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Interview-Archiv

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NADINE KHOURI
 
Die investierte Kontrolle
Nadine Khouri
Das Debüt-Album der britisch/libanesischen Musikerin Nadine Khouri - "The Salted Air" - erschien noch in einer Zeit, in der die Krisen der Welt überschaubar und handhabbar erschienen. Nachdem sie bereits 2010 eine erste EP namens "A Song To The City" als Hommage an Beirut eingespielt hatte, wurde sie im Folgenden von John Parish entdeckt, der Nadine bat, einen Song bei einer Produktion mitzusingen. Das war dann der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und einer produktiven Zusammenarbeit, bei der sich Nadine, John und eine Gruppe befreundeter Musiker 2016 in Bristol zusammenfanden, um das Debüt-Album in den Toybox-Studios mittels gemeinsamer Sessions aus Nadines zuvor nur skizzenhaft angelegtem Material herauszukitzeln. An Pandemien und Kriegen und Energie-Engpässe war damals ja noch gar nicht zu denken, so dass Nadine die folgenden Jahre nutzen konnte, um ihr Material live zu präsentieren, viel zu reisen und sich Gedanken für neue Songs zu machen. Das kam dann aber erst mal zum Erliegen, als die Pandemie und Lockdowns Nadine in die Isolation zwang. Eine Situation, mit der sie so gar nicht zurecht kam - was dann auch der Grund ist, dass an ein zweites Album - das nun unter dem Titel "Another Life" vorliegt - erst wieder zu denken war, als das Musizieren in der Gemeinschaft wieder möglich war.
"Ja, die Hauptursache, warum das alles so lange gedauert hat, war tatsächlich die Pandemie", berichtet Nadine, "John Parish und ich hatten den Plan, das Album live im Frühjahr 2020 einzuspielen. Und wir wissen ja alle, was dann passiert ist. Es gab keine Möglichkeit für uns, so eine Session sicher zu realisieren. Das galt natürlich auch für Johns andere Produkte. Ich wollte aber die Sache unbedingt in der Art machen, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Ich bin dann vom UK - wo ich eine lange Zeit gelebt hatte - nach Frankreich umgezogen. Wir konnten uns dann erst im letzten Sommer treffen und live im Studio aufnehmen. Es kam also alles zusammen." Viele Leute haben dann in der Pandemie ja auch eine kreative Chance gesehen. "Also um ehrlich zu sein, saß ich alleine in meiner Wohnung in London im Lockdown", erinnert sich Nadine, "ich war absolut unfähig, irgendetwas schreiben zu können. Alles was ich mir vorgenommen hatte und was ich geplant hatte, verschwand in der Ferne. Ich war ziemlich verblüfft, denn ich hatte keinen Backup-Plan. Ich würde sagen, dass ich mit der Situation nicht besonders gut umgegangen bin und sie überhaupt nicht kreativ nutzen konnte." Wann sind denn dann die Songs für dieses Album entstanden? "Ein wenig hatte ich schon vor der Pandemie fertig - aber das meiste habe ich nach den totalen Lockdowns geschrieben", führt Nadine aus, "als man das Haus wieder verlassen konnte, lebte ich bereits in Marseille. Die ganze Zeit dazwischen ist irgendwie wie ein Schleier." Das bringt uns zu einem interessanten Punkt, denn Nadine referenziert ihre Umgebung regelmäßig in ihren Songs - entweder direkt namentlich (wie in diesem Fall beispielsweise Marseille und Toronto) - oder indirekt mit Umschreibungen. "Ja, die Umgebung hat einen großen Einfluss auf mein Songwriting", räumt Nadine ein, "ich bin immer von dem inspiriert, was mich umgibt. Sei es ein Ort oder das, was ich erlebe und erfahre und auch die Leute betreffend, die ich treffe. Ich habe lange in London gelebt und an einen Ort am Mittelmeer zu kommen, war schon sehr interessant." Und wie sieht es mit der musikalischen Inspiration aus - wird die auch von der Umgebung beeinflusst? "Also die Dinge, die ich mache, sind irgendwie in mir hinterlegt. Meine Technik hat sich natürlich im Laufe der Zeit verfeinert, aber die Umgebung schlägt sich da auch nieder. Die Franzosen haben ja eine ganz reichhaltige musikalische Kultur und ich höre heutzutage auch viel mehr unterschiedliche Musik als früher."

