Gaesteliste.de Internet-Musikmagazin



SUCHE:

 
 
Gaesteliste.de Facebook Gaesteliste.de Instagram RSS-Feeds
 
Interview-Archiv

Stichwort:



 
H.C. MCENTIRE
 
Instinktgeleitet
H.C. McEntire
"Every Acre" mag erst die dritte Solo-LP von H.C. McEntire sein, als Künstlerin hat die 41-jährige Amerikanerin aber schon einen weiten Weg hinter sich. Im College widmete sich die in North Carolina heimische Künstlerin dem kreativen Schreiben, später spielte sie in Punk-Bands und experimentierte mit Twee-Pop, bevor sie vor rund zehn Jahren mit dem Trio Mount Moriah zu einem erdigeren Americana-Sound und ihrer Bestimmung als clevere Geschichtenerzählerin mit einem besonderen Draht zu ihrer Südstaaten-Herkunft zurückkehrte. Ein Platz in Angel Olsens All-Star-Band machte dann Mitte des letzten Jahrzehnts den Weg frei für ihre ersten Alleingänge, ihr Solodebüt "Lionheart" im Jahre 2018 und das kurz nach Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 veröffentlichte "Eno Axis", auf denen sie die kunstvolle Seite des Indie-Rock mit Melancholie-getränkten Melodien in der Tradition von Folk und Country vereinte und dabei ihre seelenvolle Stimme besonders gut zur Geltung bringen konnte. Ihr Gespür dafür, die Verwirrung um Liebe und Bestimmung in Songs festzuhalten, die ebenso anrührend wie scharfsinnig sind, sorgt nun auch auf dem neuen Album für die besondere Note, wenn sie die Antworten für ihre existenzialistischen Fragen in einen größeren Zusammenhang jenseits der strikt persönlichen Perspektive sucht. Gaesteliste.de hatte die Freude, vor einigen Wochen mit Heather sprechen zu können.
GL.de: Heather, die Veröffentlichung deines letzten Albums fiel ausgerechnet mit dem ersten Lockdown der Pandemie zusammen. Kannst du den turbulenten Jahren, die hinter uns liegen, dennoch etwas Positives abgewinnen? Hast du vielleicht sogar etwas Lehrreiches daraus ziehen können?

Heather McEntire: Das ist eine gute Frage! Ich habe gelernt, besser damit umzugehen, allein mit mir zu sein. Vielleicht ist "besser" nicht das richtige Wort, aber ich tue es nun absichtsvoller und bin gegenwärtiger. Ich habe viel über Dankbarkeit, besonders die Dankbarkeit für mein Umfeld gelernt, für meine Freunde, meine Familie und die Menschen, die mich inspirieren. Ja, ich konnte eine Weile nicht arbeiten, aber ich habe dieses großartige Label hinter mir, das jetzt schon zwei Alben von mir während der Pandemie herausgebracht hat. An Musik zu arbeiten war ein Segen, um das Ganze spirituell wie persönlich durchzustehen. Auch wenn wir noch nicht völlig über den Berg sind: Es war sehr produktiv für mich, Kunst erschaffen zu können und mit meinen Leuten hier zusammenzuarbeiten.

GL.de: Hat die Pandemie deine Sicht auf dein Verständnis von "Zuhause" verändert?

Heather McEntire: Nun, um ehrlich zu sein, mein neues Zuhause ist noch sehr neu für mich. Es ist wunderschön und hat ein Gewächshaus und eine Werkstatt und ich habe ein Studio, aber ich habe noch nie in etwas so Modernem gelebt, hier gibt es sogar eine Zentralheizung! Das ist ein Segen, aber gleichzeitig muss ich mich hier immer noch eingewöhnen. Zuvor hatte ich ein besseres Gefühl für Zuhause, für Heimat. Ich habe fast zehn Jahre in demselben Bauernhaus gelebt, und das fühlte sich wie ein großer Teil meiner Identität an. Leider musste ich dort raus, und obwohl es nur einen Katzensprung entfernt ist, könnte die Umgebung nicht unterschiedlicher sein. Das Haus lag direkt an einem State Park und ich war irgendwie einfach von allem entrückt. Jetzt gewöhne ich mich langsam daran, an einer belebten Straße zu wohnen und zwei Mitbewohner zu haben, die genau wie ich in ihren 40ern sind (lacht). Aber ich denke, es gibt eine tiefere Antwort auf deine Frage, und ich muss ehrlich sagen, dass ich nach diesem Gefühl von Zuhause suche, und ich denke, es geht vor allem darum, mich selbst bei mir zu Hause zu fühlen. Dabei geht es nicht zuletzt um ein Gefühl der Geborgenheit. Nach vielen Jahren Therapie weiß ich, dass emotionale Sicherheit das Wichtigste ist. Zuhause ist ein Ort, der mehr als ein Haus ist!

