GL.de: Hannah, um mit einer allgemeineren Frage einzusteigen: Welchen Stellenwert hat bzw. welche Rolle spielt Musik in deinem Leben?
Hannah: Ich glaube, es gibt keine Art, das zu sagen, ohne dass es kitschig und geschwollen wirkt, also here goes: Mein ganzes Leben dreht sich um Musik. Auch weit über meine eigenen Songs hinaus müsste ich wirklich länger nachdenken, um einen Bereich zu finden, der nicht maßgeblich davon geprägt ist. Ich antworte auch gerne auf die Frage, ob Musik ein Hobby oder ein Job ist, mit "Ja". Wenn ich arbeite, bin ich auf Tour, wenn ich zu Hause bin, schreibe ich oder besuche selbst Konzerte. Fast mein ganzes soziales Umfeld habe ich mehr oder weniger über die Musik kennengelernt. Es stellt sich definitiv die Frage, ob und wie gesund das ist. Die Frage ist berechtigt, weswegen ich im Moment auch nach Ausgleich suche, um nicht auszubrennen, auf der anderen Seite ist das aber auch Absicht. Ich habe mich schon durch sämtliche Hobbys, Studiengänge und Passionen probiert, bin aber am Ende immer wieder zur Musik zurückgekommen. Ich kann und will nichts anderes machen im Moment.
GL.de: Kannst du kurz beschreiben, wie du zur Musik gekommen bist?
Hannah: Meine Mutter erzählt ja immer gern, dass Sie beim Stillen grundsätzlich nur MTV geguckt hat. Man könnte also sagen, mit der Muttermilch (lacht)? Eine meiner frühesten Erinnerungen an Musik ist, dass ich mit ihr zusammen nachmittags ferngesehen habe und das Musikvideo zu "Break The Line" von den Guano Apes auf MTV lief. Ich dachte mir nur: "Oh wow, wie cool sind die denn? Ich will das auch mal machen!" Das muss so mit sieben Jahren gewesen sein. Meine erste Band hatte ich dann mit ca. 15. Wir hatten zeitweise den Ruf als "schlechteste Metalband Münchens" (lacht). Eine noch frühere Erinnerung sind die Weihnachtslieder an Heiligabend bei meinen Großeltern. Meine Familie ist sehr groß und wir sind jedes Jahr zwischen 17 und 25 Leute an Heiligabend. Bevor es Geschenke gibt, werden immer erst zwei, drei Lieder gesungen. Als kleines Kind tut das Warten natürlich körperlich weh, rückblickend ist es aber eine absolute Kernerinnerung. Deswegen sind auch sämtliche Klavierparts auf der EP auf genau diesem Klavier in genau diesem Wohnzimmer aufgenommen worden. Der Aufnahmeprozess hatte etwas von Wiedergeburt für mich. Da hat es für mich nur Sinn gemacht, zurück zu meinen Anfängen zu gehen. Außerdem will ich realistisch sein. Ich weiß nicht, wie lange es dieses Klavier, das Haus und die Menschen darin noch geben wird. Ich wollte diesen Raum, dieses Gefühl festhalten.
GL.de: Im Info wird "The Phosphorus Account: Pt. I" als "Notwendigkeit" beschrieben. Ist das ein guter Startpunkt für eine künstlerische Karriere?
Hannah: Haha, ja, vielleicht. Ich habe aber lieber einen schlechten Startpunkt für eine Karriere als gar keinen. Außerdem mache ich ja schon länger Musik, deswegen weiß ich nicht, inwieweit die Platte wirklich der Startpunkt für mein kreatives Schaffen ist. Es ist aber definitiv ein Neuanfang. Ein besserer. Der Hintergrund der Notwendigkeit hat sich in den anderthalb Jahren, in denen die Platte entstand, auch stark verändert. Am Anfang war es wahnsinnig wichtig für mich, Dinge anders zu machen als zuvor. Ich komme aus der Post-Hardcore/Emo-Ecke und wollte unbedingt so weit weg davon wie möglich. Mich abnabeln. Jetzt ist es mehr der Drang nach Abschluss. Ich muss diese Platte voll ausschöpfen, damit ich weitermachen und noch bessere Songs schreiben kann. Um es mit den Worten meiner guten Freunde von Tigeryouth zu sagen: "Diese Lieder müssen endlich laufen lernen!" (lacht).
