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RAT TALLY
 
"Refrains waren schon immer mein ärgster Feind"
Rat Tally
Geleitet von einer natürlichen Neugier, aber am Ende doch wohlüberlegt mit einem untrüglichen Blick für das Besondere: Auf ihrem hinreißenden Debütalbum "In My Car" gelingt es der jungen Amerikanerin Addy Harris alias Rat Tally mit spielerischer Leichtigkeit, Schlaglichter auf die prägenden Momente ihres Lebens zu werfen und dabei den Sweetspot zwischen unumwundener Ehrlichkeit und fesselnder Intimität, zwischen gefühlsbetonter Poesie und greifbarer Lebensnähe zu finden. Mit seelenverwandten Künstlerinnen wie Mitski, Phoebe Bridgers und Julien Baker als leuchtende Beispiele fasziniert die am renommierten Berklee College Of Music in Boston ausgebildete Singer/Songwriterin allerdings nicht nur textlich. Mit einem für einen Erstling bemerkenswert ausgeklügelten, betont facettenreichen Sound im Dunstkreis von Indiepop, Alternative Rock und Emo schlägt sie mühelos eine Brücke vom melodieseligen Power-Pop der Fountains Of Wayne zu "Welcome Interstate Managers"-Zeiten zur detailversessenen Hochglanz-Produktion von Kacey Musgraves "Golden Hour" und vergisst dabei auch nicht die eigene Note. Wenige Wochen vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums auf 6131 Records, der (früheren) Labelheimat von Julien Baker, Katie Malco, Worriers und, und, und hatten wir das Vergnügen, mit Addy über fehlende Refrains, memorable Textzeilen, die Freuden der Kollaboration und vieles mehr zu sprechen.
Die Musik ist für Addy Harris praktisch schon ihr ganzes Leben lang ein ständiger Begleiter. Schon früh erhielt sie Unterricht und widmete sich bis zur Highschool vor allem der klassischen Musik. Auf der Kunstschule, die sie besuchte, spielte sie Cello im Orchester, und auch als Songwriterin machte sie schon damals ihre ersten Gehversuche, wenngleich lange nur im Geheimen. "Erst in der Highschool wurde mir klar, dass Songschreiben etwas war, was ich wirklich machen wollte", erinnert sich Addy im Videochat mit Gaesteliste.de. "Allerdings war mir das anfangs geradezu peinlich, bis ich dann von Berklee hörte und mir bewusst wurde, dass Songwriting etwas ist, das man als Hauptfach studieren kann. Das war der Punkt, an dem ich begann, das Ganze ernsthaft zu verfolgen."

Während viele Künstlerinnen und Künstler in der Indiewelt heute der Überzeugung sind, dass zu viel Wissen über Musiktheorie der Spontaneität und Ungezwungenheit beim Songschreiben im Wege steht, sieht Addy das als Absolventin eines der berühmtesten Musikcolleges der Welt natürlich differenzierter. "Ich habe das auch schon Leute sagen hören, aber für mich ist das etwas anders, weil ich Musiktheorie erlernt habe, als ich noch sehr jung war", erklärt sie. "Natürlich wurde das im Studium vertieft, aber für mich ist es trotzdem etwas, was einfach schon immer da war. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass es mich beim Schreiben eingeschränkt hat, denn was ich schreibe, ist größtenteils gefühlsgeleitet. Ich glaube nicht, dass mich meine Ausbildung in irgendeiner Weise aufhält."

Inzwischen im Kreise ihrer Familie in Chicago heimisch, versuchte Addy nach ihrem Studium in Boston zunächst in Los Angeles einen Neuanfang, wurde dort allerdings nicht wirklich glücklich. "Ich traf die Entscheidung, einen großen Schritt zu machen, um den nächsten Abschnitt meines Lebens zu beginnen, ohne wirklich zu wissen, was mich erwarten würde", erzählte sie kürzlich den Kollegen des ZO Magazine über ihre unglückliche Zeit in Kalifornien. "Als ich dort ankam, hatte ich keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war an einem wirklich schlechten Ort, und meine moralische Supportgruppe befand sich auf der anderen Seite des Landes. Es war schwer, mir bewusst zu werden, dass ich all die Jahre im College gewachsen bin, nur um mich wieder am Ausgangspunkt wiederzufinden."

