Mit dem gerade einmal zwei Minuten langen Song "Find Me At The Bottom Of The Ocean" aus ihrer letzten EP war Nothhingspecial das gelungen, wovon viele andere ähnlich inspirierte Indie-Acts heute oft jahrelang vergeblich träumen. Der Song wurde weltweit millionenfach gestreamt und brachte Chrissie praktisch über Nacht unverhoffte Aufmerksamkeit und öffnete ihr viele Türen. Erstaunt hat Chrissie dabei nicht nur der Erfolg an sich, sondern auch, dass es ausgerechnet der Song "Find Me At The Bottom Of The Ocean" war, der ihr den Weg ebnete. "Das war tatsächlich der Song, bei dem ich dachte, dass er am wenigsten ankommen wird, weil man ihn am wenigsten einem bestimmten Genre zuordnen kann", erinnert sie sich im Gaesteliste.de-Interview. "Die anderen Songs waren alle eher so Alternative-Rock/Pop, also das, wofür mich die Leute um mich herum kannten. Ich dachte damals, dass 'Find Me At The Bottom Of The Ocean' wahrscheinlich nicht so gut gestreamt wird, doch dann kam es ganz anders. Ich war super happy und überrascht!"
Ihrem Ziel, die Musik zum Beruf zu machen, ist sie damit praktisch über Nacht einen ordentlichen Schritt nähergekommen, wenngleich die Idee schon etwas länger in ihrem Kopf herumschwirrt. "Ich habe schon ganz früh angefangen, Musik zu machen und mit 14, 15 dann meine ersten Songs geschrieben", erzählt sie. "Damals hatte ich gar keine Hintergedanken, ich habe das einfach gemacht, weil ich super viel Spaß daran hatte, weil das meine Leidenschaft ist. Als ich dann mit 17, 18 aus der Schule kam, habe ich mich gefragt, was ich mit meinem Leben machen will. Das Musikding hatte ich immer nebenbei verfolgt, aber irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich das Vollzeit beruflich machen will, dass ich anstreben will, davon leben zu können. Dann habe ich die EP geschrieben und sie releast und mir gedacht: Es wäre schon cool, wenn sich was ergibt, mal sehen, wo es mich hinführt."
Allerdings geht es ihr nicht allein um Erfolg im kommerziellen Sinne. "Ich habe mir tatsächlich viele Gedanken gemacht, gerade was das Thema Erfolg angeht und irgendwelche Milestones und Ziele", sagt sie. "Ich glaube, für mich ist einfach nur wichtig, dass ich gesagt habe, was ich sagen wollte, und Musik gemacht habe, die ich wirklich fühle und die mir Spaß gemacht hat. Es würde mich natürlich superdoll freuen, wenn es Menschen gibt, die diese Musik hören und damit was anfangen können, im Sinne von: Wenn sich jemand gehört fühlt oder inspiriert fühlt durch meine Songs, dann habe ich schon alles erreicht!"
Ihre erste EP schrieb und produzierte sie ganz allein und spielte kurzerhand auch alle Instrumente selbst ein. Bei ihrem Bandauftritt Anfang März in Köln spielte sie Bass in ihrem Trio, doch ihr Lieblingsinstrument ist eigentlich ein anderes. "Ich schwanke oft hin und her, aber am Ende des Tages wird das Klavier immer mein Lieblingsinstrument sein, weil ich damit angefangen habe und das mein erster Berührungspunkt mit Instrumenten und Songwriting war. Wenn ich mich ans Klavier setze, fühle ich mich immer sofort zu Hause." Ein wichtiger Wendepunkt für sie war, als sie die Band Twenty One Pilots für sich entdeckte und sich vom künstlerischen Credo des Sängers Tyler Joseph inspirieren ließ: "Er hat mich sehr motiviert, all meine Gefühle und Gedanken umzuwandeln in Kunst, etwas daraus zu machen und das Negative in etwas Positives umzuwandeln. Er hat auch viel über das Thema Lebenssinn gesprochen und dass man das alles selbst in der Hand hat und bestimmen kann. Ich weiß noch, dass ich wegen einem Song von denen mit 14 wieder angefangen habe, Klavier zu spielen, nachdem ich das in der Musikschule aufgegeben hatte, weil sich das so nach Hausaufgaben angefühlt hat. Als ich mich dann wieder ans Klavier gesetzt und angefangen habe, irgendwelche Akkorde zu spielen, und gemerkt habe, dass ich gerade dabei bin, selber aus dem Nichts etwas zu komponieren - das hat mich mit ganz vielen Gefühlen und einer positiven Energie überschwemmt. Das war ein unglaublich besonderer Moment für mich. Das hat mir gezeigt, dass das etwas ist, was ich stärker verfolgen sollte."
