Es mag nicht die feine Art sein, bei Interviews gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber als wir wenige Wochen vor der Veröffentlichung von "Choosing" die Gelegenheit hatten, mit Sophie Jamieson per Videochat zu sprechen, hatten wir - fast neun Jahre nach unserer ersten denkwürdigen Begegnung mit ihr - trotzdem eine brennende Frage, die keinen Aufschub duldete. Sie lautete: Was ist da passiert? "Nun, als du mich damals in Köln hast spielen sehen, sah es so aus, als würden sich die Dinge prächtig entwickeln", erinnert sie sich. "Das war damals unsere allererste Tournee, und wir spielten viele wirklich schöne Shows, vor allem in Deutschland, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern. Für eine Weile lief alles prima, aber ich war noch ziemlich jung und ging eins nach dem anderen an, denn ich wusste noch nicht wirklich, was ich aus meinem Leben machen wollte. Bis zu dem Zeitpunkt hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, ernsthaft darüber nachzudenken. Damals schmiedete ich gerade Pläne, wie ich es schaffen würde, bei meinen Eltern auszuziehen, denn ich hatte nur Hospitality- und andere Aushilfsjobs, und das reichte finanziell einfach nicht, um mich auf eigene Beine zu stellen. Irgendwann fand ich dann einen festen Job, und gleichzeitig war auch die Musiksache auf dem aufsteigenden Ast. Leider passte das zeitlich nicht wirklich zusammen. Ich machte viele Überstunden und war allein schon davon ausgelaugt, und dann gingen die Abende noch für die Bandproben oder Konzerte drauf und ich fand kaum noch Zeit zum Schreiben. Wenn ich es dann versuchte, war ich so müde, dass ich mich ständig wie eine Versagerin fühlte. 2015 habe ich dann die Aufnahmen für eine weitere EP in Angriff genommen, aber letztlich lief es nicht besonders gut. Ich hatte Songs, die mir sehr wichtig waren und denen ich unbedingt gerecht werden wollte, aber wir hatten uns einen Produzenten ausgesucht, den ich für den richtigen gehalten hatte, weil er wirklich mit uns zusammenarbeiten wollte. Nun, es stellte sich heraus, dass das allein als Kriterium nicht ausgereicht hat! Alles löste sich in Luft auf, und ich konnte die EP nicht veröffentlichen, weil mir das Geld und buchstäblich auch die Energie ausging. Das hat mir die Liebe ruiniert, die mich einst dazu geführt hatte, mit der Musik anzufangen. Alles fiel in sich zusammen und ich musste in vielerlei Hinsicht wieder von vorn anfangen - Job, Zuhause, Beziehung. Mir alles neu aufzubauen, hat ein paar Jahre in Anspruch genommen - und erst dann konnte ich mich wieder an das Songschreiben wagen."
Weil Jamieson lange viel zu tief in dem Loch feststeckte, aus dem sie sich erst einmal befreien musste, um sich weniger verloren zu fühlen, wurde ihr erst rückblickend bewusst, dass diese schwierige Zeit auch durchaus lehrreich gewesen ist. "Ich denke, die Lektionen lerne ich erst jetzt, da ich 60, 70 Songs geschrieben habe”, sagt sie lachend. "Damals fühlte es sich nicht so an, als würde diese Zeit lehrreich sein. Dabei habe ich tatsächlich viel gelernt, allerdings ist mir das erst mit Verzögerung bewusst geworden. Viele der Songs, die ich 2020 auf den beiden EPs veröffentlich habe, sind nicht sonderlich hoffnungsvoll. Sie drücken aus, was ich durchgemacht habe, aber ich strebte nicht nach dem Licht. Deshalb ist es für mich sehr interessant, ab und zu auf diese Zeit zurückzublicken, was ich gerade oft tue, wenn ich über das Album spreche, denn die meisten Songs darauf entstanden vor zwei, einige sogar bereits vor vier Jahren. Ich bin heute ein ganz anderer Mensch, und bisweilen ist es geradezu schockierend, wenn ich mich in diese Zeit zurückversetze und darüber nachdenken muss, wo ich damals war, weil das alles für mich inzwischen sehr weit weg ist. Die größten Lektionen dieser Zeit lerne ich deshalb erst jetzt - mit ordentlich Abstand."
Dabei ist genau die emotionale Verwundbarkeit, der ungefilterte Ausdruck von Kummer und Angst, der "Choosing" so bewegend macht. Denn obwohl Jamieson glücklicherweise inzwischen genug Distanz zu den Ereignissen hat, die sie in diesen Songs beschreibt - die brutale Ehrlichkeit, mit der sie den Kampf mit ihren Dämonen schildert, fesselt vom ersten Ton an. "Ich glaube nicht, dass ich diese Songs in irgendeine Richtung gedrängt habe, aber ich habe sie bewusst ausgewählt und ihre Reihenfolge so arrangiert, dass von ihnen als Ganzes eine weitreichendere Botschaft ausgehen kann", erklärt sie. "Wenn ich schreibe, lass ich mich idealerweise in den Schreibprozess hineinziehen, und normalerweise lerne ich viel durch das Schreiben eines Liedes. Das ist einer der größten Nervenkitzel beim Songwriting. Dagegen ist es langweilig, wenn du denkst: Oh, ich will einen bestimmten Song schreiben, und dann machst du das. Es geht darum, nicht zu wissen, was in einem steckt, und es dann herauszufinden. Komischerweise denke ich bei vielen dieser Lieder, wenn ich sie jetzt höre und die Texte lese: Oh Gott! Echt jetzt? Wow! Aber damals war es nicht so schockierend für mich, weil ich mittendrin war und es einfach ziemlich natürlich schien, weil es sich sehr ehrlich anfühlte. Ich denke, deshalb ist es so schön, Songs zu schreiben und dann eine Weile zu brauchen, um sie aufzunehmen, und dann noch eine Weile, um sie veröffentlichen und darüber sprechen zu können. Am Ende bilden Sie einen Rahmen für einen Teil deines älteren Selbst und einer bewussteren Gegenwart. Die Songs sind also immer noch das, was sie damals waren. Ich kann nicht leugnen, dass ich das ziemlich herausfordernd finde, nun während dieser Albumkampagne darüber sprechen zu müssen, weil ich mein vergangenes Ich nicht verurteilen will und hoffe, dass andere das auch nicht tun. Der Prozess, diese Songs zu teilen, kommt nicht ohne Scham und kleine Stiche der Verlegenheit aus, aber ich weiß auch, dass ich der Ehrlichkeit, die in diesen Songs steckt, treu bleiben muss."