Diese Erfahrungen verarbeitete Addy in den Songs der 2019 erschienenen Rat-Tally-Debüt-EP, die treffend "When You Wake Up" betitelt war. Im Song "Rock Of Gibraltar" heißt es: "I feel like I was born in the cracks beneath" und "Keep the car door unlocked for me / So I can roll out before anyone turns the keys" - Zeilen, mit denen Addy auf ein unstetes Leben im Dazwischen anspielt, das sich nun auch im Titel und den Texten von "In My Car" widerspiegelt. "Das Dazwischen-Sein ist ein Gefühl, das ich sehr gut kenne", gesteht sie. "Ich denke, dass meine Songs textlich immer in Bewegung und nie wirklich auf einen Punkt konzentriert sind. Das ist wahrscheinlich eine Reaktion auf mein Leben und wie ich mich dabei fühle. Ich habe das Gefühl, dass ich mich ständig bewege, das gilt besonders für mein Gehirn". Sie muss lachen. "Ich kann es einfach nicht abschalten!"

Trotzdem oder gerade deshalb verknüpft Addy die Geschichten ihrer Songs gerne und oft mit konkreten Orten. Allein mit den Titeln der Lieder ihres LP-Erstlings führt sie uns in die Bostoner Vorstadt "Allston", auf den "Mount Auburn Cemetary" und zu den "Tacoma Narrows" auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten und spart auch sonst nicht mit geographischen Verweisen als Anker für ihre Songs. "Das liegt vermutlich daran, dass ich schon als Kind oft umgezogen bin", sagt sie. "Ich bin ein sehr nostalgischer Mensch, und ich hänge sehr an den Orten, an denen ich gelebt habe, an den Dingen, die ich dort geliebt habe. Ich denke, vom Setting eines Liedes geht eine große Kraft aus und es bringt viel in meinem Songwriting zum Vorschein."

Gerne greift Addy dabei auf Zeilen zurück, die auf den ersten Blick aus dem Rahmen fallen, aber gerade deshalb in Erinnerung bleiben. "Ich mag kleine Anspielungen", erklärt sie. "In einem Song wie 'Spinning Wheel', der textlich einer meiner Favoriten auf dem Album ist, gibt es das Bild des Spinnrads, aber es gibt auch die Zeile über die Mansons ('I'm just as bad as one of the Mansons') oder 'You brought a ghost to a fist fight'. Mir gefällt es, hier und da Zeilen zu verwenden, die ein bisschen aus dem Rest herausstechen." Manchmal ist es aber auch das Thema des Songs an sich, das die gleiche Wirkung hat, zum Beispiel bei "Tacoma Narrows", bei dem Addy auf eine 1940 nur wenige Monate nach ihrer Fertigstellung spektakulär eingestürzte Hängebrücke im Staate Washington anspielt. "Das Lied entstand, nachdem ein Freund über diese technische Fehlkonstruktion schwadroniert hatte, von der ich noch nie gehört hatte", erinnert sie sich. "Ich benutze das natürlich eher als Metapher, aber ich mag es, die Aufmerksamkeit auf kleine Dinge zu lenken, die mir und der Hörerschaft im Gedächtnis bleiben."
Aus ähnlichen Gründen war es Addy auch wichtig, dass "In My Car" musikalisch betont vielschichtig ist. Allein mit "Prettier", einer leisen Fingerpicking Folk-Nummer, dem anfangs in orchestralem Glanz erstrahlenden Titelstück und dem in der Welt von Emo und Alternative Rock verwurzelten "Longshot" stellt sie ihre Wandlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis. Zufall ist das natürlich nicht. "Das war definitiv geplant", verrät sie. "Ich habe die Songs nicht unbedingt mit dieser Absicht geschrieben, aber es war mir wichtig, dass das Album eine gewisse Diversität in puncto Produktion, in puncto Songwriting widerspiegelt. Es braucht Pausen, in jedem Song sollte sich etwas anderes finden."

Das Resultat sind Songs, die oft im ersten Moment trügerisch simpel klingen, tatsächlich aber vollgestopft mit smarten Arrangementideen sind, die deutlich über das hinausgehen, was viele andere ähnlich inspirierte Künstlerinnen und Künstler zuwege bringen. Um dorthin zu kommen, gibt es für Addy verschiedene Wege. "Es kommt tatsächlich immer auf den Song an", erklärt sie. "Immer, wenn ich einen Song schreibe, besteht er anfangs nur aus Text, Melodie und Gitarre. Dann mach ich ein Demo, und erst dann beginne ich, die Arrangements zu gestalten - mein Produzent Max [Grazier, der auch schon an der EP beteiligt war] hilft ebenfalls dabei. Es gibt einen Song auf dem Album, 'Looking For You', für den ich anfangs keinerlei Vision hatte, bevor wir mit den Aufnahmen begonnen haben. Alle Parts haben wir im laufenden Prozess geschrieben, was wirklich cool war." Ein Gegenbeispiel ist das Titelstück, dessen Streicher so wesentlich für den Song sind, dass sie keinesfalls wie ein nachträglicher Einfall wirken. "Definitiv!", bestätigt Addy. "Als ich den Song geschrieben habe, wusste ich sofort, dass er Streicher braucht. Ich hörte die Melodie, und mir war sofort klar, dass das Thema auf einem Cello gespielt werden musste. Ich wusste auch, dass es ein Song sein sollte, der sich langsam aufbaut, denn ich wollte diese gewisse Spannung beim Hören fühlen."