Insbesondere erscheinen die neuen Tracks konkreter strukturiert als die Aufnahmen auf dem Debüt-Album. Teilweise greift Nadine dabei auf konventionelle Songstrukturen mit Strophen, Refrains und Melodiebögen zurück. "Ja - das hat auch mit der Pandemie zu tun", erinnert sich Nadine, "ich habe nämlich dieses Mal alleine geschrieben und habe die Songs für mich selbst konstruiert und dabei bewusster und fokussierter über die Arrangements nachgedacht. Ich hatte dann auch mehr Spaß dabei, die Songs für mich auszuarbeiten anstatt meine Gitarre zu nehmen und mit meinen Musikern zu jammen, wie beim ersten Album. Ich habe also dieses Mal mehr in die Kontrolle investiert - wenn man das so sagen kann." Worüber singt Nadine denn wohl? Zwar betrachtet sie ihre Szenarien stets auf der ersten Person heraus - aber nicht indem sie Geschichten erzählt und auch nicht indem sie beschreibt, was sie selbst denkt und fühlt. Das neue Album scheint weniger von Nadine zu handeln, als noch das erste. "Sehr viel weniger sogar, würde ich sagen", meint Nadine, "das erste war ziemlich konfessioneller. Die neun Songs 'Box Of Echoes', 'Vertigo' oder 'Song Of A Caged Bird' handeln gewiss nicht von mir. Lediglich der Titeltrack, 'Another Life' entspricht mehr meiner Weltsicht." Worum geht es denn in "Another Life"? Vielleicht um Eskapismus oder Utopie oder irgend etwas anderes? "Ich habe jetzt nicht gezählt, wie oft es vorkommt - aber wenn du genau hinhörst, dann wirst du sehen, dass der Begriff 'Another Life' in einigen Songs auftaucht. Ich mochte die Ambivalenz des Begriffes, denn er kann mehr als eine Bedeutung haben. Für mich war es vornehmlich das Gefühl, das sich nach meinem Umzug nach Marseille als neues Leben präsentierte und der Gedanke daran, wie mein Leben sich entwickelt hätte, wenn ich nicht umgezogen wäre. Das erste Mal, dass ich mit dem Begriff gespielt habe, war aber in dem Song 'A Caged Bird'. Dabei kann es um ein Leben vor der Pandemie gehen oder ein Leben vor dem Internet - denn ich weiß noch, wie das war. Es kann aber auch ein Leben nach dem Tode sein oder das Leben in der Zukunft." Und nicht zuletzt das Leben anderer Personen.
Gibt es bei Nadine überhaupt so etwas wie Eskapismus? "Nun ja - nein - ich weiß nicht, das ist eine schwere Frage", zögert sie, "Songs zu schreiben, ist ja schon irgendwie eine Art Eskapismus - indem man sich in diese kreierten Welten zurückzieht. Aber für mich ist das eine Art, die Realität zu verarbeiten und dabei geht mir nicht darum, irgendwelche Utopien zu entwickeln. Das Leben ist das, was gerade passiert und wenn man einen Song schreibt, dann kann man bestenfalls versuchen, etwas besser zu machen - es geht mir aber nicht darum, ein Ideal zu finden. In diesem Sinne sind meine Songs weder eskapistisch noch utopisch angelegt." Aber in hektischen Zeiten wie den unseren geht es doch darum, einen Ort der Ruhe zu finden. Da könnte das Schreiben von Songs doch behilflich sein, die ganzen Krisenszenarien zu verarbeiten. "Ja, in diesem Sinne tendiere ich natürlich schon dazu, mein eigenes Universum zu erschaffen", gesteht Nadine. Worum geht es Nadine generell, wenn sie ihre Texte schreibt: Darum, eine Idee zu destillieren - oder sich auf den Flow eines "Stream Of Consciousness" einzulassen? "Wenn ich schreibe, dann vertraue ich zunächst schon auf den 'Stream Of Consciousness", räumt Nadine ein, "dann stecke ich aber viel Arbeit darein, diese Texte zu editieren. Nur sehr selten nehme ich einen Text so, wie er mir gerade einfällt. Ich muss sehr stark daran herumfeilen. Leonard Cohen mag den Luxus gehabt haben, sich dafür alle Zeit der Welt zu nehmen - ich arbeite aber am besten, wenn es eine Deadline gibt, die ich einhalten muss."

