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ZACHARY CALE
 
Die Verheißungen des Unbekannten
Zachary Cale
"Ich habe das Gefühl der Isolation aufgegriffen", sagt Zachary Cale über sein neues Album, "Next Year's Ghost". "Ich beobachtete, wie die Welt in Echtzeit zusammenbrach, und ich denke, die Lieder spiegeln die Intensität dieser Zeit wider: die Unruhe, die Spaltung, die Angst." Entstanden während der ungewissen Zeit des Lockdowns der Pandemie, ist diese Momentaufnahme Zeugnis eines Lebens ohne Dringlichkeit in einem Zeitalter, das genau durch diese eigentlich allgegenwärtige Dringlichkeit gekennzeichnet ist. Eingespielt mit oft betont atmosphärischen, sanft fließenden Beiträgen von Shahzad Ismaily (Marc Ribot, Bob Dylan), Jeremy Gustin (The Ah, Delicate Steve, Okkervil River), Uriah Theriault (Woodsy Pride) und weiteren Gästen, ist "Next Year's Ghost" nicht nur wegen der Umstände, unter denen die LP entstand, ein ganz besonderes Album in der langen, wechselhaften Karriere des in Brooklyn heimischen Musikers. Hatte der 45-Jährige in der Vergangenheit stets die Gitarre zum Mittelpunkt seines klanglich stets abwechslungsreichen Schaffens gemacht, entstanden diese acht wohlig düsteren Lieder über die Zerbrechlichkeit und die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens am Klavier. Wie es dazu kam, wer ihn auf seinem Weg beeinflusste und welchen Stellenwert die Musik in seinem Leben hat - all das und mehr verriet Zachary Cale im Gaesteliste.de-Interview.
GL.de: Zachary, wo erwischen wir dich gerade und wie ist die Stimmung?

Zachary Cale: Ich bin zu Hause in Brooklyn, New York, und die Verheißung des Frühlings ist allgegenwärtig, auch wenn die Unruhen aufgrund des Versuchs der Polizei, die Anti-Kriegs-Proteste zu stoppen, wieder aufgeflammt sind. Es ist wirklich schwer, das mit anzusehen. Außerdem stehen die Wahlen vor der Tür, sodass es im Moment ein bisschen heiß und kalt zugleich ist. Es ist schön draußen, die Konzerte sind in vollem Gange, es gibt also eine Menge guter Energie, auch wenn es sich so anfühlt, als ob wir uns politisch wieder dem Abgrund nähern.

GL.de: Um mit etwas Allgemeinem zu beginnen: Welchen Zweck erfüllt die Musik in deinem Leben (und wie hat sie sich im Laufe der Jahre verändert)?

Zachary Cale: Sie lässt mich meine Mitte finden, durch sie steuere ich alles andere. Sie ist immer noch ein Stimmungsstabilisator und hilft mir, mein Leben im Griff zu behalten. Das Gleiche gilt für die Arbeit. Ich werde depressiv, wenn ich keine Arbeit habe. Musik ist eine dringend benötigte Routine, und ich glaube nicht, dass sich das im Laufe der Jahre für mich geändert hat. Ich habe allerdings nicht so viel Zeit für mein Tun als Solist aufgewendet, wie ich es gerne getan hätte. Das Leben kommt mir immer in die Quere, und ich muss ständig Platz für andere Dinge schaffen, aber im Moment gibt es viele verschiedene Projekte, die gleichzeitig laufen. In letzter Zeit habe ich viel Zeit mit einem neuen Projekt namens Vague Plot verbracht, das ich mit einigen engen Freunden gestartet habe. Wir haben kürzlich unser erstes Album "Crying In 9" veröffentlicht, und es wurde ziemlich gut aufgenommen. Wir sind gerade von einer kurzen Tour durch den Mittleren Westen zurückgekommen, und dann ist da natürlich noch "Next Year's Ghost". Das Album hatte ich bereits 2021 gemacht, also steht es schon eine Weile in den Startlöchern, aber solche Dinge brauchen Zeit. Deshalb habe ich mich in der Zwischenzeit dem nächsten Projekt zugewandt.

GL.de: "Next Year's Ghost" ist ein Album mit Songs, die am Klavier entstanden sind. Dein Wechsel zum Piano war anfangs allerdings weniger eine bewusste künstlerische Entscheidung, sondern etwas, das sich aus der Ungewissheit der Pandemie ergeben hat. Kannst du mir bitte erzählen, wie das alles angefangen hat und wie daraus Songs geworden sind und dann die Idee entstanden ist, eine Platte zu machen?

