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Interview-Archiv

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NATALIE MERCHANT
 
Das Feuer der Poesie
Natalie Merchant
Ganze neun Jahre sind vergangen, seit Natalie Merchant 2014 ihr letztes - selbst betiteltes - Album mit eigenem Material veröffentlichte. Natürlich hat sie seither nicht aufgehört, musikalisch tätig zu sein - und hat beispielsweise ihr Album "Tigerlily" mit Orchesterarrangements neu eingespielt, das Album "Butterfly" mit ebenfalls neu orchestrierten Versionen älterer Songs aufgelegt und ein Boxset ihrer gesammelten Alben und ein dazugehöriges 80-seitiges Buch kuratiert. Nur neue Songs hat sie lange Zeit nicht geschrieben. Das hatte viele Gründe: Natalie engagierte sich politisch und sozial - etwa indem sie Jahrelang als Kunsterzieherin für junge Kinder arbeitete. Sie wollte auch Zeit mit ihrer Tochter verbringen - was in der Pandemie dann auch darauf hinauslief, dass sie mehrere Jahre zusammen lebten - und sie musste sich schließlich einer Operation am Rückgrat unterziehen, die sie in der Folge stark einschränkte. Es war dann eine transatlantische Konversation mit dem schottischen Poeten Robin Robinson, der ihr sein Buch "The Long Take" zugeschickt hatte und mit Natalie über das Wesen des Schreibens diskutierte, die sie dazu inspirierte, wieder eigene Texte zu schreiben, die sie dann als Grundlage für neue Songs hernehmen könnte. Kein Wunder also, dass ihr nun vorliegendes neues Album "Keep Your Courage" in jeder Hinsicht auch etwas üppiger ausgefallen ist.
Was hat sich denn als treibende Kraft hinter Natalies Musik im Gegensatz zu früher verändert? "Ich denke, dass es schon lange her ist, dass ich Musik machen musste - einfach weil das mein Job war", überlegt Natalie, "es ist also etwa 25 Jahr her, dass ich das letzte Mal eine LP wirklich machen musste. Heutzutage mache ich Musik einfach um meine geistige Gesundheit zu bewahren. Insbesondere während des Lockdowns war das ein wirklich wichtiges Werkzeug in dieser Hinsicht. Und dann wollte ich natürlich auch feiern, dass ich wieder meine Hand verwenden konnte und wieder eine Stimme hatte, die ich in Folge einer Operation an meinem Rückgrat verloren hatte. Und dann noch etwas: Ich stand in Kontakt mit einem schottischen Poeten namens Robin Robinson, der mir ein Buch mit poetischer Prosa namens 'The Long Take' geschickt hatte. Wir haben uns über den Ozean hinweg hin und her geschrieben und uns über das Schreiben als solches unterhalten - und auch darüber, wie es ist, nicht zu schreiben und was Inspiration bedeutet. Robins Poesie war dabei so inspirierend für mich, dass sie in mir das Feuer entfacht hatte, wieder schreiben zu wollen. Denn die Art, in der er seine Sprache verwendet, ist so kraftvoll, dass sie mich daran erinnerte, wie sehr ich es eigentlich liebe zu schreiben. Ich habe dann wieder damit angefangen und Robert hat mich dabei ermutigt. Dabei habe ich seiner Meinung als Dichter seines Kalibers und als erfahrener Lektor mehr vertraut als der durchschnittlichen Person. Letztlich hat mich das aufgeweckt und mir verdeutlicht, dass ich ja tatsächlich auch eine Autorin bin und das auch mit Mitteln der Musik realisieren kann." Natalie scheint dabei als Songwriterin ja grundsätzlich an ganz anderen Dingen interessiert zu sein, als viele ihrer zeitgenössischen Kolleg(inn)en. So sucht sie sich immer wieder Aphorismen aus der Mythologie, der Folklore oder aus der Geschichte um ihre Gedankenwelt zu präsentieren. "Definitiv", bestätigt Natalie, "ich frage mich zum Beispiel, ob ich die einzige Person bin, die einen Song über Walt Whitman geschrieben hat." Dabei bezieht sich Natalie auf den Track "Song Of Himself". "Ja, denn Walt Whitman begleitet mich schon eine ganze Weile", führt sie aus, "besonders während der Pandemie und des Aufstandes am Kapitol habe ich mich Walt Whitman zugewendet - einfach weil er so viel Vertrauen in das amerikanische Projekt hatte. Und das, obwohl er in der Zeit des Bürgerkrieges lebte. Er lebte dabei ein sehr intimes Leben - indem er Soldaten betreute und über den Krieg berichtete. Er hat drei Jahre lang in Krankenhäusern in Washington ausgeholfen. Er ist von Philadelphia nach Washington gekommen. weil sein Bruder verwundet war und er sich um ihn kümmern wollte. Er hat dann schließlich drei Jahre lang die Soldaten betreut - immer mit dem intimen Verständnis dafür was passiert, wenn eine Gesellschaft geteilt wird und dann aufeinanderprallt. Aber er hat bis zu seinem Tode daran geglaubt, dass wir irgendwann unser amerikanisches Versprechen einlösen würden." Ein anderer Track, der heraussticht, ist "Hunting The Wren" - ein Song, der de Anmutung einer klassischen Folklore-Ballade hat. "Ja, fühlt sich das nicht so an?", fragt Natalie ganz begeistert, "das ist der einzige Song, den nicht nicht selbst geschrieben habe, sondern Ian Lynch und seiner Band Lankum. Ich liebe die Grimmigkeit und die Trostlosigkeit dieses Stückes." "Wren" heißt übersetzt "Zaunkönig". Es geht in dem Stück indes nicht wirklich um Vögelchen, oder? "Nein - es geht um irische Frauen, die im sich mit britischen Soldaten einließen und deshalb zu Ausgestoßenen deklariert wurden. Einige wurden zu Ehefrauen der Soldaten, andere Prostituierte - einige hatten ihre Familien während der großen irischen Hungersnot verloren und haben dann diesen Lebenswandel einem Schicksal im Arbeitshaus vorgezogen. Ich liebe die einfache Sprache dieses Songs, die aber sehr kraftvoll ist. Ich habe den Song zu Ian geschickt, nachdem ich ihn aufgenommen hatte und ihm gefällt meine Version. Ich war besorgt, weil die Lankum-Version so brutal ist. Der Grund, warum ich den Song aufgenommen habe, war nämlich der, dass ich die Geschichte etwas sanfter und schöner erzählen wollte. So richtig schön ist das natürlich immer noch nicht - aber es gibt da diese Anmut und Kraft, die dieser Geschichte innewohnt." Natalies Version ist ja auch zugänglicher, so dass sich der Hörer leichter mit der Geschichte identifizieren kann. "Ja - aber man versteht trotzdem, dass es sich um ein düsteres Thema handelt", meint Natalie und kommt dann wieder ins Schwärmen, "ich liebe die Produktion. Es gibt darin viel Stille und wenn dann ein Drummer eine Snare-Drum im Hintergrund spielt, während ich über Soldaten und ihre Musketen in ihren Baracken erzähle, dann macht das schon was. Und wenn im Mittelteil alles anschwellt, dann ist das schon sehr cinematisch. Ich dachte an ein Schlachtfeld am Tag danach. Da fällt ein schwarzer Regen während des ganzen Liedes."
Natalie Merchant
Das übergreifende Thema von "Keep The Courage" ist das Thema Liebe, das sich für Natalie eher im Rückblick gebildet hatte, als sie feststellte, dass das Wort "Liebe" ganze 26 Mal in den neuen Lyrics auftauchte. Der Titel des Albums (und das Motiv der Jeanne D'Arc auf dem Cover) ergab sich dann aus dem Umstand, dass das Wort "Courage" in seinem Wortstamm das lateinische Wort für "Herz" - also "Cor" - enthält. Und das Herz ist in poetischer Hinsicht ja nun mal der Sitz der Liebe. "Love Will Live - Love Will Conquer All" heißt deswegen dann auch die letzte Zeile im letzten Song des Albums "The Feast Of Saint Valentine" - während das Sinnbild der Jeanne D'Arc für den Aspekt des Mutes steht. Worin sieht Natalie aber ihre Aufgabe als Künstlerin in politischer Hinsicht? In einem Interview sagte sie ein Mal, dass sie politische Themen am liebsten über persönliche Details angehe. "Ja, das habe ich immer schon so gemacht", bestätigt sie das noch ein Mal. "ich habe mich aber noch nie als politische Songwriterin gesehen, denn ich schreibe eher soziale Kommentare. Oft habe ich das gemacht, indem ich Charaktere erschaffen habe, aus deren Perspektive ich dann die Kräftestrukturen diskutierte, die deren Leben beeinflussten. Nimm zum Beispiel den Song 'Poison In The Well'. Der Song handelt von der Gier der Industrie und der Unfähigkeit Verantwortung für das, was man getan hat zu übernehmen. Es ging dabei um die Verschmutzung von Wasser durch fahrlässige Unternehmen. Natürlich habe ich aber nicht gesungen 'oh die Unternehmen sind so fahrlässig' und so weiter, sondern ich habe von einer Familie erzählt, die ihr Wasser nicht mehr trinken kann - während man ihr erzählt, dass alles in Ordnung ist. Weißt du: Gerade eben erst ist in Ohio ein Zug entgleist und alle möglichen Chemikalien liefen aus und versuchten den Boden und ein Feuer mit giftigen Dämpfen brach aus - ohne dass jemand gewarnt worden wäre. Und nun erzählt man uns, dass alles in Ordnung und unter Kontrolle sei. Und alle wissen, dass es nicht stimmt."

