Auf den ersten Blick ist es eine Erfolgsgeschichte alter Schule: Nach einem ersten Ausrufezeichen mit ihrer kurz vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie erschienenen Debüt-EP "Take Control" ernten The Mysterines für ihre erste LP im Frühjahr 2022 überall hymnische Kritiken, stürmen in der englischen Heimat auf die vordersten Plätze der Charts und gehen danach auf eine lange, lange Tour, die sie auch nach Europa und nach Amerika führt und auf der sie sich am Ende sogar in den größten Venues der britischen Insel als Support der Arctic Monkeys wiederfinden. Praktisch aus dem Stand können sie so ganz viele Träume von der Bucket List streichen, die für viele andere Acts selbst nach Jahren oder Jahrzehnten unerfüllt bleiben. Trotzdem ist es Lia beim Zoom-Call mit Gaesteliste.de wichtig zu unterstreichen, dass für sie Erfolg nicht unbedingt in den heute gängigen "Größer, schneller, weiter"-Kategorien gemessen wird. "Wenn ich ehrlich bin, die 'Kneif mich, ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert'-Momente waren nie materialistisch", sagt sie. "Erfolg ist für uns, wenn wir etwas erschaffen, auf das wir stolz sind. Wenn man das erreicht, kommt alles andere von allein. Viele Platten zu verkaufen oder auf Tour mit den Arctics zu gehen, ist natürlich toll und wir sind sehr dankbar dafür, aber der wahre Erfolg kommt von innen."
Die Sängerin, Gitarristin und Songwriterin mag wie ihre Mitstreiter, Bassist George Favager, Gitarrist Callum Thompson und Schlagzeuger Paul Crilly, erst Anfang 20 sein, aber die Musik spielt schon lange eine wichtige Rolle in ihrem Leben - nicht zuletzt deshalb, weil ihr Vater Andrew einst als Frontmann der Band Sound Of Guns aktiv war. Doch hat das Lia besser auf ihren Einstieg in die Musikindustrie vorbereitet als all die anderen Newcomer, die sich dem Business womöglich allzu naiv nähern? "Ich denke, durch meinen Vater habe ich schon sehr früh im Leben mitbekommen, was es braucht, um seine Ziele zu verfolgen", antwortet sie. "Aber auch wenn er einen ähnliche Karriereweg hatte, habe ich das Gefühl, dass ich die Sache trotzdem mit einer gewissen Naivität angegangen bin, zumal er sich auch nicht groß eingemischt hat. Ich respektiere ihn als Künstler, aber am Ende des Tages ist er vor allem auch mein Vater. Vater und Musiker, das ist fast so, als seien das zwei verschiedene Menschen."
Dennoch war die Musik schon in frühen Jahren eine Konstante für sie, aber auch für ihre Bandkollegen. "Wenn man in Liverpool aufwächst, ist das praktisch unausweichlich, weil man angesichts der Musikhistorie hier ständig von Musik umgeben ist. Musik spielt eine große Rolle in unserem Leben, und sie spielt eine große Rolle dabei, was uns ausmacht. Die Musik IST mein Leben, da gibt es keine klare Trennung zwischen dem Privaten und der Musik als Karriere. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sie jemals aus meinem Leben verschwinden wird."
Vielleicht auch deshalb klingt "Afraid Of Tomorrows" weniger wie ein Album, mit dem das Tor zum Pop-Himmel mit Gewalt aufgebrochen werden soll, sondern eher wie eine Platte, die den Mysterines den Weg zu einer langen, fruchtbaren Karriere eben soll. Den lärmenden Grunge-Rock ihren Debütalbums tauschen die vier dafür gegen einen wandelbaren, oft hymnischen Sound ein, mit dem sie im Dunstkreis der Tugenden des Alternative Rock der letzten 30 Jahre düster gestimmte Texte in ebensolche Töne hüllen und dabei weniger auf große Hooks und eingängige Singalongs setzen, sondern eher ihre Psychedelic- und Alternative-Einflüsse in den Fokus rücken, um eine intime Verbindung zu ihrem Publikum herzustellen. "Ich bin immer froh, wenn wir Leute mit unserer Musik erreichen können, denn dafür ist die Musik ja da, und das ist auch der Grund, warum ich selbst Musik höre", erklärt Lia. "Sie gibt dir die Chance, dich selbst durch die Gedanken anderer, durch ihre Sicht des Lebens, besser zu verstehen. Für mich ist das der wichtigste Grund, überhaupt kreativ sein zu wollen. Diese Verbindung ist eine wirklich große Sache für mich. Natürlich ist es toll, wenn du etwas machst, über das die Leute reden, aber was sie denken oder sagen, spielt für mich keine große Rolle. Es geht ausschließlich darum, dass sie sich angesprochen fühlen - das ist das, was wir wirklich wollen."
Auf "Afraid Of Tomorrows" widmet sich Lia verschlungenen Geschichten und literarischen Anspielungen und findet dabei immer wieder überraschende Blickwinkel, aus denen sie die oft, aber nicht ausschließlich autobiografisch inspirierten Inhalte ihrer Songs beleuchtet. "Ich suche in meinen Texten nach nichts Bestimmtem", sagt sie. "Oft weiß man gar nicht, wann es einen trifft, und nicht selten handelt es sich dann um völlig unspezifische Dinge. Aber genau das ist ja das Magische daran! Tom Waits zum Beispiel war schon immer eine große Inspiration für mich, aber gerade seine unsinnigsten Texte packen mich bisweilen am meisten. Oft hat die Bedeutung einer Textzeile ja auch viel damit zu tun, wie man sie rüberbringt. Ich finde allerdings, dass Texte provokant sein und Emotionen transportieren oder die Fantasie ankurbeln sollten. Mark Linkous von Sparklehorse zum Beispiel hat es immer geschafft, externe Bilder und Visuals zu verwenden, um Gefühle zu erzeugen, und auch ich habe mich beim zweiten Album genau darauf konzentriert."
