemark, mit der hat das viel Spaß gemacht, weil wir uns richtig gut verstanden haben - inhaltlich und auch persönlich -, und deshalb konnten wir uns gegenseitig total gut coachen und weiterhelfen. Das fand ich total angenehm und ich frage mich, warum ich das nicht schon viel früher öfter gemacht habe."
Doch nicht nur textlich sucht sich Johanna auf "Fiction Forever" neue Ausdrucksformen. War "Beginnings" ein Album, das eher mit zeitloser Schönheit bestach, darf man bei der neuen LP gerade im ersten Teil der Platte schon das Gefühl haben, dass die Lieder etwas näher an den Zeitgeist, näher an aktuelle klangliche Trends heranrücken. Diesen Weg zu beschreiten, war eine durchaus bewusste Entscheidung, in der sich die beiden Co-Produzenten Jonas David und Pola Roy besonders einbringen konnten. "Ich hatte Demos für die Songs gemacht, die waren relativ runtergebrochen", erinnert sie sich. "Auch ein Song wie 'Wifi' war einfach nur Klavier und Gesang, eine echte Ballade, und ich dachte, ja, so könnte man das machen, aber irgendwie hörte ich die ganze Zeit Chelsea Jade, diese Popmusikerin aus Neuseeland, und dann habe ich den Produzenten Jonas David gefragt: Können wir das nicht irgendwie zusammenbringen? Ich hätte voll Lust, mal so eine Art von Song zu machen, und Jonas David hat das dann mit mir umgesetzt, und das Lied gefällt mir in dieser Version nun viel besser als meine Klavierballade. 'Swim Suit' geht dagegen eher auf die Kappe von Pola Roy, der das mit mir arrangiert und da seine Ideen untergebracht hat. Auch ihm habe ich einfach mein Vertrauen geschenkt. So zu arbeiten hat mir total Spaß gemacht, und beide Produzenten haben meine Demos noch mal auf ein Level gehoben, wo ich mit meiner Vorstellungskraft nicht unbedingt hingekommen wäre. Ich glaube, das ist auch das, was an diesem Album im Vergleich zu 'Beginnings' anders ist: Ich habe viel Verantwortung abgegeben."
Doch auch wenn Kollaborationen kein Neuland für Johanna bedeuten - auf der letzten LP ließ sie sich von Lùisa, Moritz Krämer, Alin Coen und Tristan Brusch unter die Arme greifen -, hat es eine Weile gedauert, bis sie sich wohl dabei fühlte, Aufgaben in die Hände anderer zu legen. "Ich denke, das liegt daran, dass 'Fiction Forever' inzwischen mein drittes Album ist", sagt sie. "Manchmal fällt es mir aber auch heute noch ein bisschen schwer, denn ich bin ja auch selbst Produzentin. Den Gesang zum Beispiel, den wir in Modica aufgenommen haben, habe ich anschließend in meinem Studio in Berlin noch einmal komplett neu gemacht. Das ist, glaube ich, so ein typisches Steinbock-Ding, dass man da so anspruchsvoll ist, dass man nicht einfach sagen kann: Dieser Ton da sitzt jetzt nicht, aber das ist egal. Bei manchen Themen, beim Gesang oder bei den Melodien, da bin ich so perfektionistisch, das kann ich immer noch nicht zu 100% Prozent abgeben. Ich denke aber, dass das eine gute Sache ist, weil so die eigene Handschrift bestehen bleibt."
Tatsächlich versteht es Johanna sehr gut, zwischen Perfektionismus und Bauchgefühl, zwischen Realität und Vorstellungskraft ihren Weg zu finden. Ein großer Plan steckt allerdings nicht dahinter. "Ich glaube, ich gehe immer noch sehr intuitiv ans Musikmachen heran", sagt sie. "Ich denke, dass ich meinen Emotionen, meinen Ideen und dem, was ich ausdrücken will, eine Struktur gebe, und das ist dann meine Formel. Ich arbeite so, dass es mir Spaß macht, dass es zu mir passt. Ich versuche einfach immer, tiefer einzutauchen und was Echtes zu machen, etwas, das mir gefällt. Das ist das, was ich versuche zu tun - intuitiv! Was sich verändert, ist, dass man natürlich immer mehr Erfahrung sammelt. Ich habe ja schon mehrere Alben produziert und mehrere Tourneen gespielt. Gleichzeitig verändert sich mein Umfeld aber auch ständig: Ich lerne immer mehr Leute kennen, die mich inspirieren, und so wächst man vielleicht zusammen. Das ist ja in Berlin auch so schön: Die Szene! Man hat ja hier so viele tolle Leute zur Verfügung, und so entwickelt sich das weiter. Ich bin beim Kreieren aber nie beim Rezipienten. Ich denke nie darüber nach, wie ich etwas machen könnte, was allen gefällt, das ist nicht der Fall. Aber ich glaube, dass sich vielleicht allein durch mein Umfeld meine Musik verändert. Pola Roy oder Jonas David, die das Album mit mir produziert haben, oder auch Zafer Kurus von Beathoavenz, der es gemischt hat und halt auch mit Sido und so zusammengearbeitet hat. Der ist ja irgendwie in einem anderen Umfeld unterwegs, und vielleicht hat das dann auch zur Folge, dass die Musik immer mehr Form annimmt."
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