Zachary Cale: Als die Pandemie ausbrach, hatte ich gerade das Album "False Spring" angekündigt und konnte natürlich nicht auf Tour gehen, um das Album zu promoten. Wie jeder andere auch war ich ratlos, was ich tun sollte, und es war besonders frustrierend, dass das neue Album gerade dann herauskam, als der Lockdown begann. Wenn ich jetzt zurückblicke, scheint es, dass das Album bei den Leuten trotzdem gut ankam, vielleicht sogar noch mehr wegen der Pandemie. Zuerst habe ich versucht, mich auf die Musik zu fokussieren und zu Hause Gitarre zu spielen, aber es war so eine unruhige Zeit und NYC war besonders düster. Die ganze Welt verfolgte die Nachrichten aus New York, da wir der Ground Zero für die Ausbreitung der Pandemie in den USA waren. Ich glaube, wir sind alle ein bisschen verrückt geworden. Viele Leute, die ich kenne, verließen die Stadt und kamen nie wieder zurück. Einige zogen sich für ein Jahr in ein gemütliches Haus im Norden des Landes zurück. Ich habe die ganze verrückte Zeit durchgehalten. Die Stadt war menschenleer. Es war wie in einem Horrorfilm. Alles war so still, als hätte eine Art Zombie-Apokalypse die Bevölkerung dezimiert oder so. Man konnte die Vögel hören und es gab keinen Stau! Es war, als würde sich die Wildnis ihren Platz zurückerobern. Es war unheimlich. Ich begann Klavier zu spielen, um zu meditieren. Am Anfang war es eine beruhigende Sache, bei der ich mich ablenken und ganz locker spielen konnte. Das Klavier stand nicht in meinem Apartment, es war im Atelier eines Freundes untergestellt. Der Fußweg über die Überführung nach Red Hook wurde zu meiner Routine. Das hat mir die Gelegenheit gegeben, aus meiner Wohnung rauszukommen und für ein paar Stunden allein zu sein.

GL.de: Oft sagen Musikerinnen und Musiker, dass es ihnen viel Freude bereitet, sich einem Instrument zuzuwenden, mit dem sie nicht vertraut sind, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, zum Nullpunkt zurückzukehren und etwas von der Naivität und Unschuld zurückzubringen, die oft mit den Jahren verloren geht. Hast du das ähnlich wahrgenommen?

Zachary Cale: Ich bin mir nicht sicher, ob es so absichtlich war, aber ja, ich stimme zu, dass das Spielen eines Instruments, mit dem man noch nicht vertraut ist, die Möglichkeit eröffnet, nach Dingen zu greifen, auf die man normalerweise nicht abzielen würde. Es gibt viele glückliche Zufälle, wenn man zum ersten Mal mit einem Instrument anfängt. Das beeinflusste viele der musikalischen Entscheidungen auf dieser Platte. Als ich jung war, ging es mir mit der Gitarre genauso. Für mich ging es nur um Formen, nicht um die Theorie oder die Taktzahlen. Bei der Gitarre mache ich das immer noch, wenn ich alternative Tunings verwende. Es ist eine Möglichkeit, das Instrument neu zu erfinden. Außerdem glaube ich, dass ich etwas ausgebrannt war, was meine Beziehung zur Gitarre anging. Ich brauchte eine Pause. Damals hatte ich nicht das Gefühl, etwas Neues dazu sagen zu können. Das Klavier war etwas, an dem ich heimlich schon eine Weile herumgespielt hatte, also nutzte ich die Gelegenheit des Lockdowns, um mich wirklich darauf einzulassen und zu versuchen, damit zu komponieren.


GL.de: In der Vergangenheit haben wir erwähnt, dass du eine so starke Identität als Songwriter aufgebaut hast, mit der du deinem Tun unabhängig von Instrumentierung oder Produktion deinen Stempel aufdrückst. Trotzdem sei die Frage erlaubt: Inwiefern hat sich der Wechsel zum Klavier auf deine Herangehensweise beim Schreiben und Arrangieren dieser Songs ausgewirkt?

Zachary Cale: Beim Klavier hatte ich das Gefühl, dass ich sehr sparsam sein muss. Ich kann nicht auffällig oder schnell spielen. Ich war also gezwungen, auf eine einfachere Weise zu schreiben. Die Zeit hatte sich während des Lockdowns verlangsamt und die Musik sollte das widerspiegeln. Die Songs hatten schließlich diese elegische Qualität, fast wie ein Gebet, was dem Klavier sehr entgegenkam.

GL.de: Eine letzte Frage zum Thema Klavier: Wenn du das Wort "Piano" hörst - welche Künstlerinnen und Künstler fallen dir da zuerst ein?