GL.de: Du hast gerade schon den Begriff "Identität" verwendet, ein Thema, das dir schon auf deinen ersten beiden Solowerken wichtig war. Im Info zum Album schreibst du, angelehnt an den Dichter und Mystiker Rumi, dass manchmal das, was du suchst, dich sucht. Gerade in Zeiten der Hashtags, die alles in klare Schubladen stecken, ein interessanter Gedanke!

Heather McEntire: Es ist solch ein scheinbar simpler Gedanke: "Was du suchst, sucht dich", aber ich habe ihn lange nicht beherzigt. In der Therapie bin ich dazu angehalten worden, den Satz aufzuschreiben und ihn mir an die Wand zu hängen, und plötzlich fühlte ich mich davon wirklich angesprochen: Sei einfach dein authentisches Selbst, oder zumindest so nah dran wie möglich, sei verletzlich und glaube fest daran, dass die Energie, die du ausstrahlst, auch auf dich reflektieren wird. An manchen Tagen fällt es mir leichter zu glauben, dass das stimmt, aber philosophisch gesehen möchte ich genau dort sein.

GL.de: Auch in deinem künstlerischen Tun kann man das spüren. Die ersten beiden Platten hörten sich an wie etwas, das du machen musstest, "Every Acre" klingt dagegen (noch) absichtsvoller und verfolgt dabei einen breiteren Ansatz. Darf man das so sagen?

Heather McEntire: Ich kann dir nicht genau sagen warum, aber ja, in der Aussage kann ich mich wiederfinden. Besonders bei der ersten Platte, "Lionheart", hatte ich das Gefühl, dass ich sie machen musste, vielleicht, um mich als Solokünstlerin zu beweisen oder einfach nur viele Leute stolz zu machen, die schon immer gesagt hatten: "Du solltest das allein machen!" Bei der neuen Platte habe ich versucht, so sehr "im Moment" wie möglich zu sein. Für gewöhnlich habe ich ein Konzept, bevor wir anfangen. Ich recherchiere und schreibe viel, um einen roten Faden zu finden, und den hatte ich dieses Mal nicht, als wir mit der Arbeit begonnen haben. Ich hab dem Prozess seinen Willen gelassen. Ich habe auch meiner Band viel Raum gegeben, das war etwas, das mir besonders wichtig war. Es gab einen Vertrauensvorsprung, weil wir bereits seit Jahren zusammenspielen, aber wir sind noch nie ins Studio gegangen, als nur die Hälfte der Songs für die Platte geschrieben war. Ich denke, es gibt bestimmte Instinkte, auf die man zurückgreifen kann, wenn man sich in diese Position versetzt, und in diesem Sinne fühle ich mich dieser Platte sehr verbunden. Sie fühlt sich für mich auf eine Art und Weise sehr persönlich an, die für viele Leute vielleicht nicht offensichtlich ist. Ich schreibe nicht über meine Sexualität, ich schreibe nicht über mein Narrativ oder was auch immer. Dennoch schreibe ich für mich und versuche, dem, was ich sehe, einen Sinn zu geben, und zwar mit einem, so wie du es genannt hast, breiteren Ansatz. Ich war auf der Suche nach einer universellen Verbindung.

GL.de: Du hast gerade das Vertrauen in den Prozess erwähnt. Ist das etwas, was dir nach mehr als einem halben Dutzend in verschiedenen Zusammenhängen entstandenen Platten leichter fällt?

Heather McEntire: Ja! Nach all den Jahren habe ich den Bogen raus, was Touring oder Aufnahmen, aber auch alle möglichen anderen Dinge angeht. Ich fühle mich ermächtigt, meine Vorstellung einer Klangsprache zu artikulieren und dabei ganz mir selbst zu vertrauen. Als ich die Platte abgeliefert habe, sagte Laura (Ballance) von Merge: "Weißt du, du triffst wirklich gute Entscheidungen!" Das hat mich tief berührt und mich sehr stolz gemacht, denn natürlich schaue ich zu Laura auf. Allerdings bedurfte es vieler Fehltritte und viel Wiederholung, um an diesen Ort zu gelangen, an dem ich meinen kreativen Entscheidungen nun voll vertraue.

GL.de: Du hast dich im College mit "Creative Writing" beschäftigt, und auch in deinen oft betont poetischen Songtexten scheint es bisweilen genauso um die Form als um den Inhalt zu gehen. Wie wichtig ist dir dieser Aspekt?