Mit ihrer just auf dem US-Label Don't Be Greedy erschienenen EP "Where Do You Wanna Go?" macht Nothhingspecial nun einen großen Satz nach vorn, zumal sich Chrissie für die Aufnahmen Unterstützung bei Produzent Luis Nussbauer holte, der ihr half, ihre Visionen so exakt wie nie zuvor in Töne zu übersetzen und das Beste aus sich herauszuholen. "Mir war wichtig, dass mein Sound rein von der Produktion, dem Mix und dem Masterring noch mal viel professioneller klingt, also dass man hört: OK, das hat jemand gemacht, der Ahnung hat", erklärt sie. "Die erste EP habe ich damals nur mit meinem Laptop, einem Focusrite-Interface und mir selbst in einer 20-Quadratmeter-Ein-Zimmer-Wohnung in Bonn aufgenommen. Ich hatte mir das alles selbst beigebracht und einfach nicht so viel Erfahrung, was Produktion, Mixing und Mastering und das alles angeht. Ich glaube, das hat man auch gehört. Ich habe das alles mit 10€-Kopfhörern intuitiv und nach Gehör abgemischt und ganz DIY aufgenommen. Das war aus der Not heraus, weil ich keine anderen Kontakte hatte oder Menschen kannte, die mir dabei helfen konnten. Da dachte ich: OK, dann mach ich das alles selbst!" Weil sie nun viel mehr Kontakte und Zugriff auf bessere Produktionsmöglichkeiten in einem richtigen Studio hatte, wollte sie diese neue Freiheit unbedingt auskosten.
Entstanden ist dabei ein mühelos eklektischer Sound im Dunstkreis des klassischen New-Wave-Pop der 80er und 90er, der zugleich aber auch widerspiegelt, dass Chrissie als Teenager auch Emo und Metalcore, Trap und Rap und EDM für sich entdeckte. Anders gesagt: In ihren Songs stecken so viele verschiedene Einflüsse, dass sie am Ende unvergleichlich und eigenständig sind und durch Chrissies oft herrlich dunkel klingende Alt-Stimme die besondere Note bekommen. Dass ihre Songs schon früher betont eindringlich klangen, liegt nicht zuletzt daran, dass die Lieder von Nothhingspecial vertonte Sinnsuche waren und sind. "Ich glaube, ich war früher ziemlich lost", gesteht sie. "Ich habe immer sehr viele große Fragen gestellt: Warum bin ich hier? Was ist meine Lebensaufgabe? Was ist mein Lebenssinn? Ich habe irgendwie immer nach Antworten gesucht und alles hinterfragt. Die Musik war für mich immer so ein Outlet, ein Ort, mit dem ich mich sehr verbunden gefühlt habe, zu dem ich eine richtig tiefe Verbindung hatte. Das ist irgendwie mein Place, hier fühle ich mich wohl, und das war irgendwie immer das, woran ich mich halten konnte."
Interessanterweise hat Chrissie nach der Schule ein Studium der Musikwissenschaften begonnen (aber nicht abgeschlossen), obwohl man immer wieder hört, dass zu viel Theorie gerade in Sachen Popmusik dem ungefilterten Ausdruck im Wege stehen kann. "Das ist ein superspannendes Thema, und ich kann das total nachvollziehen, denn eigentlich will ich mich von der Theorie distanzieren und kreativ und intuitiv meine Musik schreiben, ohne Regeln und Konstrukte und irgendwelche Tonleitern im Kopf zu haben", sagt sie. "Ich glaube aber, dass es mir geholfen hat, ein bisschen die Grundsysteme und Grundlagen der Musiktheorie zu verstehen, denn es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn du den Akkord benennen kannst, wenn du ein Gitarrenriff oder eine Akkordfolge spielst und nach den passenden Basstönen suchst. Generell habe ich aber keinen wirklich theoretischen Ansatz, was das Musikmachen angeht. Als ich das Studium angefangen habe, konnte ich noch nicht einmal Noten lesen und musste dann nebenbei so einen Aufbaukurs machen, für die Leute, die noch nicht so viel Ahnung von Musiktheorie hatten. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich das meiste wieder verlernt habe, gerade wenn es um irgendwelche Analysen geht. Ich konnte das drei Semester lang sehr gut, aber irgendwie hat es dann genauso schnell auch wieder meinen Kopf verlassen, gerade weil ich so eine intuitive Person bin."