Ein Stück auf der neuen Scheibe heißt "Tower Of Babel". Ist das ein versteckter politischer Kommentar unserer Zeiten? "So versteckt ist der gar nicht", meint Natalie, "es geht da definitiv um den Zeitgeist meines Landes. Wir leben ja durchaus in einer Zeit der Furcht und der Verwirrung - und viel dieser Furcht und Verwirrung entstand durch unsere Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren oder die Wahrheit erkennen und glauben zu können, wenn sie uns präsentiert wird. Wir kennen ja die Parabel von der Geschichte, dass die Menschen einen Turm bauen wollten, der in den Himmel reicht und von Gott ob dieser Anmaßung bestraft wurden, indem er sie alle verschiedene Sprachen sprechen ließ, damit sie nicht mehr miteinander kommunizieren und zusammen arbeiten konnten, um den Turm fertigzustellen. Weißt du: Manchmal vergleiche ich das Internet mit dem Turm zu Babel. Wir alle haben die Möglichkeit, die Wahrheit und alle Informationen zu finden - aber aus irgendwelchen Gründen ist immer alles verzerrt und wir teilen uns in verschiedene Stammeseinheiten auf, die alle immer nur ein Feedback für all die Desinformation und missverstandenen Vorstellungen ihrer eigenen Gruppe haben wollen. Wir bekommen so also immer und immer wieder die selben Missinformationen - bis wir sie schließlich glauben und suchen dann nach einer anderen Gruppe von Menschen, die genau dieselben Nicht-Wahrheiten glauben. Und dann stürmen wir das Kapitol und töten ein paar Leute. Das ist alles so fürchterlich."