Die erste Scheibe von Nadine entstand ja in einem kollaborativen Umfeld, in der die Aufnahmen von den beteiligten Musikern gemeinsam aus Jam-Sessions herausgearbeitet wurden. Bei "Another Life" war das aber anders, oder? "Ja, denn dieses Mal ging es mir ja mehr um die Kontrolle", bestätigt sie, "damals ließ ich die Leute ihre Ideen an den Tisch bringen und alles war spontaner als bei den neuen Aufnahmen. Aber dieses Mal musste ich besser vorbereitet sein, weil wir ja gar nicht den Luxus hatten, jammen zu können, wann immer uns danach war. Ich musste also sehr spezifisch sein - auch weil wir ein enges Zeitfenster für die Aufnahmen hatten. Ich musste also alles stärker kontrollieren. Ich liebe es aber natürlich, wenn Musiker ihre Ideen einbringen." So entstand dann auch das Duett "Box Of Echoes", bei dem Altmeister Adrian Crowley Nadine als Gesangspartner unterstützte.
Das Kernstück des Albums ist dann aber keineswegs der Titeltrack, sondern das Stück "Keep Pushing These Walls", mittels dessen Nadine nicht nur ihre Situation in der Pandemie zum Ausdruck brachte, sondern das sie auf einen Text der 2010 verstorbenen Lhasa de Sela bezog. "Ich wollte schon lange ein Stück über Lhasa schreiben - weil ich ein Riesen-Fan bin. Ich hatte Feist und Bryce Dessner in London gesehen, die in London ein Tribute-Konzert für Lhasa veranstalteten hatten und bin dann nach Hause gekommen, wo ich gleich diesen Song schrieb", erinnert sich Nadine, "es gibt eine Menge Bezüge zu Lhasa und es ist seltsamerweise sogar der fröhlichste Song des Albums geworden. John Parish musste mich sogar davon überzeugen, das Stück auf das Album zu nehmen - weil ich gar nicht dachte, dass es passen würde. Es gibt ein Buch von Lhasa namens 'La route de chant', in dem sie davon schreibt, was Musik ihr bedeutete. Sie sagt: 'Du hast die Wände der Welt verschoben - und dafür danke ich dir'. Es bedeutet, dass man die Welt, in der man sich befindet, nach seinen Fähigkeiten ausdehnen sollte. Musik und Solipsismus (eine philosophische Strömung, die darauf basiert, dass nur das eigene Bewusstsein faktisch existiert - und die ursprünglich als "Selbstsucht" bezeichnet wurde) sind auch eine Möglichkeit, sich aus Situationen zu befreien, die einen selbst blockieren." Mit anderen Worten: Mit der Musik kann man sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen. Wenn Nadine nur diesen einen Aspekt im Sinn gehabt haben sollte (was bei weitem nicht der Fall ist), dann hätte sie somit schon einen soliden Grundstein für ein "anderes Leben" gelegt.
Weitere Infos:
nadinekhouri.com
www.facebook.com/nadinekhourimusic
www.instagram.com/nadine_khouri
www.youtube.com/watch?v=bIQ6z7DTWtY
twitter.com/nadine_khouri
www.talitres.com/en/artists/nadine-khouri.html
Interview: -Ullrich Maurer-
Foto: -Steve Gullick-
Nadine Khouri
Aktueller Tonträger:
Another Life
(Talitres/Rough Trade)
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