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KEVIN MORBY
 
Das nächste Teil des Puzzles
Kevin Morby
Mit einem halben Dutzend in schneller Folge veröffentlichter Alben suchte sich Kevin Morby zuletzt praktisch im Jahrestakt neue Herausforderungen und Ausdrucksformen, bis ihn ein medizinischer Notfall im Familienkreis, der Zusammenbruch seines Vaters, zum Innehalten brachte. Die anschließende Sinnsuche führte den in Kansas City lebenden Amerikaner nach Memphis, wo auf den Spuren dort verstorbener Idole wie Jeff Buckley und Jay Reatard die Songs für "This Is A Photograph", sein inzwischen siebtes Album als Solist, entstanden: "Eine epische Ode an die Zerbrechlichkeit des Lebens und die daraus resultierende Notwendigkeit, Liebe, Freunde und Familie zu schätzen", wie die Kollegen des NME bereits so treffend schrieben. Passend zum von Schwermut umwehten Inhalt der Lieder lässt Morby auf der LP gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten und Produzenten Sam Cohen auch klanglich den Blick eher zurückschweifen und bringt volltönend all das auf den Punkt, was ihn als Grenzgänger zwischen der Indierock-Welt und dem Singer/Songwriter-Universum in den zurückliegenden Jahren zu einer echten Ausnahmeerscheinung gemacht hat. Mit großer Besetzung im Rücken wird Morby das neue Album ab Ende Mai bis in den August hinein mit neun Auftritten in Deutschland auch live präsentieren, zuvor allerdings nahm er sich Zeit für einen Videochat mit Gaesteliste.de.
GL.de: Kevin, trotz immer wieder neuer Perspektiven und Nuancen verfolgst du seit inzwischen fast zehn Jahren den einmal eingeschlagenen Weg unbeirrt weiter, anstatt wie so viele andere Künstler derzeit mit jeder neuen Platte stilistisch und klanglich Haken zu schlagen. Bist du vielleicht einfach selbstsicherer als die Konkurrenz?

Kevin: Ich denke, das ist für mich einfach selbstverständlich. Wenn es sich nicht richtig anfühlen würde oder wenn ich keine Leidenschaft für die Musik hätte, dann würde ich den Pfad nicht weiterverfolgen. Die Musik entsteht auf ganz natürliche Weise. Ich schaue einfach in meinen Sack voller Demos, ob ich dort genug Songs finde, die mir ein gutes Gefühl geben, Songs, die ich weiter ausformulieren möchte. Das ist für mich einfach ein gutes Muster, um produktiv zu sein.

Gl.de: Du bist in der Tat ungemein produktiv. Dein Kumpel Simon Joyner hat uns mal erzählt, dass er regelmäßig Phasen hat, in denen er nichts schreibt und Angst hat, dass er nie wieder die Kurve kriegen wird. Du scheinst solche Gefühle nicht zu kennen, weil das Songwriting für dich ein fortwährender Prozess zu sein scheint.

Kevin: Ja, der Prozess ist ziemlich kontinuierlich. Dieses Gefühl - "Oh, ich werde nie wieder einen Song schreiben" - habe ich nur selten, weil ich praktisch immer gerade an einem neuen Lied arbeite. Allerdings kenne ich das Gefühl durchaus, aber in dem Moment, in dem ich daran denke, verschwindet es irgendwie - klopf auf Holz! Wenn überhaupt, gab es Zeiten, in denen ich dachte: Sollte ich langsamer machen? Aber ich denke, solange die Musik fließt und es sich natürlich anfühlt, sollte ich ihr folgen.

GL.de: Die Inspiration für "This Is A Photograph" war ein medizinischer Notfall in deiner Familie. Ganz allgemein gefragt: Was bedeutet Familie für dich?

Kevin: Familie bedeutet mir alles. Ich stehe meiner Familie sehr nahe und ich bin jemand, der ein sehr großes Netzwerk hat und viele meiner Freunde als eine Art Familie betrachtet. Ich denke, wenn uns die Pandemie irgendetwas gezeigt hat, dann, dass unsere engste Umgebung sehr wichtig ist, und deshalb ist mir Familie sehr, sehr wichtig.

GL.de: Der Titel der neuen Platte spielt auf dein Interesse an Fotografie an. Fotos können einerseits ein visueller Reiz sein, ein künstlerischer Ausdruck, sie dienen aber auch dem Festhalten von Erinnerungen. Was reizt dich besonders an ihnen?

Kevin: Ich finde, Fotos, ganz besonders alte Familienfotos, haben etwas Mysteriöses und das finde ich spannend, sie sind mysteriöse Relikte der Vergangenheit. Du betrachtest sie und fragst dich: Oh, was ist wohl an diesem Tag oder im Leben meiner Familie geschehen, als das Foto geschossen wurde? Ich habe mir über die alten Fotos meiner Familie wirklich lange Gedanken gemacht. Sie sind so unglaublich wichtig, gleichzeitig sind sie diese dünnen Papierfetzen, die anfangen, an den Ecken auszureißen - sie sind empfindlich wie die Erinnerungen, die sie abbilden.

GL.de: Tatsächlich stammt einer der bedeutendsten und brillantesten Fotografen der Gegenwart, William Eggleston, aus Memphis, der Stadt, in der dein neues Album entstanden ist. Was hat den besonderen Reiz dieses Ortes für dich ausgemacht?

