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CHERRY GLAZERR
 
Songs mit Sinn und Wahrheit
Cherry Glazerr
"In gewisser Weise ist heute vieles leichter, aber gleichzeitig bin ich heute auch viel analytischer”, erwidert Clementine Creevy beim Video Call mit Gasteliste.de auf die Frage, was den größten Unterschied zu ihren DIY-Anfängen vor zehn Jahren ausmacht. Die Musikerin aus Los Angeles ist gerade einmal 26 Jahre alt, trotzdem ist "I Don't Want You Anymore", das neue Album ihrer Indierock-Band Cherry Glazerr, bereits ihr viertes. "Heute denke ich viel öfter: Diese Tournee wird Geld einbringen, dies und das muss ich tun, damit ich die Miete bezahlen kann. In den Anfangstagen habe ich an so etwas nicht gedacht. Da hieß es einfach: Wir haben einen Auftritt? Wie toll, auf geht's!", gesteht sie lachend, bevor sie ernster fortfährt: "Ich denke, ich bin jetzt eine bessere Künstlerin, und die Musik ist besser, weil ich heute viel reifer bin. Ich habe das Gefühl, dass nun alles ständig besser wird. Ich bin jetzt viel eher in der Lage, in meiner Musik die Gefühle auszudrücken, und ich höre, dass sich meine Musik weiterentwickelt hat."
Kein Zweifel: Clementine Creevy ist erwachsen geworden. War auf den ersten drei Platten ihrer Band bisweilen juveniler Spaß wichtiger als echter Tiefgang, hat die Amerikanerin die erzwungene Pandemiepause dazu genutzt, in ihrem Leben ein wenig aufzuräumen. In dieser Zeit der Selbstreflexion entstanden die Songs des neuen Cherry-Glazerr-Albums "I Don't Want You Anymore", auf dem sie angriffslustig die Möglichkeiten entdeckt und ihre Lieder auch klanglich so frei wie nie zuvor in alle erdenklichen klanglichen Richtungen jenseits des Indierock-Horizonts früherer Platten schubst und selbst vor unverschämt poppigen Momenten keine Angst hat. Sogar eine ungewöhnliche Kollaboration mit dem britischen Elektronik-Großmeister Kieran Hebden alias Four Tet hat es auf die Platte geschafft und unterstreicht so, dass Creevy zuletzt viel Inspiration aus Alternative House und Techno, schrägem Alt-Pop und immer wieder auch Beat-basierter Musik gezogen hat.

Tatsächlich schienen Cherry Glazerr nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums, "Stuffed & Ready", und den mitreißenden Konzerten, die folgten, nur noch einen Schritt vom ganz großen Durchbruch entfernt, aber diesen fehlenden Schritt konnte Creevy nicht mehr machen, weil ihr die Pandemie in die Quere kam. Trotzdem sieht Creevy die letzten Jahre nicht als verlorene Zeit an. Im Presseinfo heißt es, dass sie in dieser Phase ihr Leben genau unter die Lupe genommen hat. Was waren die wichtigsten Lektionen, die sie dabei gelernt hat? "Ich tendiere in Beziehungen dazu, mich selbst zu verleugnen und zu verlieren", antwortet sie nach kurzem Nachdenken. "Ich war in ein paar Beziehungen, in denen ich mich meinem Gegenüber zu sehr angepasst hatte. Mir wurde bewusst, dass ich mir Gedanken machen sollte, was bei mir falsch läuft, dass ich das ständig tue, mich in die Menschen zu verwandeln, die ich date. Inzwischen weiß ich, warum ich das getan habe, und ich habe gelernt, es nicht mehr zu tun: Es ging für mich einfach darum, Selbstbewusstsein aufzubauen. Dass mir das gelungen ist, lag sicherlich auch an der langen Zeit, die ich während der Pandemie allein verbracht habe."