Auf der musikalischen Seite überrascht "Keep Your Courage" mit einer betont reichhaltigen und üppigen Orchestrierung, zu der neben einen Streichquartett auch Holz- und Blechbläser gehören. Mit Bläsern hat Natalie ja noch nicht so oft zusammengearbeitet. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass Natalie sich Abena Koomson-Davis und ihren Gatten Steven - der als Jazz-Posaunist die Bläser-Arrangements schrieb - als Gäste eingeladen hat? "Nun, Abena und ihr Gatte kamen gemeinsam zum Projekt. Als ich Abena fragte, ob sie mit mir singen wolle, meinte sie, dass ihr Ehemann ein Jazz-Posaunist und Komponist sei. Er hat dann die Arrangements geschrieben. Er selbst ist ja Posaunist, kannte aber auch gute Saxophonisten und Trompeter. Jeder, mit dem ich zusammenarbeitete, brachte Jahre der Erfahrung an den Tisch. Ich hatte also diese Jazz-Musiker und eine keltische Band und den syrischen Klarinettisten Kinan Azmeh, der gewisse Flexionen ins Spiel brachte, die anders geklungen hätten, wenn er aus Paris oder San Francisco gekommen wäre. Es kam da eine Menge musikalischer Geschichte ins Spiel." In der Tat hätten einige der Stücke ohne die opulenten Arrangements zumindest eine ganz andere Wirkung gehabt. Natalie selbst findet sehr schöne Worte für die Wirkung, die sie zu erzielen gedachte: "Wenn in 'Big Girls' die Bläser und die Streicher zusammen kommen und wir im Refrain singen 'hold on - hold on', dann klingt das, als wenn die Brust zerbirst und Tauben herausfliegen. Es ist wirklich riesig und ich mag das sehr."
Kommen wir aber noch ein Mal auf Abena Koomson zurück - mit der Natalie zwei Duette "Big Girls" und "Come On Aphrodite" singt. "Ich liebe Abenas Stimme und ihre Energie", führt Natalie aus, "ihr eigentlicher Beruf ist aber eine Professorin für Ethik. Sie tritt nicht oft als Musikerin auf - nur ein wenig mit ihrem Chor 'Resistance Revival Chorus' auf. Ansonsten hat sie einen Master-Abschluss als Lehrerin - und hat insofern einen geregelten Beruf. Aber wegen ihrer Intelligenz, ihrem Einfühlungsvermögen und ihrem Geschichtsverständnis betrachte ich sie als gute Freundin und habe viel von ihr gelernt. Es ging nicht darum, einfach eine Gastsängerin einzuladen. Es gibt da diese spezielle Chemie zwischen uns und eine schwesterliche Verbundenheit."

Es gilt nun abzuwarten, wie sich die lange Pause auf die musikalische Kreativität Natalies langfristig auswirken wird. Dem Vernehmen nach sieht es aber nicht schlecht aus: In Kürze wird Natalie mit dem neuen Album auf Tour gehen - aber auch weitere Projekte sind bereits angedacht. So plant Natalie ein Album mit vertonten italienischen Gedichten - die sie auch auf italienisch singen wird - und ein Projekt mit Mitgliedern des Chicago Symphony-Orchestra, bei dem es darum geht, Kinderlieder, die Natalie während ihrer Arbeit als Kunsterzieherin geschrieben hatte, mit Kindern im Rahmen eines Theaterprojektes aufzuführen. Kurzum: Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir erneut neun Jahre auf ein musikalisches Lebenszeichen von Natalie Merchant warten müssen.
Weitere Infos:
www.nataliemerchant.com
www.facebook.com/nataliemerchant
www.instagram.com/nataliemerchant
www.youtube.com/@NatalieMerchantVideo/videos
Interview: -Ullrich Maurer-
Fotos: -Shervin Lainez-
Natalie Merchant
Aktueller Tonträger:
Keep Your Courage
(Nonesuch Records/Warner Music)
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