Zu ihren größten Einflüssen und liebsten Texterinnen und Textern zählt Lia Leonard Cohen, Bob Dylan und Adrianne Lenker ("Ich finde sie absolut unglaublich und ich glaube, dass sie so etwas wie der Leonard Cohen unserer Ära werden wird!", sagt sie), und deshalb ist es kein Wunder, dass sie auf dem zweiten Album auch textlich spürbar tiefer eintaucht als zuvor und dabei Inspiration nicht zuletzt in den eher düsteren Momenten des Lebens findet. Zum einen, weil sie weiß, dass sich die dunklen Gedanken oft leichter in packenden Songstories einfangen lassen, aber zum anderen auch, weil sie sich selbst dieses Mal tiefer in die Karten schauen lässt. "Die neue Platte ist durch mehr Zerbrechlichkeit gekennzeichnet und viel persönlicher", gesteht sie. "Es war nicht so, dass ich es darauf angelegt hätte, eine persönlichere Platte zu schreiben, aber das war die einzige Möglichkeit, all das hinter mir zu lassen, was mich beschäftigte. Es war eine Methode, um zu überleben."
In den Songs thematisiert Lia Drogenmissbrauch und was das mit ihr gemacht hat. Sie singt von Paranoia und der Angst vor der Zukunft, von der Ungewissheit, nicht zu wissen, was passieren wird. Dabei bildet sie ihre Gefühle stets ungefiltert ab. Manchmal ging sie dabei fast ein wenig verloren in den dystopischen Bildern, die sie in den Texten malte. Den Titelsong der Platte konnte sie sich deshalb nach den Aufnahmen kaum anhören. "Nun sehe ich das Lied eher als Zeitkapsel eines Moments, einer Phase, die ich durchgemacht habe", sagt sie in der Rückschau. "Inzwischen habe ich einen klareren Blick darauf. Jetzt habe ich Abstand zu der Welt von 'Afraid Of Tomorrows', und ich kann den Song performen, ohne zu sehr daran zu hängen."
Auch musikalisch ist "Afraid Of Tomorrows" bemerkenswert, denn The Mysterines widersetzen sich hier dem heute gängigen Trend, einem erfolgreichen ersten Album mit rauem DIY-Garagen-Charme auf der Suche nach größerem kommerziellen Erfolg eine Platte ohne Ecken und Kanten folgen zu lassen. Tatsächlich geht die Band den entgegengesetzten Weg und betont nun ihre schräge, seltsame Seite. Doch wie kam es dazu? "Wir wussten instinktiv, dass die Platte das widerspiegeln sollte, was für uns relevant war", antwortet Lia. "Wir wollten ehrlich sein, und dass wir in künstlerischen Belangen Kompromisse machen, wird eh nie passieren, weil wir die Musik mit so viel Leidenschaft angehen. Es war sicherlich keine bewusste Entscheidung zu sagen: 'Jetzt wird's richtig schräg!', aber wir haben das gemacht, was sich für uns am besten angefühlt hat. Genau das sollte man als Künstlerin oder Künstler tun!"
Dafür bereiteten sich The Mysterines dieses Mal akribischer auf die Aufnahmen vor. Hatte es bei "Reeling" noch zum Konzept gehört, ordentlich Raum für spontane Eingebungen im Studio zu lassen, verbrachte die Band dieses Mal viel Zeit damit, Demos von den neuen Songs zu machen, bevor es an die eigentlichen Aufnahmen ging. Unterstützt wurden Lia und die Ihren im Studio von Großmeister John Congleton, einem ausgewiesenen Experten für Platten zwischen Kunst und Kommerz, der in der Vergangenheit Acts wie St. Vincent, Angel Olsen oder Sharon Van Etten auf ihrem Weg zu höheren Zielen begleitet hatte. Lia selbst nennt allerdings eher Anthony And The Johnsons, Bill Callahan oder The Walkmen, wenn man sie fragt, welche von Congletons früheren Produktionen sie davon überzeugt haben, dass er der richtige Produzent für "Afraid Of Tomorrows" ist.
Nicht zuletzt, weil Congleton dort inzwischen lebt und arbeitet, wurde das Album in Los Angeles in seinem just eröffneten neuen Studio eingespielt, und auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht offensichtlich ist, entpuppte sich die Glitzer-Stadt als genau der richtige Ort, um die Stimmung einzufangen, die den Mysterines für das Album vorschwebte. "Los Angeles kann einem schon ziemlich schräg vorkommen, gerade wenn man wie wir aus Liverpool stammt", gesteht Lia, "ganz abgesehen davon, dass niemand von uns selbst Auto fährt und die Stadt ziemlich groß und bisweilen auch furchteinflößend ist. Aber in einer Stadt isoliert zu sein, die wir nicht besonders gut kannten, passte zu den Themen von Paranoia, um die sich die Platte dreht. In L.A. musst du nur einmal falsch abbiegen, und schon bist du mittendrin in diesen Szenarien. Wir haben uns in Los Angeles etwas verloren gefühlt, aber auf die gute Art, und das hat sich auch auf das Album niedergeschlagen."
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