Das neue Selbstverständnis hat auch in den Songs auf "I Don't Want You Anymore" tiefe Spuren hinterlassen. Mit Co-Produzent Yves Rothman (Yves Tumor, Blondshell, Amaarae) an ihrer Seite hüpft Creevy durch alle erdenklichen Genres, denn letztlich ist auf der neuen LP stilistisch alles erlaubt, was der Cherry-Glazerr-Vordenkerin gefällt. Das zeigt sie gleich zu Beginn der Platte, wenn mit der leisen Akustiknummer "Addicated To Love" und dem treibenden Synth-Pop von "Bad Habit" zwei Nummern aufeinanderprallen, die textlich wie klanglich die entgegengesetzten Enden eines breiten Spektrums abbilden. "Ich hatte diese Idee im Kopf, mich mit dieser Platte wirklich herauszufordern und an die Grenzen zu gehen, bis das perfekte Take aufgenommen war", verrät Creevy. "Yves hat mich manchmal 50, 60 Gitarrentakes machen lassen. Ich habe ihm gesagt: Alter, das ist doch bescheuert Das Take ist schon im Kasten! Aber er hat es mich wieder und wieder und wieder aufnehmen lassen, bis es sich wirklich richtig anhörte, bis wir das gewisse Etwas gefunden hatten. Er hat mich echt mürbe gemacht, aber ich mag diese Art der Produktion, weil du jeden einzelnen Moment für sich betrachtest und nicht darüber nachdenkst, ob daraus ein perfekt strukturierter Popsong wird, der sich gut im Radio macht. Yves ging es darum, in jedem Moment der Lieder Emotionen einzufangen, und dafür bin ich ihm sehr dankbar."

Das zeigt auch die wohlig düstere Single "Soft Like A Flower", die Creevy bereits als "an Evanescence moment" beschrieben hat. "Das war aus dem Zusammenhang gerissen, das habe ich so nie gesagt!", erklärt sie lachend. "Es ist schon lustig: Alles, was ich gesagt habe, ist, dass ein kurzer Part der Backing Vocals von meiner Bassistin Sami Perez und mir nach Evanescence klingt. Mehr habe ich nie gesagt! Allerdings muss ich zugeben, dass 'Bring Me To Life' ein toller Karaoke-Song ist. Ich war in New York, und dieses Mädchen hat das Lied bei einer Karaoke-Party gesungen und alle sind durchgedreht! Das war irrsinnig witzig!"

Das heimliche Highlight des Albums ist derweil der Song "Golden", eine Ambient-Nummer zwischen Jazz und Electro, mit der sich Creevy weiter von ihrem bisherigen Tun entfernt als je. "Der Song geht auf Four Tet zurück", verrät sie. "Ich hatte ihm ein wenig Musik geschickt, und wir entschlossen uns, zusammen an einem Track zu arbeiten. Er hat diesen kleinen Drum Beat beigesteuert und auch die Keyboard-Sounds hinzugefügt, und sobald er diese Grundlage geschaffen hatte, habe ich den Gesang in Angriff genommen. Es gibt eine Reihe verschiedener Versionen des Songs, die wir uns hin- und hergeschickt haben, und am Ende habe ich Synth und Gesang hinzugefügt, und das Lied zusammen mit Sami und ihrem Freund Spencer Hartling in ihrem Studio namens Wiggle World in Pasadena fertiggestellt. Es hat eine Menge Spaß gemacht, sich da reinzufuchsen und sich all diese verrückten Sachen dafür auszudenken. Wir sagten uns: Eigentlich ist das gar kein richtiger Song, aber lasst ihn uns trotzdem auf Album packen!"

Der Song unterstreicht, wie ernst es Cherry Glazerr mit ihrer "Anything goes"-Herangehensweise ist. Ihre letzte Tournee in unseren Breiten bestritt die Band noch in klassischer Power-Trio-Besetzung mit Gitarre, Bass und Schlagzeug, auf der neuen Platte dagegen finden sich gleich mehrere Songs, die mit sehr wenig oder ganz ohne Gitarre auskommen. "Wir sind nicht auf bestimmte Instrumente festgelegt", bestätigt Creevy. "Ich denke, in der Kunst darf man tun, was immer man will. Wenn es von Herzen kommt und das ist, was du willst, dann ist das cool. Ich liebe meine Fans und ich spüre auch schon eine gewisse Verantwortung für sie, trotzdem heißt das für mich nicht, dass ich mich in eine Schublade pressen lassen muss oder nicht die Musik machen kann, die ich machen will. Ich finde, man kann auch ohne Gitarren eine ähnliche Art von Energie erzeugen."