Heather McEntire: Er ist unglaublich wichtig, denn lange habe ich mich selbst vor allem als Songwriterin gesehen. Ich hätte nie gedacht, dass ich auch mal Musikerin werde. Anfangs hatte ich die Literaturwelt und das Verlagswesen vor Augen, aber letztlich nutze ich meinen Abschluss nun beim Songschreiben - oder zumindest sage ich das meinen Eltern (lacht). Wenn jemand die poetische Dynamik bemerkt, die Absicht und die Bildsprache, bedeutet mir das sehr viel, weil es für mich der wichtigste Aspekt in meinem Prozess ist. Ich schätze es, wenn Musiker in die Tiefe gehen und Dualität nutzen: Ja, es gibt eine Melodie, die wichtig ist, eine Darbietung, die wichtig ist, es gibt Akkordfolgen, aber es gibt auch Texte, und ich widme ihnen die meiste Zeit. Das fühlt sich für mich richtig an, und es ist schön, wenn das anderen auffällt.
GL.de: Dennoch ist "Every Acre" gerade auch klanglich sehr facettenreich. Auch musikalisch stellst du dich mit dem Album breiter, weniger spezifisch ausgerichtet als auf den beiden Vorgängern auf. Fast scheint es so, als sei in der neuen Platte all das verwoben, was dich musikalisch bislang in deinem Leben beschäftigt hat?

Heather McEntire: Das ist wirklich cool, dass das bei dir so ankommt. Ich glaube allerdings nicht, dass das mit Absicht passiert ist. Das gehört einfach zum Prozess, so ehrlich wie möglich zu sein, und deshalb spiegelt das Album auch klanglich meinen schillernden musikalischen Background wider. Ich bin nicht am Puls des musikalischen Geschehens, aber vermutlich hat genau das dazu geführt, dass ich ohne klangliche Absicht losgezogen bin. Ich glaube, damit habe ich meine Kolleginnen und Kollegen in der Band zu Tode erschreckt, ich weiß, dass es so war, auch wenn sie das erst jetzt zugeben. Das war aber der Punkt: Ich wollte sehen, was passiert, wenn wir uns auf unsere Instinkte verlassen. Es stimmt, "Every Acre" ist keine Country-Platte, auch kein Psychedelic-Album und auch kein Folk. All diese Elemente finden sich aber darin wieder, sie sind gewissermaßen verwoben wie in einem Quilt.

GL.de: In Zeiten, in denen immer mehr Künstlerinnen und Künstler von Platte zu Platte komplette Kehrtwendungen machen, sei es auf der Suche nach Erfolg oder weil sie unsicher sind, wo ihr Weg sie hinführen soll, machst du lieber kleine Schritte und bleibst dir so selbst treu.

Heather McEntire: Ja, ich mache kleine Schritte, das ist sehr treffend ausgedrückt, denn genau so fühlt es sich für mich an. Das Ganze ist wie eine Reise, und ich versuche den Punkt der Reise, an dem ich mich gerade befinde, so ehrlich wie möglich zu beschreiben. Bei den Künstlerinnen und Künstlern, die ständig Kehrtwendungen machen, frage ich mich oft, was sie dabei zu finden versuchen. Vielleicht ist es ein Experiment, vielleicht haben sie etwas zu beweisen, vielleicht geht es wirklich vor allem um Popularität? Ich kann verstehe, dass man von seinem Umfeld und dem, was dort kreativ passiert, beeinflusst und inspiriert wird, unabhängig davon, ob man das absichtlich zu einem Teil seines eigenen Prozesses macht. Vielleicht habe ich auch einfach das Glück, nicht so von Businessgedanken geleitet zu sein. Vielleicht wäre es anders, wenn ich auf einem anderen Level unterwegs wäre, aber ich habe noch nicht einmal ein Management und Merge hält in kreativen Dingen immer die Füße still. Ich höre allerdings schon auf die Menschen, die sich mit meiner Musik auseinandersetzen und mir sagen, was sie mögen. Letztlich fühlt es sich für mich einfach gut an, auch künstlerisch eine gewisse Art von Konstanz zu haben.

GL.de: Heather, es war eine Freude mir dir zu sprechen, ganz zum Schluss noch die Frage: Was macht dich gerade als Mensch und Musikerin besonders glücklich?

Heather McEntire: Um ehrlich zu sein, habe ich persönlich eine ziemlich schwere Zeit durchgemacht. Das vergangene war wahrscheinlich das härteste Jahr meines Lebens. "Glücklich" ist für mich im Moment ein Wort, mit dem ich mich nicht wirklich identifizieren kann. Ich versuche, die kleinen Freuden in meinem Leben zu genießen. Eine Platte herauszubringen und in der Lage zu sein, mit jemandem wie dir darüber tiefgründig zu sprechen, das bringt mir viel Freude. Ich bin auch sehr glücklich über meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, denn es macht mir viel Spaß, mit ihnen gemeinsam Musik zu machen.
Weitere Infos:
www.hcmcentire.com
www.twitter.com/hcmcentire
www.instagram.com/hcmcentire_music
hcmcentire.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Heather Evans Smith-
H.C. McEntire
Aktueller Tonträger:
Every Acre
(Merge Records/Cargo)
jpc-Logo, hier bestellen

 
 

Copyright © 1999 - 2024 Gaesteliste.de

 powered by
Expeedo Ecommerce Dienstleister

Expeedo Ecommerce Dienstleister