Inhaltlich bleiben auch die Songs auf "Where Do You Wanna Go?" nah an Chrissies Leben und geben Einblicke in ihre düstersten Gedanken und Gefühle. "Ich glaube, dass meine Musik oft wie ein Tagebucheintrag aus meinem Leben ist", sagt sie. "Sie spiegelt dann einfach die Lebenssituation wider, in der ich mich gerade befinde oder in der ich mich zu dem Zeitpunkt befunden habe, als ich den Song geschrieben habe." Ein Beispiel dafür ist einer der heimlichen Hits der EP, der unwiderstehliche Indie-Pop-Ohrwurm "Catacombs", über den Chrissie bei der Veröffentlichung sagte: "Der Song verkörpert einen Ort, der sowohl mental als auch physisch voll von Widersprüchen ist. Widersprüche, mit denen ich ständig zu tun habe, und Widersprüche, denen wir alle täglich begegnen. Widersprüche, Ungewissheit und Zweideutigkeit. Willkommen in meiner Welt, oder zumindest, wie ich sie sehe."
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Glücklicherweise ist Chrissie auf dem Weg zu "Where Do You Wanna Go?" nicht der Versuchung erlegen, mit gängigen Majorlabel-Tricks eine Abkürzung zum ganz großen kommerziellen Erfolg zu nehmen, denn schnell wurde ihr bewusst, dass es ihr für die Musik von Nothhingspecial wichtiger war, authentisch zu sein. "Das habe ich vor allem in bestimmten Settings gemerkt, wo es darauf ankam, noch mal tief in mich reinzuhören und zu gucken: Will ich das eigentlich so oder bin ich jetzt verblendet, weil mir das irgendjemand sagt, der sehr viel Erfahrung hat und auch das Beste für das Projekt will - sei es jetzt Management, Studiokontext oder generell irgendwelche Stimmen von außen", sagt sie. "Ich habe beispielsweise auch Features abgesagt, obwohl die Artists supergroß waren und mir wahrscheinlich auch mehr Reichweite generiert hätten. Am Ende des Tages musste ich zu mir stehen und mir sagen: Eigentlich fühle ich den Sound nicht so. Warum sollte ich jetzt mit jemandem kollaborieren, den ich gar nicht so fühle, einfach nur, damit er mich in einem Song taggt und ich 100 neue Follower dazugewinnen kann oder irgendein Magazin über mich schreibt? Das ist es mir nicht wert! Da muss man sich dann immer wieder hinterfragen, weil man sich so schnell blenden lassen kann. Auf einmal kommen dann Leute, die sagen: 'Ja, ich bin bei Universal und ich kann das und das für dich auf die Beine stellen' oder: 'Mach das so, dann wird das erfolgreicher!' Ich höre auch oft: 'Mach doch Musik auf Deutsch, das funktioniert hier besser!'"
Gleichzeitig wurde Chrissie auch schon nahelegt, doch besser dem aktuellen Pop-Trend zu folgen und Songs lieber im Team als allein zu schreiben, anstatt ihrer alten Methode zu folgen, mit der sie als Teenager ganz allein in ihrem Zimmer ihre Gefühle und Gedanken zu Papier gebracht hatte. "Das war für mich ein komisches Konzept, als mir dann angeboten wurde: 'Hey, du kannst doch auch mit fünf Leuten, die du noch nie gesehen hast und auch nicht kennst, Songs schreiben, denn so entstehen heute Hits!' Das hat mich dann voll verunsichert, weil ich dachte: Reicht das, was ich mache, jetzt nicht mehr? Brauche ich jetzt noch fünf andere Menschen, die mit mir zusammen schreiben? Darüber hatte ich mal eine sehr intensive Diskussion mit jemandem und habe dann eine Playlist zusammengestellt mit Hits, die alle nur von dem Artist selbst oder der Band geschrieben worden sind, wo du dann siehst: Billie Eilish schreibt auch nur mit ihrem Bruder, und bei ihr läuft's... Letztlich muss man echt einfach auf sich hören und auf das, was man selbst fühlt!"
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