Doch obwohl Creevy bei der Produktion auf den Moment und jeden Song für sich konzentriert war, hat sie nie aus den Augen verloren, dass diese Lieder am Ende für ein Album bestimmt waren. "Wir hatten definitiv immer das Album im Hinterkopf, auch wenn das ob des ganzen Genre-Hoppings vielleicht schwer zu glauben ist", erklärt sie lachend. "Ich hatte Demos von 'Bad Habit' und 'Touch You WIth My Chaos', die klangen, als seien sie für ein anderes Album bestimmt, aber ich war wild entschlossen, alles im Produktionsprozess zusammenzuschweißen – und genau das haben wir auch getan."

In einem Interview vor zwei Jahren meinte Creevy, dass es ihr sehr eigenes Gespür für Melodien und Harmonien sei, das für den nötigen Zusammenhalt sorgen würde, selbst wenn sie sich stilistisch richtig austobt, doch wie ist das eigentlich bei den Texten? "Die Leute sagen immer wieder, dass Zorn, Sex und Tod meine Themen sind", erwidert Creevy. "Ich höre auch oft, dass ich viel vom Autofahren spreche, was witzig ist, weil das so ein typisches L.A.-Ding Ist. hier fährt nun mal jeder mit dem Auto, und deshalb wird das auch oft in meinen Texten erwähnt." So wie Creevy das formuliert, klingt es fast so, als wüsste sie selbst gar nicht so genau, worüber sie eigentlich schreibt, bis andere Leute sie über die Inhalte ihrer Songs aufklären? "Ja, das stimmt”, gibt sie zu. "Ich habe eine Freundin, die vor kleinen Kindern auftritt. Ich fragte sie, ob sie Cherry Glazerr für kinderfreundlich halten würde, und sie erwiderte: "Nein... nein! Es gibt keine Band, die für Kinder weniger geeignet ist! Alle deine Songs handeln davon, wie du dich nach jemandem verzehrst und die ganze Zeit geil bist." Sie lacht. "Was soll ich sagen? Sie hat recht! Offenbar denke ich wirklich nicht darüber nach, worüber ich schreibe. Was auch immer in meinem Herzen und in meinem Kopf herumschwirrt, bahnt sich einfach seinen Weg. Ich habe kürzlich eine Trennung durchgemacht, und als ich danach zum ersten Mal wieder das neue Album hörte, stellte ich fest, dass plötzlich alles einen Sinn ergab!" Sie lacht. "Als ich die Lieder schrieb, passierte alles unterbewusst, aber rückblickend merkte ich: Jedes einzelne Wort ergibt Sinn. Es hat wirklich klick gemacht."
Mit dem Album hofft Creevy nun den nächsten Karrieresprung machen zu können. "Mein Ziel im Leben ist, Kunst zu erschaffen, in der Sinn und Wahrheit steckt", sagt sie über Ihre Ambitionen. "Die Musik hat mir über vieles in meinem Leben hinweggeholfen, und deshalb hoffe ich, mit der neuen Platte möglichst viele Leute erreichen zu können. Ich glaube an dieses Album, und deshalb bin ich auch ziemlich nervös, weil ich so sehr hoffe, dass es den Leuten gefällt. Es wäre schon toll, wenn die Platte richtig groß wird, aber wenn nicht, ist das auch okay, denn ich habe etwas gemacht, auf das ich richtig stolz bin und das ich liebe."

Weitere Infos:
www.cherryglazerr.com
www.instagram.com/cherryglazerr
twitter.com/cherryglazerr
www.facebook.com/CherryGlazerr
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Maddie Rotman-
Cherry Glazerr
Aktueller Tonträger:
I Don't Want You Anymore
(Secretly Canadian/Cargo)
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