Kevin: Wegen der Pandemie bin ich nicht geflogen, also habe ich nach bedeutsamen Orten gesucht, die mit dem Auto zu erreichen sind. Memphis ist nur sieben oder acht Stunden von hier entfernt - ich war schon einige Male dort und habe dort auch mal ein Konzert gegeben. Die Stadt spricht mich einfach an. Ich liebe Memphis, für mich ist das einfach ein sehr beruhigender Ort. Das ist ein Ort voller Tragödien, es gibt eine Menge Geister dort und es fühlt sich an, als würde es dort spuken. Gleichzeitig vermittelt die Stadt das Gefühl, als habe sie eine coole Zukunft vor sich, und das wirkte auf mich sehr beruhigend. Es ist lustig, dass du William Eggleston erwähnst, denn ich bin ein großer Fan seiner Arbeit, und er war definitiv eine große Inspiration, als ich diese Platte gemacht habe.

GL.de: In Memphis hast du im berühmten Peabody Hotel Quartier bezogen, die Stadt und ihre popkulturelle Vergangenheit erkundet und in Liedern festgehalten. Eine besondere Rolle spielt dabei Jeff Buckley, dessen tragischer Tod in Memphis gleich in zwei deiner neuen Lieder, in "Disappearing" und "A Coat Of Butterflies" anklingt. Wie bist du auf ihn gestoßen?

Kevin: Im Jahre 2019 habe ich dem Vice Magazin ein Interview für eine Serie gegeben, in der sich Künstler ein Album aussuchen, das sie noch nie gehört haben und das sie sich dann mit dem Interviewer in Echtzeit gemeinsam anhören. Der Journalist Josh Terry gab mir eine Liste mit Vorschlägen und ich wählte "Grace" von Jeff Buckley aus. Ich war beeindruckt von der Musik, auch wenn ich vor allem die Coverversionen und weniger seine eigenen Songs mochte. Ich wusste ein wenig über seinen Tod, dass er in Memphis gestorben war Jeff erwähnte, wie verrückt und mysteriös die Umstände waren. Als ich dann in Memphis war, folgte ich den Spuren. Ich fand heraus, wo er gelebt hatte, ich erfuhr, dass er sich auf einen Job im Zoo von Memphis beworben hatte, und aus irgendeinem Grund fand ich mich in der Geschichte wieder. Vielleicht auch, weil es in den meisten Geschichten des Südens um Menschen aus den Südstaaten geht. Jeff Buckley dagegen stammt aus Kalifornien, und das sprach mich an. Wir waren beide Künstler, die von woanders herkamen, aber von Memphis fasziniert waren. Ich denke, Memphis zog uns beide aus ähnlichen Gründen an, das war einfach eine seltsame Parallele.

GL.de: "Rock Bottom" wurde klanglich wie inhaltlich von Jay Reatard inspiriert, einem weiteren Musiker, der ein frühes Ende in Memphis gefunden hat…

Kevin: Ich war ein Riesenfan, als er noch lebte und auch nach seinem Tod hörte ich seine Platten hin und wieder. In Memphis fühlte ich mich dann aber besonders an ihn erinnert und hörte die alten Reatards-Platten wirklich oft. Diese Alben habe ich dann als klangliche Referenz für den Song benutzt, denn ich wollte etwas ähnliches machen. Auf dem Cover seines wegweisenden Albums "Blood Visions" ist er blutüberströmt zu sehen, das ist eine Anspielung auf den Film "Carrie". In "Rock Bottom" verweist die Zeile "They're all gonna laugh at you, all gonna laugh at you" nun ebenfalls auf den Film. Das Lied handelt im Wesentlichen von ihm, spricht aber im weiteren Sinn von Songwritern, die aus dem Nichts kommen, aus ärmlichen Verhältnissen stammen und sich ihren Weg an die Spitze bahnen, dann aber jung verglühen. Darum ging es, und wir haben versucht, die Nummer schmutzig klingen zu lassen, so, als sei sie billig aufgenommen worden.

GL.de: Auch "Five Easy Pieces" ist von einem Film inspiriert und überrascht mit prägnantem Streichereinsatz. Wie kam es dazu?

Kevin Morby: Ich denke, besonders auf dieser Platte springen wir stilistisch ziemlich oft hin und her, aber bei diesem Song wussten wir sofort, wie wir ihn klingen lassen wollten. Weil es um einen Film ging, sollte er sehr breitwandig klingen, also waren die Streicher eine offensichtliche Wahl. Wir suchten nach etwas, was sich gut anhören würde, wenn man es über einen Film legen würde.
GL.de: Was deine Platten ganz allgemein von denen anderer abhebt, ist nicht zuletzt, dass jedes neue Album von dir klingt wie das nächste Teil eines großen Puzzles und nie, als wärest du darauf aus, ein einziges grandioses Statement abzuliefern. Darf man das so sagen?

Kevin: Das ist eine gute Art, es auszudrücken. Wenn ich auf meinen Backcatalog zurückschaue, fühlt sich im Rahmen des großen Ganzen jedes meiner Alben wie ein einzelner Song an. Ich mag es, die kleinen Dinge zu dokumentieren, und all die kleinen Dinge fügen sich dann zu einem größeren Gesamtwerk zusammen. In bin in der Tat nicht darauf aus, ein Meisterwerk abzuliefern und danach nie wieder eine Platte zu veröffentlichen. Wichtiger ist mir, alles entlang des Weges zu dokumentieren.
Weitere Infos:
www.kevinmorby.com
www.facebook.com/kevinrobertmorby
www.twitter.com/kevinmorby
www.instagram/kevinmorby
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Chantal Anderson-
Kevin Morby
Aktueller Tonträger:
This Is A Photograph
(Dead Oceans/Cargo)
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