GL.de: Um deine Gefühle zu verarbeiten, hättest du ja auch Gedichte oder einen Roman schreiben können. Was macht für dich die Musik zu einem so guten Ventil?
Hannah: Oh boy, I tried (lacht)! Leute, die mich schon länger kennen, werden sich an ganz unangenehme Spoken-Word- und Poetry-Slam-Phasen von mir erinnern. Naja, gehört eben dazu. Live spielen ist hier der Knackpunkt. Ich glaube nicht, dass ich je einen Roman schreiben werde, weil ich bisher noch auf keiner Buchlesung Leute mitschreien und crowdsurfen gesehen habe. Ich finde ja durchaus, dass man das einführen könnte (lacht). Ich würde auch nie Musik schreiben, die ich nicht live spielen kann. Musik gibt mir die Möglichkeit, die Erfahrungen und Eindrücke, die in meinem kreativen Schaffen stecken, mit anderen Menschen zu teilen. Ich mag Gedichte. Ich finde sie spannend und sehr inspirierend. Aber auch auf Poetry Slams habe ich bisher noch niemanden crowdsurfen sehen.
GL.de: Ohne die Texte sezieren und damit entzaubern zu wollen - wonach suchst du bei deinen Songs, besonders textlich?
Hannah: Texte sezieren ist schwierig, und ich finde es noch schwieriger, den Inhalt zu beschreiben, ohne in ein Track-by-Track-Review auszubrechen. Die Texte sind eine extrem subjektive und persönliche Sicht auf ein sehr objektives Problem: der Schmerz von Veränderung und Marginalisierung. Wonach ich suche, ist Verbindung. Meine Hand ausstrecken, in der Hoffnung, dass irgendjemand da draußen auch so fühlt wie ich. Wenn auch nur eine Person meine Musik hört und sich denkt: "Oh wow, mir geht's genauso", habe ich mein Ziel erreicht. Vor allem geht es dabei um die Leute, deren Erfahrung und Lebensrealität anders ist als meine, weil es zeigt, wie ähnlich wir uns eigentlich alle sind. Marginalisierung bedeutet, zu sagen: "Du bist anders als ich. Du passt hier nicht rein." Die Realität ist, wir sitzen alle im selben Boot.
GL.de: Eines deiner Themen ist, sich nicht unterkriegen zu lassen und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Steckt dahinter vielleicht auch die Idee, dass du als Songwriterin/Künstlerin die Freiheit hast, nicht nur über die Person zu schreiben, die du bist, sondern auch über die, die du gerne sein möchtest?
Hannah: Was für eine unangenehme und gleichzeitig geniale Frage (lacht). Unangenehm, weil ich als Person, die nun mal in meinem Kopf und Körper steckt, schwer einschätzen kann, wie weit ich von der Person in den Texten wirklich entfernt bin, und mir eingestehen muss, dass Einschätzung und Realität nicht immer überlappen. Genial, weil es, finde ich, eine wahnsinnig wichtige Beobachtung von außen ist, die mich zwingt, mich zu hinterfragen, und mir Verantwortung zuschreibt. Ich kann nicht sagen, wie groß der Unterschied zwischen den beiden Personen ist. Ich kann aber sagen, dass ich immer weniger über die Person schreibe, die ich sein möchte, sondern über die, die ich bin, und das macht mich gerade sehr glücklich.
GL.de: Obwohl die Platte ein betont persönlich gefärbtes Werk ist, spielt der Titel auf die Matchgirls an. Wie bist du auf sie und ihre Geschichte gestoßen und wie sind sie dann zu einem Sinnbild für dich und diese Lieder geworden?
Hannah: Wie ich wirklich auf die Geschichte dahinter gestoßen bin, kann ich nicht sagen. Wie ich mich kenne, war es ein von meinem ADHS gesteuertes Google-Rabbit-Hole, in das ich mal gefallen bin (lacht). Ich mache zusätzlich zur Musik noch Awareness-Arbeit und beschäftige mich viel damit, wie bestimmte Aspekte von Diskriminierung und Machtsystemen sich in alltäglichem Verhalten widerspiegeln. Dazu gehört auch die Frage, wie schlecht es einem Menschen gehen muss, bis er sich auflehnt. Die Matchgirls waren gescholtene Menschen, die irgendwann gesagt haben: "Es reicht!" Dieses Motiv schlich sich im Prozess der Platte immer wieder ein, und ich fing an, die Menschen um mich herum auch ein wenig so zu sehen. Ich bin sehr arm aufgewachsen. In meiner Familie oder meinem Freundeskreis hat niemand reiche Eltern oder wuchs in großen Häusern auf. Gleichzeitig bin ich in einem Vorort von München umringt von Schnöseln groß geworden. Es macht etwas mit dir, wenn zu Hause der Strom abgestellt wurde und deine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden mit ihren BMWs zur Schule kommen. Gleichzeitig sehe ich, wie alle Leute in meinem Umfeld sichtlich glücklicher sind als eben jene Schnösel aus Bayern. Daher das Motiv von Aufstand und "Dinge selbst in die Hand nehmen".