So durchdacht und detailverliebt wie die Rat-Tally-Nummern auch sind: Eines fehlt ihnen zumeist - ein traditioneller Refrain! Eine bewusste Entscheidung ist das interessanterweise nicht. "Seltsamerweise vermeide ich es oft, einen Refrain zu schreiben. Das ist einfach sehr schwierig", sagt Addy lachend. "So schwer es ist, einen wirklich guten Refrain zu schreiben, gibt es doch Möglichkeiten, damit zu experimentieren. In 'Longshot' zum Beispiel ist der Refrain der tiefste Teil des Songs, und der höchste ist das, was man vielleicht einen Post-Chorus nennen könnte. Ich sehe das als etwas, mit dem man spielen kann, und ich fühle mich nicht zu sehr an traditionelle Songstrukturen gebunden. Ich weiß sie zu schätzen, und es gibt Lieder auf meinem Album, die ihnen folgen, aber Refrains…", sie muss lachen, "Refrains waren schon immer mein ärgster Feind!"

Mit ihrem bereits erwähnten Co-Produzenten und Vertrauten Max Grazier an ihrer Seite hat Addy "In My Car" an verschiedenen Orten in den USA aufgenommen und sich dabei des Öfteren auch prominente Hilfe gesucht. So wird sie beim Titelstück von Madeline Kenney unterstützt, bei "White Girls" von Jay Som. Überhaupt zeigt sich Addy ungewöhnlich offen für Kollaborationen in einer Zeit, in der viele Künstlerinnen und Künstler gerade bei ihren frühesten Veröffentlichungen lieber darauf verzichten, Verantwortung und Kontrolle abzugeben, um nicht die eigene Vision zu verwässern. "Jeder bietet eine andere Perspektive, jeder hat eine andere Vorstellung davon, wie etwas klingen sollte, und ich denke, das ist wirklich wertvoll", sagt sie mit einem Schulterzucken. "Bisweilen habe ich eine zu genaue Vorstellung im Kopf, wie etwas klingt oder wie es klingen soll, und manchmal kann ich mich nicht davon befreien. Man hat eine zu spezifische Vision für etwas, aber ich finde, das wird langweilig und es macht mehr Spaß, wenn andere dir helfen und du darauf vertraust, dass sie ihr Ding machen."

Diese Herangehensweise hilft Addy nicht nur musikalisch, sich zu entwickeln, sie hilft ihr auch als Mensch, alte Verhaltensmuster ein Stück hinter sich zu lassen. "Ich denke einfach, allein zu arbeiten, kann isolierend sein, und es ist für mich persönlich - nicht nur in Sachen Musik - sehr leicht, mich zu isolieren. Es ist ein Lernprozess, Menschen aus meinem Umfeld meine Songs, meine Musik anzuvertrauen. Ich bin wirklich schlecht darin, Songs mit anderen zu schreiben, ganz besonders Texte, das ist etwas, mit dem ich zu kämpfen habe, aber in puncto Produktion sind die Möglichkeiten so endlos, dass ich manchmal einfach ein andere Perspektive brauche."

Tatsächlich ist es Addy aber auch wichtig, ihren eigenen Horizont nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Hörerin von Musik ständig zu erweitern. "Als Hörerin versuche ich, die Palette der Genres, mit denen ich mich beschäftige, zu vergrößern", sagt sie. "Es ist natürlich leicht, bei Songs oder Acts, die man wirklich liebt, steckenzubleiben, aber ich möchte einfach möglichst unterschiedliche Sachen hören. Das ist es, was mich motiviert, neue Musik zu finden. Auf dem Laufenden zu bleiben, ist wirklich wichtig für mich, aber ich denke, besonders im College und in den letzten fünf oder sechs Jahren waren in dieser Hinsicht vor allem meine Freunde die wichtigste Ressource für mich, sie und der Besuch von Konzerten, die ich mir vielleicht normalerweise nicht angesehen hätte. Ich mag es, auf Empfehlungen von Leuten zu hören, die vielleicht nicht in der gleichen Szene wie ich unterwegs sind oder nicht die gleiche Musik hören wie ich. Es gibt noch so viel Musik zu entdecken, und das finde ich sehr aufregend."
Weitere Infos:
www.instagram.com/rat_tally
www.facebook.com/rattallymusic
rattallyinanalley.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Pressefreigabe-
Rat Tally
Aktueller Tonträger:
In My Car
(6131/Bertus)
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