Zachary Cale: Nina Simone. Was Solokünstlerinnen und -künstler angeht, ist sie unübertroffen. Sie ist nicht nur eine Virtuosin, sie beherrscht die Darbietung eines Songs. Bill Fay war ebenfalls ein ziemlich großer Einfluss für diese Platte. Er hat einen solch melodischen Stil! Seine Lieder haben auch eine elegische Qualität. Ich habe auch viel von Emahoy Tsege Miriam Gebru gehört. Nicht, dass ich so spielen könnte wie sie, aber die taktile und flüssige Art, wie sie spielt, ist sehr inspirierend. John Lennons erstes Soloalbum "Plastic Ono Band" ist für mich von großer Bedeutung. Das ist sein erster Versuch am Klavier. John Cales Album "Fear" ist ein weiteres. Dieses Album ist etwas Besonderes, denn es bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen traditionellem Singer-Songwriter-Klavier und avantgardistischem Feingefühl. Ich bewundere Jazzpiano, aber ich bin nicht annähernd in der Lage, mich da heranzuwagen: Bill Evans, McCoy Tyner und natürlich Thelonious Monk.

GL.de: Der vorab aus dem Album ausgekoppelte Song "Shatterstar" ist unglaublich lang und repetitiv und damit die perfekte Metapher für das, was wir alle während des Lockdowns gefühlt haben. Haben sich diese Songs ganz natürlich und organisch aus den Umständen entwickelt, oder hast du sie bewusst in diese Richtung geführt, um deinen Standpunkt zu verdeutlichen?

Zachary Cale: Ich würde sagen, es war ziemlich organisch. Ich versuche, nichts zu erzwingen. Was den Inhalt anbelangt, so weiß ich normalerweise nicht, was ich schreibe, wenn ich es tue. Ich folge dem roten Faden und setze die Dinge dann zusammen, wenn sie anfangen, Form anzunehmen. Songs sind wie Puzzles. Man bekommt ein paar Teile (in diesem Fall einen Schlüsseltext oder eine ganze Strophe), und dann muss man die fehlenden Teile finden. Oft dämmert es mir erst Monate nach dem Schreiben und Aufnehmen, worum es in einem Song geht. Wenn ich diese Lieder jetzt höre, denke ich an die Menschen, die es nicht geschafft haben. Ich habe in dieser Zeit ein paar Menschen verloren und fühlte mich selbst ziemlich verloren. Die Lieder haben mir geholfen, meine Mitte zu finden.

GL.de: Auf "Next Year's Ghost" begleitet dich eine Reihe Musiker, mit denen du noch nie zusammengearbeitet hast, darunter Jazz-Größe Shahzad Ismaily, dem auch das Studio gehört, in dem die Platte aufgenommen wurde. Was konntest du aus dieser Zusammenarbeit ziehen?

Zachary Cale: Shahzad spielt mit einer gewissen Emotion, die man selten findet. Bei ihm geht es nur um die Performance. Man probt nicht mit ihm. Er reagiert jedes Mal anders auf das, was du ihm vorgibst. Die Spontaneität dieses Ansatzes ist unglaublich erfrischend. Es ist auch nichts für schwache Nerven. Man muss furchtlos sein. Er geht große Risiken ein, aber ich habe ihn noch nie straucheln oder den Faden verlieren sehen. Es ist, als wüsste er genau, wie die Musik läuft, bevor er sie überhaupt hört. Es ist unheimlich. Ich nehme an, dass es vielen Jazzmusikern so geht. Es geht nicht um die Noten, sondern darum, wie man sie einsetzt und platziert. Es geht nur um Gefühl und Intuition.
GL.de: Auch wenn Ruhm und Reichtum nicht unbedingt eine treibende Kraft für dich sind, aber erlaube uns bitte trotzdem zu fragen: Was erhoffst du dir von diesem Album und was wird die Zukunft bringen?

Zachary Cale: Die Platte ist anders und sollte aus meinem Werk herausstechen, aber das sage ich wahrscheinlich über jedes neue Album, das ich mache. Ob es bei den Leuten ankommt oder nicht, wird sich zeigen. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, Erwartungen zu haben. Für mich ist es lediglich eine weitere Ebene, die ich der Welt, die ich aufgebaut habe, hinzufügen kann. Ich hoffe, die Leute mögen es. Ich hoffe, dass es mehr Interesse an meiner Arbeit wecken wird.

GL.de: Eine letzte Frage: Was macht dich im Moment als Musiker am glücklichsten?

Zachary Cale: Einfach, dass ich weitermachen kann. In der Gegend um New York gibt es heutzutage eine gute Gemeinschaft, und das allein bringt schon eine Menge Energie in mein Schaffen. Ich freue mich immer auf das nächste Ding. Die Verheißungen des Unbekannten sind das, was mich glücklich macht.
Weitere Infos:
zacharycale.com
www.facebook.com/zacharycalemusic
twitter.com/zacharycale
www.instagram.com/zachary_cale
zacharycale.bandcamp.com
Interview: -Carsten Wohlfeld-
Foto: -Alfra Martini-
Zachary Cale
Aktueller Tonträger:
Next Year's Ghost
(Org Music)
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