Der Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand ist nichts Neues für Annie Bloch: Aufgewachsen im niedersächsischen Diepholz widmete sie zunächst der Kirchenorgel, weil das in ihrer kleinen Heimatstadt eine der wenigen Möglichkeiten war, eine umfangreiche musikalische Ausbildung zu erhalten. Doch als sie mit zwölf beginnt, eigene Songs zu schreiben, ist es die Leichtigkeit der Popmusik, die ihr den Weg weist. Ihr Studium führt sie später nach Cork in Irland, wo sie mit der prägenden Idee konfrontiert wird, gar nicht in Genres zu denken. Das hat zur Folge, dass sie in ihrer jetzigen Wahlheimat Köln ihr Faible für experimentelle Musik in immer neuen Kontexten als Bandleaderin wie auch als Sidewoman mit Bezugspunkten zu freier Improvisation, Jazz, Ambient, neuer Musik und Klassik auslebt und nun auf der EP "Four Trips To The Shop" ihre popmusikalischen Ambitionen als Singer/Songwriterin auf Indie-Terrain in den Mittelpunkt rückt. Doch hat sich mit dem immer weiter wachsenden Betätigungsfeld eigentlich auch die Rolle verändert, den die Musik in ihrem Leben spielt? "Was mir im Vergleich zu früher mehr auffällt, ist, dass Musik für mich jetzt auch einen wichtigen sozialen Aspekt hat", erwidert sie beim Gaesteliste.de-Interview in einem Kölner Café. "Früher war das für mich eher etwas Persönliches, wie ich ausdrücken kann, was ich auf andere Art nicht ausdrücken kann, wie ich bei mir sein kann. Heute ist es natürlich auch mein Job und das, was mich tagtäglich beschäftigt, aber wenn ich heute Musik höre, höre ich gewissermaßen mit, welche Community das hört. Ich denke, dass ich mich über das Hören auch mit anderen identifiziere."
War die Musik anfangs nicht zuletzt ein Ventil für sie, um ihre Gedanken und Gefühle zu kanalisieren, ist es für sie inzwischen schwerer, ihre Beweggründe für das Musikmachen zu umschreiben. "Das Musikmachen ist inzwischen so eine Routine für mich, dass ich mir diese Frage eigentlich nicht mehr stelle", gesteht sie. "Es ist eher ein: This is what I do!" Vielleicht auch deshalb fällt es ihr fast leichter zu beschreiben, was sie vermeiden will, speziell wenn es um ihre popmusikalischen Ambitionen geht. "Mir ist es wichtig, nichts zu machen, was ich nicht will, und mich zu nichts zu zwingen", erklärt sie. "Wenn ich mal drei Monate lang keinen Song schreibe, setze ich mich deswegen nicht unter Druck. Ich sage mir dann: Es waren jetzt einfach andere Sachen dran, und das [Songwriting] wird schon irgendwann wiederkommen. Ich denke aber auch, dass das eine Beziehung ist, die man pflegen muss. Manchmal vergisst man, dass es sie gibt, wenn man einfach nur so vor sich hin spielt und sich nicht fragt: Was will ich eigentlich sagen? Dann muss ich diese Verbindung wiederherstellen."
Das wirft natürlich die Frage auf, ob es bestimmte Faktoren gibt, die dazu beitragen, dass Annie sich dem Songschreiben zuwendet. Ganz klassisch heißt es ja, dass Lieder in düsteren Momenten oft schneller entstehen und einen größeren emotionalen Tiefgang haben als aus dem Glück heraus entstandene Lieder. "Ich glaube, dass man generell die Tendenz hat - ich verallgemeinere das jetzt einfach mal! -, sich eher in soziale Settings zu begeben, sich zu verabreden, rauszugehen, wenn man glücklich ist, und dass man sich zurückzieht, wenn man traurig ist", überlegt sie. "Das begünstigt natürlich, dass eine Situation überhaupt entsteht, in der ich die Gitarre in die Hand nehme oder mich ans Klavier setze. Ich denke, dass ich vor allem immer dann etwas schreibe, wenn ich irgendwas nicht verstehe und ich - noch nicht einmal bewusst - versuche, das zu verarbeiten, was mich wurmt. Selbst eine Traurigkeit kann ja sehr klar sein, weil man um etwas trauert, und das sind dann auch nicht die Situationen, in denen ich etwas schreibe. Für mich hat das Schreiben eher den Aspekt des Suchens."