Das ist auch auf anderer Ebene verständlich. Zwar erscheint "Choosing" erst jetzt, inzwischen hat Jamieson aber bereits damit begonnen, das Nachfolgewerk aufzunehmen, und auch sogar die Songs für Album Nummer entstehen momentan bereits. Besonders bemerkbar macht sich das derzeit bei ihren Live-Auftritten. "Wenn ich auftrete, bin ich sehr egoistisch", gesteht sie. "Für gewöhnlich spiele ich die Songs, die mir selbst zum jeweiligen Zeitpunkt am nächsten sind. Das führte dazu, dass ich im vergangenen Jahr eine Menge Konzerte hatte, bei denen ich überhaupt keine Musik gespielt habe, die bereits aufgenommen ist, sondern nur die unveröffentlichten Lieder, aber das habe ich getan, weil ich das Gefühl hatte, dass diese Songs das beste Set waren, was ich an dem Abend abliefern konnte. Wenn wir mit dem Album ein bisschen auf Tournee gehen, wird das sicherlich ein wenig anders sein, da werde ich auch ältere Sachen spielen, denn ich finde es auch wichtig, zu all diesen Dingen gleichzeitig eine Verbindung aufbauen zu können. Es liegt viel Schönes darin, eine Setlist aus alten und neuen Liedern zusammenzustellen, die aus verschiedenen Kapiteln deiner Geschichte stammen und trotzdem zusammen als ein neues Set Sinn ergeben, so als würdest du jeden Abend ein anderes Album spielen. Das empfinde ich als sehr kreativen Prozess."
Doch auch wenn Jamieson inzwischen längst nach vorn blickt: Auf "Choosing" knüpft sie eher an ihre Vergangenheit an. Auf ihren 2020 mitten in die Wirren der ersten Pandemie-Lockdowns hinein veröffentlichten Comeback-EPs hatte sie sich ein Stück weit vom verträumten Folk-Sound ihres Erstlings "Where" gelöst und war mit merklich mehr elektronischen, experimentellen Elementen dem Zeitgeist ein Stück weit entgegengekommen. Ihre wichtigste Bezugsperson dabei war Steph Marziano, die nun auch das Album produziert hat und auch schon mit Hayley Williams und Bartees Strange, aber auch mit Ex:Re, Sam Smith und Mumford & Sons zusammengearbeitet hat. Im Studio herrschte damals eine von Selbstbewusstsein und Positivität, aber auch von einem gewissen Freiheitssinn und dem Verzicht auf Perfektionismus gekennzeichnete Atmosphäre, dennoch ruderte Jamieson für "Choosing" zurück und ließ sich auf ihrer Suche nach ungekünstelten Songs nicht zuletzt auch durch die "Weniger ist mehr Ästhetik" von Künstlerinnen wie Julia Jacklin, Aldous Harding und - in ganz besonderem Maße - vom letzten Soloalbum der Big-Thief-Frontfrau Adrianne Lenker inspirieren. "Als es darum ging, das Album einzuspielen, bin ich zunächst mit der gleichen Einstellung an die Arbeit gegangenen wie zuvor bei den EPs", verrät sie. "Ich hatte das Gefühl, zusammen mit Steph schon so viel Gutes gemacht zu haben, aber noch nicht am Ende angekommen zu sein. Ich wollte sehen, was sich da noch verbarg. Gleich während der ersten Tage der Aufnahmen wurde mir dann allerdings aus heiterem Himmel klar, dass ich Simplizität und organische Naturbelassenheit in den Mittelpunkt rücken wollte, die wir mit der Weiterverfolgung des eher experimentellen Pfades nicht hätten erreichen können. Ich hatte Steph nie gesagt, dass ich nach etwas ganz Bestimmtem suche, aber plötzlich war es offensichtlich. Der erste Track, den wir aufgenommen haben, war 'Crystal', das war nur ich und das Klavier, und da wurde mir bewusst, dass ich das weiterverfolgen will und nicht das elektronische Drumkit einbinden will, mit dem wir zuvor angefangen hatten herumzuspielen. Wir haben also dieses Mal nicht so viel experimentiert, weil es einfach klar war, welche Songs wir besser in Ruhe lassen. Bei einigen Liedern machten wir nicht viel mehr, als ich bereits in meinem Demo festgehalten hatte - wir haben sie lediglich etwas besser aufgenommen und mit etwas mehr Sorgfalt. Die stärker ausstaffierten Lieder habe ich zusammen mit einem großartigen Schlagzeuger namens Danny Brooks erarbeitet, der damals mein Boyfriend war. Ich hatte das Glück, viel Zeit mit ihm zu verbringen und die Parts wirklich ausarbeiten zu können, und das war der Energie dieser Songs wirklich zuträglich. Seitdem bin ich auf dem Trip, all meine Songs auf den Kern zu reduzieren."
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