GL.de: Bedeutet die Dringlichkeit, die sich in der eben erwähnten "Notwendigkeit" andeutet, dass der Inhalt hier der Form, also dem Sound den Weg gewiesen hat?
Hannah: Ja und nein. Wie eben schon erwähnt, war es mir wichtig, mich von meiner alten musikalischen Identität wegzubewegen. Gleichzeitig hatte ich damals nach langem Hadern endlich den Schritt in die Elektronik gewagt und hatte auf einmal ein nicht endendes Arsenal an klanglichen Möglichkeiten vor mir. Das war am Anfang fast schon zu viel, und ich merke auch, wie ich mir selbst in meinem kreativen Schaffen immer mehr Einschränkungen setze und bewusst Dinge simpel halte. Diese Songs sind das erste Bild, gemalt von einem Menschen, der zum ersten Mal in seinem Leben in Farbe sieht. So hat es sich für mich zumindest angefühlt. Ich habe mich komplett neu in Musik verliebt.
GL.de: Du arbeitest ja gewissermaßen auf beiden Seiten der Musikindustrie: Gibt es bestimmte Lektionen, die du als Bookerin und Tourmanagerin gelernt hast, die du nun bei deiner eigenen Musik anwenden kannst?
Hannah: In erster Linie hilft es, umgeben von Menschen mit einer bestimmten Arbeitseinstellung zu sein. Ich habe das Privileg, mit Menschen zu arbeiten, die schon viel länger in der Industrie sind als ich, und ich sehe, was alles wirklich zum Dasein als Musikerin und Musiker dazugehört. Ich sehe, wie sehr es wie jeder andere Job auch ist. Manche Leute finden sowas erschreckend oder ernüchternd. Ich finde es ermutigend, weil es die ganze Sache greifbar macht für mich. Ich bin die erste Berufsmusikerin in meiner Familie seit drei Generationen. Ich habe das alles nicht in die Wiege gelegt bekommen. Ganz im Gegenteil. Ich musste mich sowohl privat als auch beruflich gegen sehr viele Menschen durchsetzen, die mich glauben lassen wollten, dass das nie funktionieren wird. Tourmanagement ermöglicht es mir, Erfahrung zu sammeln. Sowohl im organisatorischen als auch im musikalischen Bereich. Es hilft, wenn du jeden Tag den Profis zusehen kannst, wie sie ihr Ding machen.
GL.de: Umgekehrt gefragt: Ist es für den Job als Bookerin und Tourmanagerin hilfreich, selbst Musik zu machen?
Hannah: Es hilft natürlich in erster Linie, wenn man ein wenig davon versteht, was zu einer guten
Performance dazugehört. Ich weiß, wo Verstärker oder Mikrofone stehen sollten oder was ich dem Menschen am Sound sagen muss, was die Band für einen guten Sound benötigt. Ich kann Gitarrensaiten wechseln, kenne Pedals etc. Das ist aber nicht der größte Vorteil. Ich habe ein Gefühl dafür, wie es sich anfühlt, eine gute Show liefern zu wollen. Dementsprechend kann ich anders auf die Bedürfnisse der Musikerinnen und Musiker eingehen, ohne die Organisation oder Produktion zu gefährden. Ich bin sehr dahinter her, dass es den Leuten in meiner Travelparty auch seelisch gut geht. Touren ist hart. Jemand, der nur etwas von Stage calls, Tech Ridern und ATA Carnets versteht, bringt dich vielleicht auch pünktlich ans Ziel. Mir ist aber auch wichtig, dass du danach nicht im Hotelzimmer zusammenbrichst, weil alles zu viel wird.
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