Hört man die Songs von "Four Trips To The Shop”, kann man sich einbilden, dass die Vergänglichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen ein wiederkehrendes Motiv in den wunderbar intimen, mit klugen Beobachtungen gespickten Texten ist. Doch ist dieser konzeptionelle Rahmen, eigentlich beabsichtigt gewesen? "Es ist schon, dass das so wirkt, aber die ehrliche Antwort ist: nein", erwidert Annie lachend. "Eigentlich gibt es kein Konzept. Die Songs der EP - außer 'Scarlett Johannsen' spiele ich alle schon lange live, und ich hatte Lust, sie in dieser Besetzung endlich mal festzuhalten, auch, um sie loszulassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Songs nicht gerecht werde, wenn ich sie nie aufnehme, aber eigentlich würde ich aber auch gern mal wieder was Neues schreiben!"
Klanglich dagegen sind auch die Lieder der EP von Annies Begeisterung für das Unperfekte, Rohe, Direkte geprägt. Während Songs wie "Chamomile Tea" und "Coffees" klanglich den Weg fortzusetzen scheinen, den Annie vor fünf Jahren mit ihrem fabelhaften Album "Floors" vorgezeichnet hatte, unterstreichen andere Lieder ihre Wandlungsfähigkeit. Bei "Dates", dem heimlichen Highlight der EP, sind es vielleicht vor allem arrangement- und produktionstechnische Kniffe, die das Lied in einem anderen Licht erscheinen lassen und die einnehmende Atmosphäre und den melancholischen Vibe der Nummer betonen. Beim Titelstück und bei der Schlussnummer "Scarlett Johansson" dagegen ist die Veränderung schon im Songwriting angelegt. "Ich versuche inzwischen nicht mehr, alles in einem Song unterzubringen", erklärt Annie. ""Scarlett Johansson" hat eigentlich nur zwei Akkorde und auch "Four Trips To The Shop" hat immer die gleiche 'Runde' Akkorde. Das ist etwas, das ich vorher eigentlich noch gar nicht gemacht habe. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, dass es Akkordwechsel geben muss, damit etwas passiert, anstatt darauf zu vertrauen, dass die Entwicklung woanders passieren kann."
Obwohl sie dieses Mal auf ein deutlich kleineres Ensemble setzte als bei "Floors" oder bei I DEPEND: Die Idee, dass beim Zusammenspiel auch die individuelle Persönlichkeit ihrer Mitstreiter durchscheinen darf, ja, soll, ist unverändert, zumal sie die Aufnahmen ohne große Vorbereitung und ohne vorgefasste Vorstellungen, wie die Songs am Ende klingen sollen, angegangen ist. Unterstützt wurde sie dabei von Produzent und Drummer Jan Philipp, mit dem sie schon seit Jahren in einer Vielzahl verschiedener Projekte zusammenarbeitet, und von David Helm, der sie schon vor einer ganzen Weile mit seinem Song-Projekt Marek Johnson beeindruckt hatte und nun sowohl Kontra- als auch E-Bass beisteuerte, bevor anschließend noch weitere Farbtupfer, unter anderem von ihrer alten Irland-Bekanntschaft Sam Clague an der Klarinette hinzukamen. Auch wenn ihr das, umgeben von der selbst heute in der Indie-Szene allgegenwärtigen Fixierung auf Hochglanz-Makellosigkeit, nicht immer leichtgefallen ist: Mit Andy Shauf und Big Thief als klangliche Inspiration betont sie auch auf der EP die menschliche Note.
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